Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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38.

Dienstag, [den 6. Juli,] abends elf Uhr.

Mein Gott, wie wenig habe ich von Ihnen! Wie kärglich war Ihr heutiger Besuch! Und wie schmerzlich ist es für mich, nicht zu wissen, wo Sie in diesem Augenblicke sind! Ich denke, in Ris, und hoffe, Sie kommen morgen abend zurück. Man erwartet den Grafen von Broglie auf morgen vormittag. Es ist seltsam, daß ich mich mit seiner Rückkehr beschäftige und sie schleuniger herbeiwünsche als selbst seine Freunde.

Wie die Liebe alles verändert und umstürzt! Das »Ich« ist ein Hirngespinst. Ich fühle bestimmt, daß ich nicht »Ich« bin. Ich bin »Sie«, und um das zu sein, brauche ich gar nichts aufzugeben. Ihre Interessen, Ihre Neigungen, Ihr Glück, Ihre Freuden, – das ist das »Ich«, lieber Freund, das mir lieb und wert und vertraut ist. Alles übrige ist mir etwas Fremdes. Allein Sie in der Welt können mich beschäftigen und fesseln. In meinem Kopf und meiner Seele kann hinfüro nichts anderes Raum finden als Sie und ein sehnsüchtiger Schmerz. Aber wenn ich Ihren Zustand dem meinen vergleichend gegenüberstelle, so ist es durchaus nicht das Nicht-geliebt-werden, was mich ängstigt und betrübt. Nein, nein. Es ist der Gedanke: Wie innig bin ich geliebt worden und von was für einem Geliebten! Aber das war ein unerhörtes Glück, auf das ich keinen Anspruch hätte machen dürfen und das ich – wie Sie ja wissen – nie verdient habe.

Wie leidet meine Seele, wie schmerzlich sind diese Erinnerungen! Lieber Freund, was soll aus mir werden, wenn ich Sie nicht mehr sehen soll, nicht mehr erwarten darf? Glauben Sie, ich könnte das überleben? Schon der Gedanke daran tötet mich. In zehn Tagen ....

Aber sagen Sie mir, warum es mir nicht am Mute fehlen würde, zu sterben, und ich nicht die Kraft habe, mir einzugestehen, daß einmal ein Tag kommen wird, eine Stunde, wo Sie mir ein Wort sagen werden, das mich mit Grausen erfüllen wird? Mein lieber Freund, sprechen Sie dieses gräßliche Wort nie aus! Es wäre mein Todesurteil. Wenn ich es höre, dann sterbe ich.

Wie können Sie mich wegen meiner Liebe zu Ihnen loben? Verdienst, Tugend wäre es gewesen, diese Neigung niederzukämpfen, dieser Versuchung zu widerstehen, die mich bereits zu Ihnen hinzog, als ich noch keinen Anlaß hatte, mir selber zu mißtrauen. Was hat man zu fürchten und zu argwöhnen, wenn man im Schutze einer Liebe, des Leidens und des unschätzbaren Glückes steht, von einem idealen Menschen geliebt zu werden! Bester Freund, mein Herz hatte diesen Schutz und Schild, und doch haben Sie die Stürme der Reue und die Glut der Leidenschaft hineinzutragen vermocht! Und nun loben Sie mich ob meiner Liebe zu Ihnen! Ach, sie ist ein Frevel und selbst ihre Leidenschaftlichkeit rechtfertigt sie nicht. Sie müßten vor mir zurückschaudern.

Sie lieben oder sterben! Einen anderen Wahlspruch, ein anderes Naturgesetz erkenne ich nicht an. Und mein Gefühl ist so ehrlich, so instinktiv, so mächtig, daß Sie mir in der Tat nichts schulden. Ach, ich denke nicht daran, Forderungen und Ansprüche zu stellen. Mein lieber Freund, seien Sie glücklich, haben Sie Ihren Genuß an meiner Liebe – und wir sind quitt.

Ich bin eine Närrin. Ich weiß Ihnen nichts zu schreiben als von meinen Gefühlen, und ich wollte doch davon berichten, was ich erlebt habe.

Der Chevalier [de Castellur] hat sich nach Ihnen erkundigt. Er hat mich gefragt, ob ich mit Ihnen zufrieden wäre. Sehen Sie doch, wie gütig! Er möchte, daß mich alle meine Freunde so lieb hätten wie er. Werden Sie das je können? Er ist gestern angekommen und geht heute abend wieder fort.

Wir werden also am Donnerstag nach Auteuil reisen (zu Frau von Boufflers). Der gute Cardon und Guard gehen mit uns. Kommen Sie pünktlichst zum Stelldichein zu mir, halb ein Uhr. Kommen Sie, Liebster, kommen Sie! Bedenken Sie, daß ich morgen um ein gemeinsames Mittagessen und heute abend um Ihren Besuch kommen werde. Seien Sie brav und großmütig! Schenken Sie mir jeden Augenblick, der nicht Ihren Geschäften und Ihrem Vergnügen gewidmet ist. Ich will, ich muß in zweiter Linie stehen. Wenn das noch zu viel verlangt ist, so dulden Sie wenigstens meine Sehnsucht danach.

Heute früh haben Sie eine wunderbare Ahnung gehabt. Es lag mir weniger an meinem Buche, sondern an ein paar Zeilen von Ihnen. Wollte Gott, daß ich für alle Bücher, die je geschrieben worden sind und noch geschrieben werden, jeden Tag eines Briefes von Ihnen sicher wäre. Weiter wollte ich gar nichts lesen. Sie will ich haben, von Ihnen will ich hören ohne Unterlaß. Mein lieber Freund, ich liebe Sie!


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