Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

142.

Sonnabend, den 23. September 1775, vier Uhr morgens.

Wahrlich, man überlebt doch alles! Im tiefsten Grunde eines Unglücks findet man immer das Heilmittel. Mein Gott, ist denn wirklich der Augenblick gekommen, wo ich Ihnen sagen muß: Ich kann leben, ohne Sie zu lieben! – wobei ich ebenso wahr bin wie einst vor drei Monaten, als ich Ihnen gestand: Sie lieben oder sterben!

Meine Leidenschaft hat alle Stufen, alle Krisen einer schweren Krankheit durchgemacht. Erst war das Fieber chronisch, zuweilen erhöht und bis zu Delirien gesteigert, dann ließ es nach; noch ein paar heftige und plötzliche Rückfälle kamen, und schließlich sank es mehr und mehr. Die Gefahr war vorüber. Die Anfälle wurden immer seltener und schwächer. Dazwischen gab es bereits Momente von Fieberlosigkeit, die dem Zustande der Gesundheit glichen oder zum mindesten Genesung verhießen. Nach einer gewissen Zeit war das Fieber gänzlich gewichen, und seit ein paar Tagen scheint es mir, als spürte ich nur noch jene nervöse Schwäche, die Nachwirkung aller schweren und langwierigen Krankheiten.

Es ist mir, als hätte ich die Vorempfindung einer völligen Genesung, freilich nicht der Art, wie sie Saint-Lambert mit den Worten schildert:

Die Genesung, welche Wonne!

Diesen genußreichen Zustand wird meine Seele nicht mehr erleben, aber sie wird erleichtert sein. Ein gräßlicher Schmerz läßt nach. Das ist genug. Befreit von dieser grausamen Qual, bleibt mir zwar immer noch eine andere, ältere, schmerzlichere, tiefere, peinvollere Wunde – und die wird sich niemals schließen! – aber sie wird nicht mehr gereizt und vergiftet werden durch endlosen Kummer und ewige Selbstvorwürfe. Ja vielleicht wird sie eine Linderung erfahren, und das ist die einzige Zuflucht für unheilbare Leiden.

Dies ist die Geschichte und der genaueste Bericht von meinem Seelenzustande. Kein Wort ist darin, keine Einzelheit, die nicht hergehörte. Ich habe Sie geliebt grenzenlos. Ich habe jeden Grad, alle Schattierungen des Unglücks und der Leidenschaft durchgemacht. Ich habe sterben wollen, ich glaubte dem Tode bereits die Hand zu reichen, ich bin durch Zauberbann zurückgehalten und an eine Leidenschaft gekettet worden, ach, an eine unselige Leidenschaft!

Dann begann ich nachzugrübeln. Lange war ich unschlüssig, immer noch litt ich. Mit einem Worte, ich weiß nicht, waren Sie es, war es Ihr Verhalten, war es die Notwendigkeit oder vielleicht das Übermaß meines Unglückes: am Ende rang ich mich zu lichteren Stimmungen durch. Ich hielt Umschau, ich sah Freunde um mich, die mir bei all meinem Unglück und bei aller meiner Tollheit noch treu waren. Ich fand mich inmitten von Fürsorge, Güte, sichtlicher Teilnahme.

Angesichts von so viel Hilfe und Zuspruch geriet ich in einen wieder auflebenden Zustand, in so zarte selige Gefühle, daß schließlich Frieden und Trost in meine Seele eindringen mußten. Kann ich mehr und besseres je beanspruchen? Bin ich nach einem schrecklichen Sturm, mit dem ich drei Jahre lang zu kämpfen hatte, nicht in den Hafen eingelaufen? Sehe ich nicht schon den Himmel offen?

Glauben Sie aber ja nicht, ich überschätzte den Stand meiner Genesung. Nein, ich sehe mich so, wie ich bin, ich fühle mich ein wenig ruhiger, ich halte mich für ein wenig empfänglicher für Tröstungen. Aber ich mißtraue mir, meiner Veranlagung, meinen Schwächen, und infolgedessen wünsche ich aus tiefstem Herzen, daß Sie sich Ihren Launen, Ihren Vergnügungen, Ihren Neigungen, Ihren Liebeleien unumschränkt überließen, gleichgültig nach welcher Richtung, wenn Sie nur genügend in Anspruch genommen oder berauscht werden, so daß es für Sie nie wieder ein Zurück zu mir geben kann, das mir am Ende gar Herz und Hirn von neuem verführte! Nun wissen Sie, was ich von Ihnen erwarte. Das und nichts anderes will ich als Dank für so viel Tränen, so viel Leid, so viel Leidenschaft!

