Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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123.

Dienstag, den 4. Juli 1775.

Mein lieber Freund, das betrübt mich sehr, aber warum verlangen Sie Unmögliches von mir? Geben Sie mir Gelegenheit, Ihnen förderlich zu sein, wo es angängig ist, so stehe ich Ihnen dafür, daß es sich machen läßt, auch wenn ich mich gar nicht hineinmenge. Sie brauchen nur zu reden.

Wenn Sie wüßten, wie schwer es mir fällt, Ihnen etwas zu verschweigen, was mir Freude bereiten würde, wenn meine Seele noch dafür empfänglich wäre! Aber soviel genieße ich noch, als meinem Verstande schmeichelt, meinem Ehrgefühl Freude macht. Mein Lieber, wenn Sie hier wären, dann wäre ich ehrvergessen, denn ich würde Ihnen ein Geheimnis verraten, das ich wahren soll.

Man mag meine Treue zu Ihnen ahnen, denn gleichzeitig mit dem wichtigen Geheimnis bekam ich zu hören: »Kein Mensch darf es erfahren, auch Graf Guibert nicht!« Ich habe zu dieser Bedingung gelacht und gesagt: »Rechnen Sie denn Herrn von Guibert nicht unter die Menschheit?« – »Ich schon, aber Sie?« gab man mir zur Antwort.

Sehr richtig! Keinem Menschen, nur Ihnen vertraue ich es an, daß ich vor Herzeleid vergehe, weil ich schweigen soll.

Ich habe die »Lobschrift auf Catinat« [von Laharpe] erhalten und will sie gleich lesen. Du mein Gott, die Leidenschaft hat eine wacklige Moral. Da sitze ich nun, dem Autor dankbar für seinen Beweis an Vertrauen, und wünsche, sein Werk sei gut, indessen mit der Einschränkung, daß Ihre Arbeit unbedingt besser sei.

Lieber Freund, ich werde ganz offen urteilen, wenn ich dabei natürlich auch nicht absolut wahr sein kann. Sie wissen ja, ich habe keinen geschulten Geschmack, nur ein wenig sogenannten gesunden Menschenverstand. Nehmen Sie also meine Kritik für das, was sie ist!


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