Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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85.

Sonntags, elf Uhr. [Januar 1775.]

Erst in diesem Augenblicke bin ich allein. Lieber Freund, wie albern sind doch Zerstreuungen! Wie reizlos ist die Gesellschaft für ein tiefes Gemüt! Wie selten ist ein Gespräch wert, daß man sein Heim verläßt! Das Geistreichsein ist mir geradezu widerlich geworden, und, wie Sie mir einmal gesagt haben, was einen nichts als klüger macht, das ist langweilig.

Ach, ich bin recht unglücklich! Was ich liebe, was mich tröstet, das spannt meine Seele durch Unrast und Reue auf die Folter. Ich habe das Bedürfnis, zu leiden, denn ich ertappe mich unaufhörlich bei dem Wunsche nach Dingen, die mir Leid bringen...

Aber, mein lieber Freund, das alles verstehen Sie nur, wenn Sie darüber nachdenken. Ich sollte also von etwas ganz anderem reden. Ich wollte Ihnen auch nur schreiben, um Sie zu bitten, mir den Band Montaigne zurückzuschicken, den Sie vor ein paar Tagen in Ihre Tasche gesteckt haben.

Ich werde Sie vor zwei Uhr abholen. Bestellen Sie ja keinen Wagen. Lieber Freund, es ist nur vornehm, recht und ehrenhaft, sich nach der Decke zu strecken. Ich kenne eine Menge reicher Leute, die zu ihrem Vergnügen zu Fuß laufen, und eine Menge alter und gebrechlicher Menschen, die gewöhnliche Droschken nehmen. Ich rede wie ein Wasserfall! Lieber Freund, das ist der Beweis meiner herzlichsten Fürsorge. Wenn Sie wüßten, wie wenig Wert für mich ein Vergnügen hat, das man für Geld haben kann! Du lieber Gott, meine jetzige Lage beweist ohnehin, daß ich Reichtümer verschmäht habe. Reich sein hat zweifellos seine Vorteile, aber gewisse Dinge in der Welt sind mehr wert!

Gute Nacht, mein Lieber. Was werden Sie in diesem Augenblick machen? Ich wette, daß Sie besser daran sind als ich. Ich sorge mich um meinen Liebsten. Halten Sie sich also vor zwei Uhr bereit!


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