Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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74.

Sonntag, den 30. Oktober 1774.

Mein lieber Freund, wie geht es Ihnen denn?

Ich möchte gern, Sie wären reich. Nicht so wie gewisse Leute, die vor Langerweile auf ihren Goldhaufen sterben. Nein, ich wünschte Ihnen ein behagliches Auskommen. Ich möchte, daß sich Ihr Talent sozusagen nicht die Beine auszureißen und Ihr Genie sich nicht den Hals zu verdrehen brauchte. Kurzum, ich möchte Sie nicht dazu verdammt sehen, sich mit dem großen Haufen einlassen zu müssen. Bei meiner Ehre, nur Ihretwegen, um Ihres Ruhms willen, beängstigen mich Ihre Heiratspläne. Ich kann wirklich dabei von mir sagen:

Nicht lichter ist der Tag als meine Herzenskammer.

Das will so viel sagen, mein lieber Freund: wenn sich Ihnen eine glänzende Partie böte, wenn Sie irgendwelche Aussicht hätten, wenn ich oder meine Freunde Ihnen dabei behilflich sein könnten, so rechnen Sie auf unsere eifrigste Mitarbeiterschaft an Ihrem Erfolge. Ich würde noch einmal glücklich und vergnügt sein, wenn ich Sie glücklich sehen könnte, und sei es das Glück, die Glücksart des Grafen Crillon. Das ist ein trefflicher Ehemann. Seine Frau ist seine Welt. Über diesen Horizont hinaus gibt es für ihn nichts. Mein Gott, ist er glücklich! Aber, mein lieber Freund, eine Tragödie wie die »Gracchen« wird er nicht dichten. Er kann nicht einmal so hübsche Verse machen wie Sie in Ihrem Briefe.

Der Drang nach starker Lebensbetätigung ist, wie ich glaube, das Merkmal der besonderen Menschen. Hat mir nicht ein gewisser jemand einmal gesagt: »Wenn ich jemals ruhig bin, so ist es dann, wenn ich mich unterwegs sehe!«

Nun muß ich Ihnen noch von der Zarin erzählen. Sie disputierte oft mit Diderot. Eines Tages, als der Streit etwas heftig geworden, unterbricht sie ihn und sagt: »Wir sind jetzt alle beide allzu erregt, um auf das Richtige zu kommen. Sie haben zu viel Phantasie, ich zuviel Hitze. Wir wissen alle beide nicht mehr, was wir sagen.« – »Mit dem Unterschied,« entgegnet Diderot, »daß Sie ungehindert alles sagen dürfen, was Ihnen beliebt, ich aber nicht.« – »Pfui!« erwidert die Zarin. »Gibt es irgendwelchen Unterschied zwischen Menschen?«

So spricht eine Herrscherin zu einem Philosophen.

Ein andermal erklärte sie ihm: »Zuweilen kommen Sie mir vor, als seien Sie hundert Jahre alt, und oft wiederum wie ein Kind von zwölf Jahren.« Lieber Freund, das ist entzückend gesagt. So ist Diderot in Wirklichkeit! Wenn Sie Kinder gern hätten, so würde ich Ihnen sagen, daß ich beobachtet zu haben glaube, daß alles Gefällige im Leben in gewissem Sinne kindlich ist. Kinder sind graziös, weich, natürlich. Harlekin ist ein Gemisch von Kind und Katze; es gibt nichts Graziöseres....

Wissen Sie, warum ich dem Chevalier von Chastellux nichts vom »Orpheus« erzähle? Mein Bester, aus dem Grunde, weil es eine Barbarei wäre, einem Blinden von Farben vorzuschwärmen.

Leben Sie wohl!


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