Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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72.

Dienstag abends, den 25. Oktober 1774.

Ich bin im Unrecht gewesen. Jedem Andern gegenüber wäre das ein Unrecht; Ihnen gegenüber aber ist es ein Frevel. Verzeihen Sie mir, mein lieber Freund. Ich hätte Ihnen danken müssen und habe Sie angeklagt! Dieser Gedanke tut mir so weh, als ob ich die Schuldige wäre, und doch war es die Post. Ich argwöhnte das so wenig, daß ich mir die Aufschriften der Briefe, die mir der Briefträger heute brachte, gar nicht angesehen habe. Es war mir so gleichgültig, welchen ich zuerst oder zuletzt in die Hand nahm. Als ich den zweiten aufbreche, – lieber Freund, da mußte ich laut aufschreien: Ihre Handschrift! Ich bekam Herzklopfen. Ebenso bitterlich wie es ist, zu warten und es kommt nichts, ebenso lebhaft und eindrucksvoll ist die Freude, wenn sie einen so überrascht.

Lieber Freund, ich liebe Sie wahnsinnig. Das beweist sich mir immer von neuem, oft merkbarer als ich es möchte. Ich gebe Ihnen mehr als Sie wollen! Sie sehnen sich gar nicht nach so viel Liebe, und ich hätte es sehr nötig, mich auszuruhen. Das wird wohl im Grabe sein. Aber ich werde allzu persönlich; ich rede von mir, wo ich nur von der Freude sprechen sollte, die ich beim Lesen folgender Worte gefühlt habe: »Es geht mir besser, es geht mir gut, ich bin beruhigt.«

Lieber Freund, ich habe aufgeatmet. Es ist mir, als hätte das mir neues Leben und neue Kraft gebracht. Drei Tage lang war ich wie abgestorben. Man sagt, das hänge mit den Nerven zusammen, aber ich bin längst gescheiter als mein Arzt und weiß, daß es mit Ihnen zusammenhängt.

Da bin ich schon wieder bei mir! Wie ärgere ich mich über mich, daß ich immer wieder darauf gerate! Komme ich davon ab, wenn ich Ihnen sage, daß ich Ihre Offenheit und Ihr feines Verständnis anbete? Verheimlichen Sie mir nie etwas! Wenn ich Ihnen recht ins Herz sehe, so ist das nur Ihr Vorteil.

Chamfort ist angekommen. Er hat mich besucht, und wir werden in diesen Tagen seine Lobschrift auf Lafontaine hören. Er kommt frisch und gesund aus dem Bade, reicher an Ruhm und Reichtum als zuvor. Dazu vier Freundinnen, die ihn lieben: die Herzogin von Grammont, die Gräfin von Roncé, die Gräfin d'Amblimont und die Gräfin Choiseul. Diese Zusammenstellung ist so bunt wie Harlekins Jacke, aber das ist gerade das Pikante, Nette und Reizvolle dabei.

Grimm ist wieder da. Ich habe ihn mit meinen Fragen beinahe umgebracht. Er schildert die Zarin nicht als Herrscherin, sondern als liebenswürdige Frau, reich an Geist, Witz und allem, was reizt und verführt. Nach seinen Schilderungen hat man mehr den Eindruck einer bezaubernden griechischen Hetäre als den der glänzenden und hoheitsvollen Kaiserin eines großen Reiches.

Ich habe von ihr noch das Porträt eines anderen großen Menschenkenners zu erwarten: Diderot hat mir sagen lassen, er käme morgen zu mir. Ich freue mich darüber; allerdings ist er bei meiner jetzigen Stimmung derjenige, den ich am allerwenigsten öfters sehen möchte. Er erzwingt sich die Aufmerksamkeit, und gerade das kann und will ich keinem Menschen auf Erden mehr gewähren. Wenn ich sage: keinem Menschen auf Erden, so verstehen Sie wohl, daß ich einen ausgenommen wissen will, den einen, der alle meine Gedanken erfüllt. Diese besondere Erklärung ist plump. Aber Sie sind ja so ein Schäfchen, dem man alles unverblümt vorhalten muß, was es begreifen soll. Ich weiß, Sie werden sich die Lektüre meines Briefes für die Fahrt aufheben. Ich werde also mit Ihnen im Wagen sitzen, und am Ziel der Reise bin ich auch noch da.

Was? Sie glauben ernstlich, daß Sie sich freuen werden, wenn Sie mich wiedersehen? Wie nett sagen Sie das! Es wäre wirklich süß, von Ihnen geliebt zu werden. Aber mein Herz wird sich zu solch himmlischer Höhe nicht mehr versteigen können. Das wäre zu viel. Ein paar glückselige Minuten, ein paar Funken Freude, mehr brauchen Unglückliche nicht. Das genügt ihnen, um wieder frischen Mut zum Leiden zu bekommen.


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