Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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55.

Angefangen am Donnerstag, den 22. September 1774.

Verdamm' mich mit den allerschlimmsten Worten:
Mir tun sie nichts; Dein Schweigen quält mich mehr!

Mein lieber Freund. Wenn ich Leidenschaft hätte, so würde mich Ihr Schweigen töten, und hätte ich bloß Eigenliebe, so müßte ich gekränkt sein, müßte Sie mit aller Kraft hassen. Ach, ich hasse nicht mehr.

Sie haben mir nichts mehr zu sagen, Sie wissen nicht, was Sie mir vorplaudern sollen? Überzeugt, daß meine Liebe dahin sei, spüren Sie darob so gar kein Bedauern? Nichts, nichts ist in Ihnen, das Sie reizt, das Verlorene wieder zu verlangen! Nun, mein Freund, ich bin hinreichend beruhigt, um gerecht zu sein. Ich billige Ihr Benehmen, so sehr es mich betrübt. Es ist achtenswert an Ihnen, daß Sie der Wahrheit kein Mäntelchen umhängen wollen. Worüber sollten Sie denn eigentlich auch klagen? Es ist gräßlich, der Gegenstand eines Gefühls zu sein, das man nicht zu teilen vermag. Man leidet darunter, und man ist der Anlaß von Unglück. Lieben und geliebt zu werden ist himmlisches Glück. Wer es besessen und verloren hat, dem bleibt nichts übrig als der Tod. Zwei Dinge gibt es auf Erden, die kein Mittelmaß vertragen: die Kunst und die Liebe. Aber ich täusche mich nicht: Meine einstige Liebe zu Ihnen war nicht vollkommen. Zunächst hatte ich mir dabei etwas vorzuwerfen. Ich habe sie mit Gewissensbissen bezahlen müssen. Und vielleicht war es dann die Reue, die meine Seele bis in den Grund verändert, mein Wesen und mein Lieben durch und durch verwandelt hat. Ich weiß es nicht. Verdammenswerte Gefühle aber waren es, die mich unaufhörlich in ihrer Gewalt gehabt haben: Eifersucht, Ruhlosigkeit, Mißtrauen. Ich habe Sie immer und immer wieder angeklagt. Ich nahm mir vor, nicht zu klagen, aber dieser Zwang war mir gräßlich. Kurzum, diese mir bis dahin fremde Art der Liebe ward mir zur Qual.

Lieber Freund, ich habe Sie allzusehr geliebt und doch nicht genug. Darum haben wir im Wandel meiner Gefühle alle beide gewonnen. Schuld sind weder Sie noch ich daran. In einem klaren Moment, im Zeitraume von kaum einer halben Stunde, bin ich an meiner letzten Leidensstation angelangt. Ich bin gestorben und wieder auferstanden. Und was mir selber unbegreiflich ist, diese Wiedergeburt hat mir nur die Erinnerung an den Marquis von Mora gelassen. Jede andere Spur ist aus meinem Hirn getilgt. Eine halbe Stunde zuvor hatten Sie noch all mein Sinnen und Denken beherrscht; nun sind schon vierundzwanzig Stunden vorüber, ohne daß ich Sie ein einziges Mal im Geiste vor mir gesehen hätte. Wenn ich jetzt an Sie denke, habe ich nur eine blasse Erinnerung.

Ich habe meinen Frieden wiedergewonnen, aber ich täusche mich darin durchaus nicht, es ist Grabesfrieden. Mein lieber Freund, meine Stimmung ist so: was ich auch sehe, höre, tue oder tun könnte, nichts vermag meiner Seele das geringste Mitgefühl abzugewinnen. Das ist eine Art zu existieren, die mir ganz fremd ist. Nur etwas gibt es in der Welt, das mir wohltut: die Musik. Aber auch diese Wohltat würden andere als Schmerz empfinden. Ich möchte zehnmal am Tage jene Melodie hören, die mir das Herz zerreißt und mir all das Verlorene wieder vorgaukelt:

Verloren habe ich meine Eurydike ....

Ich gehe immer wieder in den »Orpheus«, immer allein. So am letzten Dienstag. Ich habe meinen Freunden gesagt, ich wolle Besuche machen, und dann habe ich mich in meine Loge eingeschlossen. Sie kennen sie und das schöne Sofa darin.

Leben Sie wohl!


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