Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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144.

Freitag, den 6. Oktober 1775, um vier Uhr.

Mein lieber Freund, ich habe Ihren Willen nicht erfüllt. Ich bitte Sie deshalb um Verzeihung, aber es ging über meine Kräfte, Ihnen dorthin zu schreiben, wo Sie waren. Trotzdem bin ich nicht so ungerecht. Ihnen nicht zu gönnen, daß Sie dort – vielleicht sogar mit Lust und Liebe – sind. Ich bin uneins mit mir selber, schwach und unglücklich; das ist alles. Ertragen Sie mich so, wie ich bin, und ich will Sie bis zur Tollheit lieben, so wie Sie sind.

Es war wirklich liebenswürdig von Ihnen, daß Sie mir vor Ihrer Abreise jene paar Worte geschrieben haben! Sie haben meine trübe Seele einen Augenblick durchsonnt. Ach, mein lieber Freund, wie schwer ist mir das Leben! Allein Ihre Gegenwart macht mir meinen Verlust erträglich. Alles andere erinnert mich daran, daß es für mein Unglück keine Heilung und Hilfe gibt. Alle meine Freunde, alle ihre Aufmerksamkeiten lassen mich fühlen, daß mein Herz für immer unzugänglich geworden ist. Mora und meine Liebe zu ihm, das waren mir die Quellen des Lebens. Mit ihm sind sie versiegt. Nur Sie habe ich noch. Die ganze Natur ist tot für mich; mag sie es bleiben! Nur möchte ich auch mich vernichten. Zu was ist diese matte Schmerzensexistenz nütze? Lassen Sie mich ganz sterben! Geben Sie sich keine Mühe, in einer Seele, die in Lust und Leid verlodert ist, noch ein paar Lebensfunken anzufachen. Es ist lieb und liebenswert von Ihnen, daß Sie sich das Feuer in mir zurück wünschen. Aber es ist verloschen. Sie müssen sich in einem jungen, warmen, lebens- und leidenschaftsvollen Herzen wiederfinden. Mein Herz ist das alles nicht mehr; in ihm wohnt nur noch zärtliche Sehnsucht. Sie gilt Ihnen, und in jeder Minute meines Daseins ist es mir eine Wonne, Ihnen Beweise davon zu geben.

Ich bin sehr spät zu Bett gegangen. Geschlafen habe ich gar nicht, und um sechs Uhr habe ich Opium eingenommen, aber ganz wenig. Es drängte mich darnach. Am liebsten hätte ich gleich hundert Gramm davon eingenommen. Es hat mir in der Tat die Heftigkeit und das Quälende meines Schmerzes beschwichtigt. Ich leide, aber ich fühle doch, daß ich Sie liebe.

Ich denke, daß ich Sie am Sonntag vormittag bei mir sehe. Vielleicht erhalte ich morgen ein paar Zeilen von Ihnen. Wenn nicht, dann werde ich auf Sie warten, ohne zu klagen, und Sie darum nicht weniger lieben.

Leben Sie wohl! Ich liebe Sie von ganzem Herzen, aber das ist nicht genug: Sie verdienen mehr. Wenn ich Nachricht von Ihnen bekomme, werde ich Ihnen dankbar sein. Dann sende ich Ihnen diesen Brief, damit Sie ihn bei Ihrer Rückkehr vorfinden.

Leben Sie wohl!

Sonnabend, den 7. Oktober, nach dem Eingange der Post.

Nein, Sie irren sich nicht. Sie kennen meine Seele, und Sie schauen mir in das Herz. Sie wissen, daß es Ihnen gehört; Sie sehen seine Kämpfe, seine Gewissensbisse, sein Leid. Ich lebe. Brauche ich Ihnen also zu sagen, daß ich Sie liebe, daß ich Ihrer harre? Die Reste meiner Kraft verzehren sich in Sehnsucht nach Ihnen, in der Angst, daß Sie fern bleiben könnten, im Glauben, das nicht ertragen zu können.

Mein Lieber, Ihr Brief ist liebenswürdig wie Sie selbst, recht voll Leben und Teilnahme. Ich hatte ihn nötig. Ach wie habe ich in der letzten Nacht gelitten! Ich kann nicht mehr. Aber ich liebe Sie!

Bringen Sie mir den Brief wieder, und verzeihen Sie mir diese Bitte! Ich kann mich der Furcht nicht erwehren.


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