Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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2.

Sonntag, den 23. Mai 1773.

Wäre ich jung, schön und wirklich liebenswürdig, so müßte ich Sie für einen Meister der Galanterie halten. Aber da ich das alles nicht im geringsten bin, sondern so recht das Gegenteil, so schließe ich aus Ihrem Benehmen gegen mich auf eine Herzensgüte und Ritterlichkeit, die Ihnen auf immerdar ein Recht auf meine Seele einräumen. Sie haben sie bis auf den Grund angefüllt mit Dankbarkeit, Verehrung, Teilnahme und allen den Gefühlen, die Innigkeit und Vertrauen in eine Bekanntschaft bringen.

Ich vermag nicht so schön wie Montaigne über die Freundschaft zu sprechen, aber seien Sie versichert, wir werden sie inniger fühlen. Wenn das, was er darüber sagt, aus seinem Herzen gekommen wäre, glauben Sie wohl, daß er dann nach dem Verluste eines solchen Freundes noch hätte weiter leben können? Aber darum handelt es sich nicht. Von Ihnen soll die Rede sein, von Ihrem anmutigen, feinsinnigen Zitat.

Sie kommen mir zu Hilfe. Sie wollen nicht, daß ich gegen mich selber im Unrecht sei. Sie wollen nicht, daß Ihr Andenken einen schmerzlichen Schatten in mein Herz werfe oder gar meine Eigenliebe kränke. Mit einem Wort, Sie wollen, daß ich in Frieden die Freundschaft genieße, die Sie mir anbieten und von der Sie mir ebenso liebe wie artige Beweise geben. Gut, ich nehme sie an, ich mache meinen ganzen Reichtum daraus; sie soll mein Trost sein, und wenn ich mich je Ihres Umganges erfreue, so soll mir diese Freundschaft ein hoher, ersehnter Genuß sein.

Ich hoffe sehr, daß Sie mir das Unrecht verzeihen, das ich nicht begangen habe. Sie wissen wohl, es wäre mir unmöglich, ein Gefühl in Ihnen zu argwöhnen, das wider Herzensgüte und Ritterlichkeit wäre. Dennoch habe ich Sie angeklagt. Das beweist nichts weiter, als daß ich schwach und schuldig war, – mehr noch: daß ich aufgeregt war bis zum Verluste meiner Geistesgegenwart und Unbefangenheit. Sie selbst haben einen zu guten und zu raschen Blick, als daß ich zu fürchten brauche, Sie irre geleitet zu haben. Ich bin fest überzeugt, daß Ihre Seele nicht daran denkt, sich ob der Wallungen in der meinen zu beklagen.

Ich weiß, daß Sie erst Donnerstags um halb sechs Uhr abgereist sind. Zwei Minuten nach Ihrer Abfahrt stand ich vor Ihrer Türe. Ich hatte vormittags nachfragen lassen, um welche Zeit Sie tags vorher abgereist wären, und zu meinem großen Erstaunen erfuhr ich, daß Sie noch in Paris waren, und daß es noch gar nicht sicher sei, ob Sie am Donnerstag reisen würden. Ich wollte nun persönlich in Erfahrung bringen, ob Sie etwa krank wären, und – was Ihnen abscheulich vorkommen wird – ich wünschte das geradezu. Gleichwohl, aus einer Bizarrerie, die ich Ihnen nicht erklären kann, fühlte ich mich ruhiger, als ich vernahm, daß Sie weg seien. Ja, Ihr Weggang hat mir das Gleichgewicht wiedergegeben, aber doch bin ich trübgestimmt. Sie müssen mir das verzeihen und sich damit zufrieden geben. Ich weiß nicht, ob ich mich nach Ihnen sehne, aber mit Ihnen fehlt mir meine Freude. Ich glaube, die regen und empfindsamen Seelen hängen allzu sehr an ihren Gefühlen. Nicht die lange Dauer Ihrer Abwesenheit betrübt mich, denn mein Denken fragt nicht nach dem Ende: es ist schlechterdings die augenblickliche Stimmung, die mir das Herz schwer, verzagt und traurig macht und mir kaum genug Kraft läßt, eine bessere zu wünschen.

Doch sehen Sie nur diesen gräßlichen Egoismus! Drei Seiten voll von mir! Und dabei glaube ich, daß ich mich mit Ihnen beschäftige; wenigstens tut es mir not, zu hören, wie es Ihnen geht, wie es um Sie steht.

Wenn Sie dies lesen, mein Gott, wie fern werden Sie dann schon sein! Körperlich zwar keine hundert Meilen, allein, welchen weiten Weg haben dann Ihre Gedanken nicht bereits zurückgelegt! Wie viel neue Dinge! Wie viele neue Ideen! Wie viel neue Betrachtungen! Mich däucht, es ist nur noch Ihr Schatten, mit dem ich rede. Alles, was ich von Ihnen gekannt habe, ist verschwunden. Kaum werden Sie noch in Ihrem Gedächtnisse die Spuren der Erlebnisse finden, die Sie in den letzten Tagen Ihres Hierseins beseelten und bewegten.

Nun, um so besser! Sie wissen wohl noch, daß wir beide dahin einig geworden sind, Sentimentalität sei Sache der Durchschnittsmenschen. Ihr Charakter gebietet Ihnen Größe; Ihre Fähigkeiten verdammen Sie zum Ruhme. Unterwerfen Sie sich also Ihrem Schicksal, und bekennen Sie offen, daß Sie für alles andere denn für ein sanftes Innenleben geschaffen sind, dessen Elemente Zärtlichkeit und Schwärmerei sind. Für ein Einziges zu leben, gewährt Wonne, aber keinen Ruhm! Wenn man nur in einem Herzen zu herrschen begehrt, so verliert man die Herrschaft in der Welt. Es gibt Charaktere, Namen, die für die Nachwelt geschaffen sind. Der Ihre wird eines Tages Bewunderung erwecken. Wenn ich mich in solche Gedanken vertiefe, so vermindert das ein klein wenig die Teilnahme, die ich für Sie hege. Leben Sie wohl!


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