Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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73.

Mittwoch, den 26. Oktober 1774.

Ich habe soeben Ihren Brief noch einmal gelesen. Eine Stelle darin hat mich besonders entzückt, die, wo Sie sagen: unsere Qual. Mein lieber Freund, wenn ich hier falsch deute, so lassen Sie mich in meinem Irrtume. Nur krank sollen Sie nicht sein! Ich sterbe vor Angst. Sagen Sie mir, an was soll ich mich klammern, um Frieden zu haben? An den Gedanken, daß Sie heimkehren? Nein, mein Lieber, vor dieser Stunde bangt mir; ich wage sie mir gar nicht herbeizusehnen und doch: säumten Sie, so stürbe ich!

Begreifen Sie diese maßlose Zerrissenheit? Grade das Maßlose entspringt keiner krankhaften Logik, nein, es kommt aus einem durch widersprechendste Wallungen zerwühlten Herzen. Sie verstehen diesen Zustand vielleicht, aber nachfühlen können Sie ihn nicht.

Ich bin unterbrochen worden. Immer ist's Frau von Châtillon. Ich komme auf den Punkt zu glauben, daß man nur dann geliebt werden kann, wenn man selber verliebt ist. Sie haben keine Ahnung, was sie sich alles ausdenkt, um in mein Herz einzudringen. Lieber Freund, wenn Sie mich auch so liebten! Doch nein, das möchte ich nicht. Der Himmel bewahre mich davor, ein solches Glück zweimal zu erfahren!

Freitag, den 28. Oktober 1774

Vor ein paar Tagen habe ich einen schweren Anfall von Verzweiflung gehabt. Man hatte mich genötigt, zu Lekain in den »Tankred« zu gehen. Ich hatte ihn seit langem nicht gesehen und hatte auch gar nichts weiter für ihn übrig, aber ich ging schließlich hin. Die beiden ersten Akte langweilten mich riesig; der dritte war anregender, und mein Interesse steigerte sich gegen das Ende des Stückes immer mehr. Im fünften Aufzuge enthält es Szenen und Worte, die sich mir in der Illusion mit Vorgängen in Bordeaux vermengten. Das sage ich nicht nur so hin; ich war tatsächlich dem Tode nahe. Ich verlor mein Bewußtsein. Die ganze Nacht hindurch mußte man an meinem Bette wachen, weil ich immer neue Ohnmachtsanfälle bekam. Ich habe Ihnen das bis jetzt nicht erzählen können, weil ich noch allzusehr unter der Nachwirkung litt. Ich habe mir gelobt, dergleichen schreckliche Aufregungen fortan zu meiden. Nur den »Orpheus« vermag ich zu ertragen, und mit Bedauern höre ich, daß Sie ihn nicht mehr sehen können. Vom 8. November an wird man eine neue Oper geben. Die Musik ist von Floquet. Dem dummen Publikum wird sie vielleicht gefallen. Es spendet ja seinen Beifall heute dem Guten zu und morgen dem Mittelmäßigen und übermorgen dem Miserablen. Leute wie Dorat haben Erfolge. Ja, vom großen Haufen hängt der Ruhm ab, aber zuletzt doch von dem Urteil der fernen Zukunft. Das Publikum der Gegenwart hat zu keiner Zeit genug Geschmack und Einsicht, um fest entscheiden zu können, was Erbe der Nachwelt werden soll.

Alle Welt ist in Fontainebleau, nur der Baron von Kock und der Freiherr von Gleichen sind uns geblieben. Ich finde, die beiden sind abends nicht von mir fortzukriegen. Ich weiß nicht, ob ich mich täusche, aber es kommt mir vor, als sei die Einsamkeit dienlicher für mich. Die Gesellschaft reizt mich beinahe nie mehr; sie ist mir meistens geradezu lästig. So krank bin ich! Ich kann tun, was ich will, es bekommt mir schlecht. Adieu, mein Lieber!


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