Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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5.

Den 6. Juni 1773.

Du mein Gott, wie selten macht einem etwas Freude und wie langsam kommt derlei. Es ist mir, als sei seit dem 24. eine Ewigkeit vergangen, und ich weiß nicht, wie lange ich noch auf einen Brief aus Dresden warten soll. Versichern Sie mir wenigstens: haben Sie den festen Willen, mir so oft zu schreiben als Sie nur können? Waren meiner Freude wirklich nur Umstände feindlich, die nicht von Ihnen abhängen, das heißt die weite Ferne und die Langsamkeit der Boten?

Ich habe eine wahre Abscheu vor Rußland. Seit Sie die Lust bekommen, dahin zu reisen, hasse ich die Russen. Mein Gott, was wollen Sie denn da sehen? Lauter Dinge, vor denen man sein Lebelang ausreißen und die man nie kennen lernen sollte. Sie werden da sehen, was Ihr Herz verabscheut: Sklaverei und Tyrannentum, Gemeinheit und Frechheit. Wohl weiß ich, daß Sie in vieler Hinsicht sagen können: Ganz wie bei uns! Indessen sind unsere Laster abgeschwächt durch unsere allgemeine Degeneration, wohingegen es in jenem Lande nur schrankenloses Unglück gibt, geschaffen durch schrankenlose Verderbnis und Unterdrückung. Zweifellos ist alles das der Beobachtung eines Philosophen wert. Die Naturforscher betrachten die Unken und Spinnen mit ebensoviel Eifer wie die Tiger und Elefanten. Aber ich betrübe mich darob, daß Ihre Wißbegierde, Ihre Tätigkeit, kurz alle Ihre Vortrefflichkeiten und Tugenden mir allesamt feindlich sind. Ihre Ruhmliebe beispielsweise wird es fertig bringen, daß Ihre – oder meine Neigung vielmehr – nur ein Unglück mehr für mich sein wird. Gleichwohl können Sie schon zu mir sagen wie der Einsiedler zu Zodig:

›Ich habe zuweilen Trost den Seelen Leidender gespendet.‹

Ja, ich danke Ihnen die süße Wonne, den Zauber der Freundschaft. Ich fühle, daß dieses Band schon zu stark geworden ist, daß es zu sehr auf meine Seele drückt. Wenn sie Schmerzen hat, so ist sie versucht, sich Ihnen zuzuwenden und bei Ihnen Trost zu suchen. In Ruhe würde sie sich von einem noch stärkeren Reiz hinübergezogen fühlen, dem der Freude. Sagen Sie, ob ich alles das für Sie bedeute, oder ob ich nicht im Lieben und Leiden etwas vor Ihnen voraus habe. Soviel ist richtig, meine Freundschaft ist Ihnen lieb geworden, und Sie mir notwendig, noch ehe ich wußte, was ich Ihnen bin. Doch, was denken Sie von einem Wesen, das sich wegschenkt, noch ehe es weiß, ob es angenommen wird, ehe es erkennen kann, ob es mit Freuden oder auch nur mit Anerkennung aufgenommen wird? Mein Gott, was für Leid bereiteten Sie mir, wenn Sie nicht feinfühlig wären! Es genügt mir ja nicht, daß Sie ritterlich sind. Ich habe edle Freunde, ich habe mehr noch, und doch merke ich nur auf das, was Sie mir sind. Meiner Treu, steckt darin nicht Torheit, vielleicht gar Lächerlichkeit, daß ich in Ihnen meinen Freund sehe? Antworten Sie mir, nicht kühl, aber wahrhaftig! Mag Ihre Seele auch bewegt sein, sie ist nicht so krank wie die meine, die unaufhörlich von krampfhafter Anspannung in ohnmächtige Erschlaffung fällt. Ich darf über nichts ein Urteil abgeben, ich würde mich immer versehen; ich bin imstande, Gift statt eines Beruhigungsmittels zu nehmen. Schallen Sie, wie ich mich benehme! Erleuchten Sie mich, helfen Sie mir! Ich will Ihnen trauen, Sie sollen mir Stecken und Stab, meine Zuflucht, mein Verstand sein! Der meine steht mir nicht zu Gebote; ich bin nicht imstande vorauszusehen. Ich bin ganz entsetzt. Ich habe kein Unterscheidungsvermögen mehr. Begreifen Sie mein Unglück? Ich verlasse mich nur noch auf den Tod. An manchen Tagen ist er meine einzige Hoffnung. Doch wirr, wie meine Stimmungen sind, ist es mir zuweilen, als sei ich ans Leben geschmiedet. Die Furcht, den Geliebten zu betrüben, nimmt mir sogar den Wunsch, getröstet zu werden, wenn es auf Kosten seiner Ruhe wäre. Was soll ich Ihnen noch sagen? Dieser ewige Widerstreit verwirrt meinen Geist, und die Last des Lebens erdrückt meine Seele. Was soll ich tun, was soll aus mir werden? Soll mich das Irrenhaus, soll mich das Kloster vor mir selber retten? Ich will Sie nicht mit unglücklich machen; es betrübt mich schon, wenn Sie genug Anteil an mir hätten, um mein Leid mitzufühlen. Wiederum stürbe ich vor Scham, wenn ich nur Langeweile in Ihnen erregte. Glauben Sie nicht, daß Sie mir das verbergen könnten! So fein Sie es auch anfingen, mein Gefühl würden Sie doch nicht zu täuschen vermögen. Aber befriedigen Sie es wenigstens, und sagen Sie mir, wie es Ihnen geht. Haben Sie weniger oder mehr Vergnügen, als Sie sich versprachen? Ist Ihre Gesundheit besser als in der letzten Zeit Ihres Hierseins? Sind Sie mit Ihrem Diener zufrieden? Zweifellos hat das weder mit dem Glück noch mit dem Unglück etwas zu tun, aber doch schafft es Ruhe oder Ungemach und kommt also mit in Frage. Sie sind recht bescheiden. Sie haben mir nicht geschrieben, wie sehr Sie in Straßburg gefeiert worden sind. Man hat zu Ihrer Verherrlichung Verse gemacht; sie taugen nicht viel, allein die Absicht war gut.

Seien Sie nicht böse darüber, sondern geben Sie Antwort: haben Sie unterwegs den »Konnetabel« vorgelesen, nicht den Posthaltern, sondern Leuten aus der Gesellschaft? Der »Konnetabel« bringt mich auf den Gedanken: Wenn Sie ein gewisses Feingefühl besäßen, wenn Sie nur wie Montaigne wären und mich für Laboetie ansehen wollten, wie würde ich Sie bedauern, sich um das Vergnügen gebracht zu haben, mir einen Beweis Ihres Vertrauens, Ihrer Freundschaft und Ihrer Achtung gegeben zu haben. Ich rühme mich nicht, allein ich versichere Ihnen, das Herz würde mir von Reue zerrissen, wenn ich mir ein solches Betragen gegen Sie vorzuwerfen hätte.

Was beweist das? Sagen Sie mir das! Die ganze Verschiedenheit unserer Herzen kenne ich. Zeigen Sie mir die Ähnlichkeit! Niemals wird dieses Wechselspiel mit solcher Teilnahme gespielt werden. Leben Sie wohl!


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