Zweifellos wäre mir damals das Sterben leichter gefallen, als jetzt diese Trennung von Ihnen. Ein rascher Tod war für meine Natur und Liebe das geeignetste, aber Sie haben meine Seele gequält, bis ihr die Kraft dazu gebrochen ward und ihre Energie verloren ging. Jetzt kann ich das Leben nicht mehr lassen. Ich hätte in jenem Augenblicke sterben müssen, wo ich den verlor, der mich geliebt hat und den ich über alles in der Welt geliebt habe! Das ist der einzige Vorwurf, den ich mir erlauben werde, Ihnen zu machen: Warum haben Sie mich damals zurückgehalten? Geschah es, um mich einem langsameren, viel qualvolleren Tode zu weihen als dem, dem ich damals entging? Ach, könnte ich mein Gedächtnis vernichten oder die letzten, eben verflossenen Jahre meines Lebens auslöschen! Die diesen vorangegangenen Zeiten sollen die Lust und das Leid meines Herzens auf immerdar bleiben. Sind sechs Jahre voll Freude, voll himmlischer Glückseligkeit nicht genug, um das ganze Erdendasein als ein großes Gnadengeschenk zu betrachten, für das man selbst im tiefsten Elend den Göttern noch danken muß?

Wenn ich meinen Seelenfrieden wiederfände, so gestalten sich die paar Tage, die mir zu leben übrig bleiben, vielleicht doch erträglich. Ich will versuchen, meinen Trost in Dingen zu finden, die einem Andern Freude und Glück bringen. Ich will aus Dankbarkeit den [d'Alembert] lieben, der für seine mir bezeigte warme und rege Freundschaft wahrlich größerer Liebe wert wäre. Ich muß mir den Vorwurf machen, seit drei Monaten die Äußerungen einer innigen Neigung mit unhöflicher Härte von mir gewiesen zu haben, trotzdem ich deutliche Beweise von ihr habe. Und Sie wissen, daß ich mich darin nicht leicht täuschen lasse!

Zweifellos setzt Sie dies in Erstaunen. Sie werden meinen, ich erzählte Ihnen einen Traum. Und doch ist jedes Wort wahr. Ja, ja, das Wahre sieht manchmal unwahrscheinlich aus! Mir kommt es selber ganz wundersam vor. Ich bin betroffen, daß es jemanden in der Welt geben kann, der von dem unglücklichsten, so gar nicht verführerischen Geschöpfe auf Erden Freude und Glück für sich zu erhoffen imstande ist. Sollte maßloses Leid doch gewisse Seelen anziehen?

Glauben Sie, man könne eitel sein, auf einen feinfühligen und ehrbaren Mann Eindruck zu machen? Ach nein, eitel bin ich darob nicht; ich bin viel zu unglücklich, viel zu tief unglücklich, um den Freuden und Torheiten der Eitelkeit zugänglich zu sein. Ich habe Ihnen von alledem noch gar nichts mitgeteilt; ich fürchtete, daß, wenn ich davon spräche, es allzu vag klingen würde. Ich wollte selber nicht daran denken.

In den ersten Tagen meiner Verzweiflung, damals, als Sie meinem Leben das Todesurteil verkündet hatten, da wies ich voller Abscheu alles von mir, was mich von Ihnen hätte abziehen können. Ich wollte lieber sterben als davon lassen. Ich hoffte über Ihre mir feindselige Entscheidung zur Ruhe zu gelangen. Ich glaubte, Sie sehen, werde mir gut tun. Sie sollten mir sagen, was mir Not tue, und mir den mir zugefügten Schlag überwinden helfen.

Es ist ganz anders gekommen. Ohne daß ich mich dazu verstieg, mich zu beklagen oder Ihnen einen Vorwurf zu machen, ward ich gefestigt, und zwar dermaßen, daß Ihre Heirat eigentlich unser Verhältnis auf immerdar brechen mußte, daß ich nur noch Abscheu und Furcht davor empfinden konnte, daß ich Ihnen geradezu hassenswert hätte erscheinen müssen. Im ersten Augenblick, als Sie mir den Dolch ins Herz gestoßen hatten, da glaubte ich, nicht mehr leben zu können, ohne Sie zu hassen. Aber diese entsetzliche Regung konnte in einem Herzen voller Leidenschaft und Zärtlichkeit nicht lange herrschen. Es folgten ihr alle Ängste, alle Stürme des Schmerzes, und am Ende befand ich mich in einem Zustande, den ich für Ruhe hielt und der vielleicht nichts weiter war als Erschöpfung und Mattigkeit.

