Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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11.

[Im März 1776.]

Liebe Freundin, wenn ich Ihnen diesen Namen noch geben darf! Mehr denn je hat mich Ihr Zustand bis in die tiefste Seele mit Schmerz erfüllt! Der Gedanke daran verfolgt mich. Ich bin zu nichts fähig, vor Grauen wie erstarrt. Ich habe mit Ihnen geredet, bin vor Ihnen auf die Knie gesunken, habe Ihnen gesagt, daß ich Sie liebe, – und Sie waren wie eine Tote! Nicht ein Zeichen, daß dies Eindruck auf Sie machte! Sie leben und doch sind Sie nicht da. Beides in Einem! Wie gräßlich!

Ihre Abmagerung ist schrecklich; sie wird Tag um Tag schlimmer. Aber Ihre Magerkeit, Ihre bleiche Farbe haben mich nicht so erschüttert wie die grauenhafte Unempfindlichkeit, in der ich Sie gesehen.

Es ist klar: Sie lieben mich nicht mehr! Unter andern Umständen wäre diese Erkenntnis die qualvollste Marter. Aber Sie sterben und Sie wollen sterben! Das drückt mich so nieder und läßt kein andres Gefühl in mir aufkommen. Oh, meine liebe Freundin, Sie wollen sterben, und Sie wollen, ich solle die Schuld daran tragen! Sie wollen mein Leben vergiften durch solch unerträgliches Bewußtsein! Ich muß darunter zusammenbrechen.

Sie haben mir gestern nicht geglaubt, daß ich zwei Tage in Versailles war. Fragen Sie den Baron von Wimpffen, wenn Sie ihn sehen! Es ist entsetzlich, daß Ihnen mein Wort nicht mehr genügt. Wohl habe ich mir vorzuwerfen, vor Ihnen nicht immer die Wahrheit eingehalten zu haben, aber wenn dies zuweilen geschah, war es mir immer anzusehen. Sie mußten merken, daß es mir fremd war, daß es aus Zartgefühl getan ward, aus zwingender Notwendigkeit.

Ich habe Sie drei Tage lang nicht gesehen. Ich habe mehr denn Sie darunter gelitten, zumal Sie gegen alles tot sind, was von mir kommt, und ich voll am Leben bin. Jeden Abend hoffte ich, Versailles verlassen zu können. Noch vorgestern. Ich hatte alles zur Rückfahrt vorbereitet, um gegen neun Uhr bei Ihnen zu sein. Tausend Kleinigkeiten traten dazwischen, tausend Hindernisse, so daß ich erst halb elf in Paris anlangte. Und dann kam mir noch irgendwer in den Weg, zu dem ich mitgehen mußte. Sie sind unerhört streng gegen mich! Sie wollen nicht einsehen, daß Arbeit und Beruf einen Teil meines Lebens völlig in Anspruch nehmen. Den andern möchte ich Ihnen weihen. Sie allein bewegen mich. An Ihnen nehme ich den größten Anteil. Ich liebe Sie, und Sie wollen sterben! Um alles, was mir die Seele rührt: Geben Sie diesen barbarischen Entschluß auf!

Antworten Sie mir, liebe Freundin! Es wird Ihnen das Herz erleichtern, die Seele befreien! Die meine ist in Trübsal und Grauen versunken. Und in dieser Stimmung soll ich arbeiten! Ich muß zum Erzbischof von Toulouse, und dann zu Herrn Joly von Fleury. Es gibt nur einen Ort auf Erden, wo ich sein möchte: dort, wo Sie weilen!

Hippolyte.


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