Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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84.

Halb elf Uhr. [1774]

Drei Damen waren bei mir. Ich hatte Husten zum Ersticken. Ich konnte Ihnen für Ihre Zeilen nicht danken.

Sie haben sehr recht getan, lieber Freund, daß Sie zu Hause geblieben sind. Ihre Gesundheit, Ihr Wohlbefinden liegen mir mehr am Herzen als mein Vergnügen. Sicherlich machen Sie mir den Vorwurf der schlechten Laune und der Ungerechtigkeit. Aber dann sind Sie ungerecht! Doch das verzeihe ich Ihnen. Ich habe für Sie ein Gefühl, das die Wurzel und die Frucht folgender Tugenden ist: der Nachsicht, der Güte, der Großmut, des Vertrauens, der Selbstvergessenheit, der Verleugnung jedweden Eigennutzes. Ja, mein lieber Freund, alles das ist in mir, sobald ich überzeugt bin, daß Sie mich lieben. Nur der Zweifel verwandelt mich und macht mich toll. Und das Schrecklichste dabei ist: dieser Zweifel befällt mich Tag für Tag!

Lieber Freund, die Grundregel, wenn man mit Punkten schreiben will, ist die: deutlich zu schreiben und genau zu zählen! Folgerung: Sie können nicht mit Punkten schreiben.

Eins sage ich Ihnen. Lassen wir die Zukunft Zukunft sein. Ich habe nur das Bedürfnis, gegenwärtig geliebt zu werden. Streichen wir in unserem Wörterbuche die Worte: ewig und nimmermehr. So weit reicht mein Herz nicht.

Lesen Sie die beiliegenden beiden Seiten aus Seneca; ich finde sie wundervoll. Damit Sie sie lesen sollen, habe ich sie abschreiben lassen. Der Marquis von Mora hatte dasselbe Gefühl; es hat ihn drei Jahre gegen den Tod gewappnet. Aber der Tod ist noch stärker als die Liebe.

Gute Nacht, ich werde melancholisch. Das Leben tut mir weh, und doch liebe ich Sie innig und leidenschaftlich. Ich habe Sie heute morgen raten lassen, vor was ich Angst hätte. Sie nicht bei mir zu haben! Mein ganzes Leben lang treffen meine Befürchtungen immer ein. Aber morgen abend werden Sie doch bei mir sein?


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