Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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64.

Sonntags abends, den 9. Oktober 1774.

Mein lieber Freund, ich habe Ihren Brief zweimal durchgelesen. Der Gesamteindruck, den er auf mich gemacht hat, geht darauf hinaus, daß Sie sehr liebenswürdig sind. Viel eher kann man Sie gar nicht lieben als bloß ein bißchen! Erklären Sie sich das selber, aber nicht mit Ihrem Verstande, denn an den wende ich mich nicht.

Mein lieber Freund, eigentlich müßte ich auf eine Stelle Ihres Briefes, die mir weh getan, näher eingehen.

Ach, eine Seele, Leids gewöhnt, regt alles auf!

Könnte ich wenigstens wie Bayard sagen:

Hat mich der Freund betrübt, so stillt er auch die Tränen.

Sie sprechen zu mir von meinen Mute, meinen Geldmitteln, von der Verwendung meiner Zeit, von meinen Herzensangelegenheiten in einer Art und Weise, daß ich vor Scham und Reue vergehe, Ihnen meine ganze Schwachheit geoffenbart zu haben. Sei es! Mein Herz ist eben schwach, und keine seiner Regungen soll Ihnen fortan verheimlicht bleiben! Wenn es in Haß erglühte, dann habe ich Ihnen das deutlich gezeigt. Soll ich mir aber nur erlauben zu hassen?

Mein Lieber, wenn ich Ihre Aufzählung der Dinge nochmals durchgebe, die die Welt mir bietet und die mich zum Weiterleben verlocken sollen, so muß ich schließlich lachen, weil mich das an einen hübschen Ausspruch des Präsidenten Hénault erinnert. An einem gewissen Punkte seines Lebens glaubte er, zur Erhöhung seines Ansehens fromm werden zu müssen. Er hielt also eine Generalbeichte ab, und hinterher gestand er seinem Freund d'Argenson: »Beim Umzug sieht man erst, wie reich man ist!«

Mein Lieber, Sie haben mich das Entgegengesetzte erkennen lassen. Ich war entsetzt. Ich hätte rufen können:

»Mein Gott, vom ganzen Weltall bleib' nur ich allein!«

Ich zitiere Verse von Ihnen. Sie sind mir geläufiger als Racine, und es kommt mir vor, als kämen meine Gefühle stärker zum Ausdruck, wenn ich sie in Worte von Ihnen kleide. Aber ich habe noch tausend Nichtigkeiten zu sagen und muß somit meine Gedanken von dieser ebenso wichtigen wie traurigen Sache abwenden.

Eben war Graf Crillon bei mir. Er hat Ihnen geschrieben, sodaß ich Ihnen von ihm nichts Neues zu berichten habe. Sie wissen, wie liebenswürdig er ist. Morgen werde ich mit ihm bei Frau d'Anville zu Mittag essen. Ich liebe dieses Haus, denn es ist eins von denen, wo ich Sie manchmal treffen kann. Mögen Sie der Welt und Ihren Liebhabereien am Abende gehören, aber Mittags essen Sie oft mit mir zusammen, nicht? Sie werden in einer Ihnen gleichgestimmten Gesellschaft verweilen. Die Narren und Gecken setzen sich ja meist erst in der fünften oder sechsten Stunde in Bewegung. Dann bin ich wieder zu Haus an meinem Kamin und finde dort immer jemanden, den ich nicht wegjage, wenn es auch nicht gerade der Ersehnte ist.

Habe ich Ihnen schon mitgeteilt, daß man mir angelegentlichst empfohlen hat, Lord Shelburne zum Wiederhersteller meiner Gesundheit zu nehmen? Ein geistvoller Mann, der Führer der Opposition, ein Freund Sternes. Er ist ein Verehrer seiner Werke. Schon das müßte den größten Reiz für mich haben. Gestehen Sie: hätten Sie dieses große Glück schon gewußt, so hätten Sie nicht unterlassen, es in Ihrem pompösen Inventarium mit aufzuzählen.

Einen Plan, einen Wunsch von mir werden Sie nicht ahnen: ich möchte einen meiner Freunde verheiraten. Ich habe einen Einfall, den ich gern erfüllt sehen möchte. Der Erzbischof von Toulouse könnte zur Ausführung dieses Planes viel beitragen. Es handelt sich um ein junges Mädchen von sechzehn Jahren das nur die Mutter hat, keinen Vater mehr. Ein Bruder ist auch da. Es bekommt als Mitgift 13000 Franken Jahresrente. Die Mutter hat das Mädchen bei sich und will es noch nicht so bald hergeben. Es hat mindestens 600000 Franken Vermögen, wenn nicht noch mehr. Wäre das nicht etwas, mein Lieber? Sagen Sie ja, und wir machen die Sache. Einen Korb bekommen wir auf keinen Fall, denn der Erzbischof ist ebenso geschickt wie ehrlich. Wir müssen einmal darüber reden. Wenn diese Geschichte nicht geht, so kenne ich jemanden anders, der sich glücklich schätzen würde, Sie zum Schwiegersohn zu bekommen, aber seine Tochter ist erst elf Jahre alt. Sie ist das einzige Kind und wird einmal sehr reich.

