Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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203.

Sonnabends, vier Uhr. [18. Mai 1776.]

Mein lieber Freund, Sie sind zu gut, zu liebreich. Sie möchten ein Herz, daß endlich unter der harten Last seines Leids zusammenbricht, wieder aufleben lassen. Ich fühle den ganzen Wert Ihres Wollens, aber ich verdiene es nicht mehr.

Es hat eine Zeit gegeben, wo mir von Ihnen geliebt zu werden keinen andern Wunsch übriggelassen hätte. Ja, in dieser Liebe wäre vielleicht meine Reue erloschen. Mindestens hätte sich ihre Bitternis in Wonne gewandelt. Da hätte ich leben mögen. Jetzt will ich nur noch sterben. Ich habe keinen Ersatz, keinen süßen Trost für das gefunden, was ich verloren hatte. Ich hätte Mora nicht überleben sollen.

Mein Lieber, das ist das einzige herbe Gefühl, das ich in meiner Seele gegen Sie finde. Es war ein unseliges Geschick, das Sie einst zu mir geführt! Es hat mich Tränen und Schmerzen gekostet, und schließlich bin ich daran zugrunde gegangen. Ich möchte Ihr ferneres Schicksal gern kennen. Ich möchte, daß Sie, Ihrer Veranlagung gemäß, glücklich würden. Ihr Charakter und Ihre Gefühlsart werden Sie niemals tiefunglücklich werden lassen.

Ihren Brief habe ich um ein Uhr erhalten. Ich lag gerade in glühendem Fieber. Wieviel Mühe und Zeit ich dazu brauchte, um ihn zu lesen, das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber ich wollte ihn nicht liegen lassen. Dies mühselige Lesen hat mich fast ins Delirium gebracht.

Ich erhoffe Nachrichten von Ihnen heute abend.

Leben Sie wohl, mein lieber Freund! Sollte mir das Leben noch einmal geschenkt werden, so möchte ich es von neuem dem weihen: Sie zu lieben. Aber es ist vorbei.


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