Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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201.

Montags, zehn Uhr abends. [April 1776.]

Mein lieber Freund, Sie haben mich sehr schwach, sehr unglücklich gesehen. Gewöhnlich bannt Ihre Gegenwart meine Leiden und gebietet meinen Tränen. Heute haben sie mich überwältigt. Ich weiß nicht, ist es das Leid meiner Seele oder das meines Körpers, das mir mehr Schmerzen bereitet? Das Übel ist so tief, daß ich soeben tröstende Freunde abgewiesen habe. Ich will lieber allein bleiben, Ihnen diese Worte schreiben und mich dann niederlegen.

Ich erinnere mich, daß Sie mir gesagt haben, Sie blieben die Dienstage und Donnerstage am liebsten zu Haus. Ich gebe Ihnen Ihr Wort zurück. Mein Lieber, niemals habe ich weniger gewünscht, daß Sie mir Opfer brächten! Ach, Sie sehen ja, ob ich fähig bin, an irgend etwas Genuß zu haben! Ich rufe Ihnen nur laut zu: Reißen Sie mir meine Wunde nicht auf! Damit sind alle meine Wünsche zu Ende.

Mein lieber Freund, wenn Sie morgen zu mir kommen, bringen Sie mir den Rest Ihres Reisetagebuches mit, meine Briefe und mein blaues Heft. Wenn Sie es gerade bei der Hand haben, geben Sie es meinem Groom.

Mein Lieber, haben Sie mein Briefchen dem Hauswirt gegeben? Ach Gott, es tut mir so leid, daß ich Ihnen mit dieser neuen Wohnung so viel Mühe mache.

Auf Wiedersehn!

Ich habe wirklich nicht die Kraft, meine Feder zu halten. Ich kann nichts mehr als leiden. Ich bin an der Station meines Lebens angelangt, wo es fast ebenso schmerzlich ist zu leben als zu sterben. Ich habe Angst vor noch mehr Schmerz. Meine Seelenpein hat mich aller Kraft beraubt. Mein lieber Freund, stützen Sie mich, aber leiden Sie nicht auch, denn das wäre mir der Übel fühlbarstes.

Ich wiederhole Ihnen friedlich und schlicht, entziehen Sie den morgigen Abend nicht den Ihren!

Morgen ist Dienstag....


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