Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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1.

Paris, Samstag abends, den 13. Mai 1773.

Sie reisen am Dienstag ab, und da ich nicht weiß, wie mir bei Ihrer Abreise zumute sein wird und ob ich Ihnen schreiben will und darf, so möchte ich wenigstens noch einmal mit Ihnen plaudern und mir Nachrichten von Ihnen aus Straßburg sichern.

Sie sollen mir melden, ob Sie gesund und wohl angekommen sind, ob die Abwechslung der Reise Ihre Seele nicht schon beruhigt hat. Denn eigentlich ist sie nicht krank, Sie leidet nur an den Übeln, die sie sich selber zufügt, und Zerstreuungen und Ortswechsel werden mächtig genug sein, um sie den Gefühlswallungen zu entheben, die Sie vielleicht bedrücken, weil Sie gut und ritterlich sind. Ja, Sie sind ein liebenswürdiger, vortrefflicher Mensch. Eben habe ich Ihren Brief von heute morgen wieder gelesen; er hat die Milde Geßners und die Kraft Rousseaus. Mein Gott, warum vereint sich alles, was zu gefallen und zu rühren vermag, und warum tun Sie mir ein Glück auf, dessen ich nicht würdig bin und das ich gar nicht verdient habe?

Nein, nein, ich will Ihre Freundschaft nicht! Sie würde mich trösten und zugleich noch mehr aufregen, und ich muß Ruhe haben und Sie eine Zeitlang vergessen. Ich will Ihnen und mir selber nichts vormachen, aber wahrhaftig, in meinem wirren Zustand fürchte ich mich vor einer Selbsttäuschung. Vielleicht sind meine Bedenken mächtiger als mein Unrecht. Vielleicht würde meine Herzensnot einen geliebten Menschen [den Marquis von Mora] tief betrüben.

Eben in diesem Augenblick erhalte ich von ihm einen Brief voll des höchsten Vertrauens in meine Liebe. Er gedenkt meiner, meiner Gedanken, meines Innenlebens mit jener hohen Einsicht und Sicherheit, die man nur besitzt, wenn man lebhaften und starken Gefühlen Worte verleiht. Ach, mein Gott, welcher Zauber oder welches Verhängnis mußte Sie in meine Nähe führen und mich ihm abspenstig machen? Warum bin ich nicht im vergangenen September gestorben? Damals wäre ich ohne Bedauern aus der Welt geschieden und ohne mir Selbstvorwürfe machen zu müssen. Ach, ich fühle es, noch heute könnte ich für ihn mein Leben lassen. Es gibt nichts, das ich nicht für ihn opfern möchte, aber vor drei Monaten brauchte ich ihm noch nichts zu opfern. Meine Liebe war nicht stärker, aber edler! Doch er wird mir verzeihen. Ich hatte damals so viel durchgemacht! Leib und Seele waren durch das unaufhörliche Leid erschöpft. Die unregelmäßige Post zuletzt brachte mich zuweilen dem Wahnsinne nahe. Da habe ich Sie kennen gelernt; da haben Sie in meine Seele neues Leben, neue Freude gegossen. Ich weiß nicht, was ich inniger empfunden, die Verpflichtung gegen Sie oder dieses neue Leben.

Aber, sagen Sie mir: Ist das die Sprache der Freundschaft? Oder des Vertrauens? Was reißt mich hin? Bewerkstelligen Sie, daß ich mir selber klar werde! Helfen Sie mir, mein Gleichgewicht wiederzufinden! Meine Seele ist aufgewühlt. Sind es meine Selbstvorwürfe? Ist es meine Schuld? Sind Sie's? Ist's Ihre Abreise? Was quält mich? Ich bin am Ende meiner Kraft. In diesem Augenblick geht mein Vertrauen zu Ihnen ins Endlose, und doch spreche ich vielleicht in meinem Leben nie wieder mit Ihnen.

Leben Sie wohl! Morgen werde ich Sie sehen und vielleicht wegen meines heutigen Schreibens in Verlegenheit sein. Vergessen Sie nicht, daß Sie mir versprochen haben, meine Briefe sofort zu verbrennen!

Gebe der Himmel, daß Sie mein Freund sind, oder ich wünschte, Sie nie kennen gelernt zu haben! Glauben Sie, daß Sie mein Freund sein können? Denken Sie nur ein einziges Mal darüber nach! Ist das zuviel?


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