Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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8.

Donnerstag, den 24. Juni 1773.

Dreimal in einer Woche! Das ist zu viel! Viel zu viel, nicht wahr? Schuld daran ist, daß ich Sie lieb genug habe, um zu glauben, daß Sie sich ängstigen. Sie sind gewiß ein wenig ungeduldig, zu erfahren, ob ich noch existiere. Ach freilich, ich bin zum Leben verdammt. Es steht mir nicht mehr frei, zu sterben; ich würde damit jemandem wehe tun, der meinetwillen am Leben hängt.

Ich habe zuletzt am 10. Nachricht von ihm [Mora] bekommen, keine, die mich völlig beruhigte, aber ich hoffe, daß der Anfall keine schlimmen Folgen hat. Ich hoffe vielmehr, er wird seine Rückkehr beschleunigen. Allerdings ist die Hitze für ihn gefährlich; er muß also warten. Guter Gott! Daß die Freude immer zögert, sich immer hinausschiebt, und daß ich so tief unglücklich sein muß! Wenn Sie wüßten, wie nötig mir die Ruhe wäre! Seit einem Jahr bin ich wie auf der Folter. Sie allein haben die Macht gehabt, meinen Schmerz auf ein paar Augenblicke zu stillen, und diese Wohltat eines Augenblicks hat mich auf ewig an Sie gebunden. Doch sagen Sie: hat Ihnen mein letzter Brief nicht höchst mißfallen? Sind Sie mir gar nicht bös? Das Gegenteil würde mich betrüben, aber ich sage wie Frau du Châtelet: Ich kenne keine Reue. Antworten Sie mir mit eben der Offenheit, die ich gegen Sie habe; achten Sie mich hinlänglich, mir nicht die halbe Wahrheit zu geben; sagen Sie mir alles Schlechte, was Sie von mir denken. Ich bitte Sie darum durchaus nicht – um mit Larochefoucauld zu reden – des Vergnügens wegen überhaupt etwas zu hören, sondern vielmehr um festzustellen, ob Sie mein Freund sind, ob Sie es werden können. Ich finde genügend Reize in unserm Verhältnis, um ungeduldig danach zu forschen, was an Irrtum und Täuschung mitgespielt hat, als wir uns zueinander hingezogen fühlten.

Man sagt, daß es nichts stärkeres, nichts festeres gäbe als die Gefühle, für die man keine Erklärung hat. Wäre das wahr, so müßte ich auf Ihre Freundschaft rechnen können. Doch Sie wollen nicht, daß ich diesen Punkt scharf ins Auge fasse. Warum nicht? Würde ich dann weniger zufrieden sein?

Wissen Sie nicht, daß der Erwerber eines neuen Dinges es zunächst von allen Seiten prüft und genau betrachtet! Das ist vielleicht der lebendigste Genuß, den uns der Besitz gewährt. Aber Sie kennen ja solche kleine gefühlsfeine Freuden nicht. Das Erhabene, das Ritterliche, das Große, das ist Ihr Reich. Corneilles Helden fesseln Ihre Aufmerksamkeit. Kaum würdigt Ihr Auge die kleinen Hirten Geßners eines flüchtigen Blicks.

Sie wollen bewundern. Und ich, ich habe nur eine Sehnsucht, ein Begehren: zu lieben! Was nützt das? Wir werden nie die gleiche Sprache sprechen. Es gibt eine Art Instinkt, der über alles hinweghilft. Doch über eine Kluft von tausend Meilen, was kann da hinweghelfen?

Ich war das letztemal so zerstreut, daß ich Ihnen nicht geschrieben habe, daß Diderot in Holland ist. Er fühlt sich so wohl dort; er hat bereits so viele neue Freunde gefunden, daß es sehr leicht möglich ist, er kommt nie wieder nach Paris zurück und vergißt, daß er bereits auf dem Wege nach Rußland war. Er ist kein gewöhnlicher Mensch, aber er steht nicht an seinem richtigen Platze im Leben. Er müßte das Haupt einer Sekte sein, ein griechischer Philosoph, der die Jugend unterrichtet und belehrt. Er gefällt mir recht sehr, doch von seinem ganzen Wesen dringt nichts in meine Seele. Seine Sentimentalität kitzelt die Haut. Tiefer geht diese Empfindung nicht. Ja, Rousseau, der »Konnetabel«, die sind viel feiner auf mich eingestimmt. Ich liebe nun einmal nichts Halbes, nichts Zweifelhaftes, nichts Bagatellmäßiges. So verstehe ich auch die Kinder der Welt nicht; sie tun lustig und gähnen, sie haben Freundschaften und lieben doch niemanden. All das kommt mir kläglich vor. Wahrlich, mir ist das Leid, das mein Leben aufzehrt, süßer als die Lust, die das ihrige erstarren läßt. Doch, nicht wahr, bei einem solchen Benehmen ist man nicht liebenswert? Aber man kommt auch darüber weg. Man ist nicht liebenswürdig, aber man wird geliebt. Das ist tausendmal mehr wert, als bloß zu gefallen.

Wie gern möchte ich wissen, ob Sie nach Rußland gehen. Ich hoffe, nein, und zwar, wie Sie selbst sagen, weil ich es nicht wünsche. Es scheint mir, als kämen von keinem Orte der Erde die Briefe langsamer als von Rußland. Kein Mensch kümmert sich darum, denn wem fiele es ein, einen Russen zu lieben. Aber Sie werden ja sehen, ob es der Mühe wert war, sechshundert Meilen zurückzulegen.

Ihren Brief habe ich zwei-, dreimal gelesen, das erstemal, weil ich ihn schwer fand, dann, weil ich ihn schwer nahm. Ach, wenn Sie wüßten, wie viel Unterlassungssünden ich darin gefunden habe! Doch, warum sollten Sie dergleichen nicht begehen?

D'Alembert erwartet Ihren Brief mit großer Ungeduld. Graf Crillon ist Ihnen zuvorgekommen. Ihr Freund d'Aguesseau kam mir, an dem Tage wenigstens, wo er mir Ihren Brief brachte, sehr sonderbar vor. Er sah aus wie ein Verstörter; seine Bewegungen hatten etwas Krampfhaftes. Er sagte, er sei krank, und ich glaube es. Er hat den Plan, nach Spa zu gehen. Ich weiß nicht warum, aber ich bin froh, daß er nicht mit Ihnen gereist ist.

Leben Sie wohl! Ich habe Sie mit Fragen überhäuft. Sie antworten doch nicht darauf. Ich verlange nicht zu wissen, ob es Ihnen angenehm wäre, Neuigkeiten zu erfahren, weil es außer meiner Macht steht, mich damit abzugeben. Aber ich weiß, was noch nicht öffentlich bekannt ist: daß Graf d'Aranda an Fuentès Statt spanischer Gesandter wird, und daß der letztere einen hohen Posten am Madrider Hofe bekommt. Dies wird Ihnen gleichgültig sein, und höchstens werden Sie sich wundern, daß ich mich so sehr dafür interessiere. Muß man nicht toll sein, um an dem Anteil zu nehmen, was in Madrid vorgeht?

Noch einmal, leben Sie wohl! Meine Art von Tollheit ist Ihres Mitleids wert.

Schreiben Sie mir oft und viel von dem, was Ihnen begegnet. Denken Sie sich, wenn Sie das können, in die Freude hinein, die Sie mir damit bereiten.

Wieviel Briefe brechen Sie wohl hastiger auf als meine?

Dreie, zehne?


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