Lieber Freund, ich möchte vor allen Dingen Ihr Glück. Wie Sie dazu gelangen könnten, das ist die Hauptsorge meines Lebens. Ehedem war mein Herz nicht so großmütig, aber es eifert einem nach, der um mein Wohl ein Weltreich abgelehnt hätte ....

Gute Nacht, mein lieber Freund. Wenn ich morgen, was ich hoffe, Nachrichten von Ihnen erhalte, mache ich diesen langen Brief noch länger. Seit zwei Tagen geht es mir besser. Ich esse jetzt täglich zwei Hühnerflügel, aber wenn mir diese Diät nicht besser bekommt als die vorherige, so kehre ich zur Milch als einzigem Nährmittel zurück.

Noch immer Sonntags, den 9. Oktober 1774.

Mein Lebewohl war zu kurz, zu grob. Sie werden es begreifen, daß ich Ihnen noch Tausenderlei zu sagen habe, denn wenn ich mich nicht täusche, schreibe ich Ihnen heute zum letzten Male. Morgen weiß ich, woran ich bin. Morgen bekomme ich einen Brief von Ihnen, nicht weil ich mich auf meine Sehnsucht verlasse, sondern auf Ihr gutes Herz. Sie haben mir berichtet, daß Sie zu Ihrem Regiment gehen. Den Garnisonort haben Sie mir zweimal geschrieben, aber dank Ihrer schönen Handschrift weiß ich ihn doch nicht. Ich lese Livorno; aber totsicher heißt der Ort anders, wohin Sie gehen.

Mein lieber Freund, schreiben Sie mir von überallher. Sie müssen mich Ärmste dafür schadlos halten, daß ich Ihnen nicht schreiben kann. Ich bin im Zweifel, ob Sie heute abgereist sind. Wie sollten Sie sich Ihrer Frau Mutter entziehen können, zumal da sie noch nicht gänzlich wiederhergestellt ist? So lange jemand fiebert, ist er noch ordentlich krank. Hoffentlich bleiben Sie im Recht, und ich sehe Sie in vierzehn Tagen wieder. Vierzehn Tage, das ist sehr lange hin!

Man hat mich gestört. Ich bin abgeholt worden, mit zu Duplessis zu gehen. Das ist ein Porträtmaler, ein zweiter van Dyck. Vielleicht haben Sie sein Bildnis des Abbé Arnaud gesehen. Unbedingt kennen muß man sein Gluck-Porträt. Es ist so realistisch und technisch vollendet, daß es die Natur übertrifft. Zehn Köpfe von ganz verschiedenem Charakter waren da; Schöneres und Wahrhaftigeres in dieser Richtung habe ich noch nicht gesehen.

Graf d'Argental kam auch hin. Er las uns einen Brief vor, den er eben von Voltaire empfangen hatte. Ich fand ihn so wunderhübsch, im Ton so mild und natürlich, – man fühlte sich beim Lesen geradezu in seiner persönlichen Nähe, – daß ich mir den Brief ausbat, ohne daran zu denken, ob das indiskret war oder nicht. Ich wollte ihn für mich abschreiben lassen. Eben wird das gemacht, und so wird mein Freund den Brief zu lesen bekommen. Der Gedanke an Sie ist das Leitmotiv bei allem, was ich fühle. Mein lieber Freund, wie Sterne zu Elisa sage ich Ihnen immer wieder: »Dein Genuß ist meines Herzens erster Wunsch!«

Bei Gott, es ist wirklich schwer, einen Brief anzufangen, wenn einem der Verstand die Stimmung machen soll. Aber ich muß Frau von Boufflers schreiben. Ihren Namen erwähnt sie nie. Ich bin nicht betrübt darüber, obwohl es mir unbegreiflich ist, nicht jede Gelegenheit wahrzunehmen, von dem zu plaudern, was man liebt. Aber bei einem gewissen Grade der Liebe ist man befangen. Das ist's, was mich hindert, mit ihr über Sie zu plaudern. Sie selber hat eine solche Befangenheit nie gefühlt. Des bin ich sicher. Es genügt ihr, wenn sie Liebe erregt. Und sie ist so liebenswürdig.

Mein Lieber, ich kenne mich viel zu gut, als daß ich nicht in die Versuchung käme zu glauben, daß Sie sich über mich lustig machen, wenn Sie von meinen Erfolgen in der Gesellschaft reden. Du lieber Gott, seit acht Jahren habe ich mich aus der Welt zurückgezogen. Von dem Augenblick an, wo ich liebte, hätte mich jeder Erfolg angewidert. Man hat kein Bedürfnis, zu gefallen, wenn man geliebt wird! Jede Regung, jeder Wunsch schlingt sich um den Geliebten. Man möchte nur für ihn leben. Lieber Freund, so viel wollen Sie gar nicht! Ist es nicht so?


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