Bis hierher hatte ich die Bestätigung zu jenem Ausspruch Larochefoucaulds geliefert, der da lautet: Der Verstand dient den meisten Frauen eher dazu, ihre tollen Ideen noch mehr zu stützen, als sie zur Vernunft zu bringen. Wie wahr ist das! Ich sterbe vor Beschämung, wenn ich daran zurückdenke, welche Anmaßungen ich einst hegte. Ach, ich bin so maßlos überspannt, ja geradezu verrückt gewesen, daß ich an die Möglichkeit geglaubt habe, Ihnen alles zu sein. In meiner Tollheit habe ich genug plausible Gründe gefunden, um meine Leidenschaft zu nähren. Erkennen Sie, bitte, zu welch ungeheuerlicher Illusion ich verführt worden bin! Und dabei schwöre ich Ihnen, daß die Eigenliebe bei diesem Wahn nicht mit im Spiele war. Im Gegenteil, sie war es, die mir geholfen hat, zur Wirklichkeit und zur Vernunft zurückzukehren. Sie ist es, die mich jetzt grausamer verurteilt, als Sie es je getan haben. Es hat alles so kommen müssen! Glauben Sie indessen nicht, daß ich Sie in Ihrem Verhalten mir gegenüber für einen gerechten, guten und ritterlichen Mann halte. Nein. Heute spricht allein noch mein Verstand. Mag ich noch so schwach, noch so schuldbeladen, noch so wahnwitzig gewesen sein, alles das rechtfertigt das Weh und Leid nicht, das Sie mir angetan haben. Aber ich verzeihe Ihnen von ganzem Herzen. Vielleicht tröstet man sich niemals über tiefe Schmach, aber ich hoffe, die Zeit wird ihre Spur verwischen. Möge Ihre Heirat Sie ebenso glücklich machen, wie sie mich unglücklich gemacht hat. Seien Sie überzeugt: so aufrichtig dieser Wunsch auch ist, weiter können Edelmut und Gutmütigkeit nicht gehen.

Ich habe auf einen Brief, den ich Ihnen vor acht Tagen geschrieben habe, keine Antwort bekommen. Ich beschwere mich nicht darüber; ich teile es Ihnen nur mit, weil es mir nicht lieb wäre, wenn er verlorengegangen wäre. Ich bitte Sie, ehe Sie auf das Land gehen, mir die drei Ihnen nach Metz gesandten Briefe zurückzuschicken. Falls Sie auch den nach Bordeaux gerichteten empfangen haben, fügen Sie ihn gütigst hinzu!

Wenn wir jemals über das sprechen sollten, was wir am besten vergäßen, so will ich Ihnen meine letzte Tollheit, die ich am Donnerstag begangen habe, indem ich Ihnen schrieb, erklären. Ich werde Ihnen erzählen, was mich auf diesen Gipfel von Zärtlichkeit und Schwäche verlockt hat. Wahrlich, man macht mich verrückt. Ich weiß nicht mehr, was mich trostloser macht: das Böse, was Sie mir zufügen, oder das Gute, das andere an mir tun wollen. Es ist mein Tod. Ich möchte in die Abgeschiedenheit fliehen, um mich auszuruhen.

Wie bedaure ich Sie ob der unerträglichen Länge dieses Briefes! Aber ich bin so krank, so niedergeschlagen, daß ich keine Kraft habe, kurz und bündig zu sein und Überflüssiges wegzulassen. Ich weiß es wohl. Die ewigen Schmerzen ermatten die Seele und stumpfen die Sinne ab. Aber wenn ich mir einmal erlaube, so redselig zu sein, so ist es deshalb, um nie wieder darauf zurückzukommen. Es gibt Dinge, auf die man nicht zurückkommen kann.

Wenn Sie in Paris weilten, so würde ich mich wohl hüten, Ihnen diesen Riesenbrief zu senden. Sie würden ihn nicht lesen. Ich habe Beweise, daß Sie Briefe von mir nicht gelesen haben. Ganz natürlich. Weil ich sie Ihnen an einen Ort geschickt habe, wo Sie auf viel verlockendere Dinge zu sehen und zu hören hatten als auf mich und meine Briefe. Ich verpflichte mich, nie wieder so ungelegen zu kommen.

Leben Sie wohl, mein lieber Freund! Ich nenne Sie zum letzten Male so. Vergessen Sie, daß mein Herz Sie so genannt hat. Vergessen Sie mich! Vergessen Sie, was ich gelitten habe! Lassen Sie mich bei dem Glauben, es sei ein Glück, geliebt worden zu sein, bei dem Glauben, Dankbarkeit sei genug Inhalt für mein Herz! Kurzum, lassen Sie mich! Ich bin nicht mehr die Ihre. Leben Sie wohl!


 << zurück weiter >>