Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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149.

Donnerstag, den 19. Oktober 1775, abends.

Mein lieber Freund, Ihre Vorwürfe würden mich schwer treffen, wenn ich ihnen aus eigenem Entschluß nicht zuvorgekommen wäre. Ich habe mich gestern angeklagt und Ihnen gesagt, es sei feig und grausam, jemanden an einem Unglück mitleiden zu lassen, für das es doch keine Hilfe gibt. Man muß damit leben oder daran sterben! Und eher will ich sterben als Sie kränken.

Warum sind Sie mein Freund geworden? Sie mußten schon damals wissen, daß Sie mich nicht genug liebten, um eine große Aufgabe darin zu finden, meinem Leben Trost und Frieden zu bringen. Hier liegt die Quelle und der Ursprung all meines Leids! Als ich schuldig ward, da hat meine Seele ihre Kraft verloren. Seit ich mich in Sie verliebt habe, vermag ich nichts Großes und Edles mehr zu vollbringen. Ich bin in einem ewigen Kampfe mit mir selber. Meine Seele empört sich gegen Ihre Tat, aber mein Herz ist voller Zärtlichkeit zu Ihnen. Wohl sind Sie wert, geliebt zu werden, aber Sie haben mich zu tödlich beleidigt, als daß ich mich nicht tief gedemütigt fühlen müßte. Mein Lieber, wie oft habe ich es Ihnen schon gesagt: Dieser Zustand ist mir unerträglich. Es muß eine Katastrophe kommen, mag sie nun durch die Natur oder durch die Leidenschaft herbeigeführt werden. Ich weiß es nicht. Wir wollen warten und schweigen.


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