Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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77.

Sonnabend, den 19. November 1774.

Ihr Brief vom Donnerstag früh war hart und ungerecht, der eine Stunde frühere niederdrückend durch die maßlose Offenheit und nachlässige Kühle, mit der Sie mir sagen, Sie hätten mich nie geliebt. Fortan könnten Sie für niemanden mehr leben usw. Wissen Sie: dieses Bekenntnis hat mir Reue und Scham verursacht. Ich wage ohne Schaudern nicht mehr an mich selbst zu denken und an Sie ebensowenig. Ich will nicht über Sie richten und Sie nicht hassen.

Gestern sind Sie so spät zu mir gekommen und so eilig wieder gegangen, daß ich so recht sah, Sie wollten eben nur meinem Briefchen willfahrten. Das ist ja so natürlich; ich erwähne es nur, um Ihnen zu sagen, daß ich sehr wohl weiß, Sie sind einverstanden damit, wenn wir uns heute vormittag nicht sehen. Ich erwarte den Erzbischof von Aix. Er hat mit mir zu reden. Meine Türe wird verschlossen sein. Am Nachmittag habe ich Besuche zu machen, und ich komme erst um acht Uhr wieder heim. Morgen bin ich zum Mittagessen beim Grafen Crillon, und hinterher mache ich Besuche bis acht Uhr.

Ich erwähne diese Zeiteinteilung hier, nicht weil ich glaube, die Ihrige zu beeinflussen, sondern lediglich um Sie der Mühe zu entheben, sich zu überlegen, sollen Sie mich besuchen oder meiden. Die Person, die über Sie und Ihre Zeit verfügt, wird Sie wohl Ihrem Widerwillen gegen Welt und Gesellschaft nicht überlassen. Sie werden Zerstreuung, Frieden, Genuß, Glück finden mit ihr und bei ihr. Den tödlichen Ekel, der mit dem unseligen Geschick verknüpft ist, jemanden zu betrügen, den man über alles liebt, den lernen Sie nicht kennen....

Wir haben gestern abend eine »Lobschrift der Vernunft« [von Voltaire] gelesen, die man vortrefflich fand. Ich hätte gewünscht, Sie wären Zuhörer gewesen. Das Vorlesen dauerte bis etwa zehn Uhr.


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