Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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90.

Donnerstags. [Mitte Januar 1775.]

Es wäre unwürdig und gemein von mir gehandelt, wenn ich Sie Ihrem Zorne überließe und der Meinung, ich hätte Sie beleidigen wollen. Lieber Freund, lernen Sie mich besser kennen, und seien Sie überzeugt, daß die Furcht, kompromittiert, wie Sie sich ausdrücken, oder gar verraten zu werden, mir ewig fremd bleiben wird. Denken Sie daran, daß ich den Tod nicht fürchte und sogar so weit davon entfernt bin, daß seit einem halben Jahre kein einziger Tag hingegangen ist, an dem ich nicht die Sehnsucht und den Mut, dem Tode zuvorzukommen, verspürt habe. Denken Sie daran, mein Freund, daß ich in dieser seelischen Stimmung nur für eine einzige Art von Furcht zugänglich sein kann, die mit meiner Zärtlichkeit für Sie eng verwandt ist: der Furcht, Ihnen Verdruß zu machen, der Furcht, Sie zu betrüben. Bei meiner Ehre, für mich selbst habe ich keine Furcht. Im Gegenteil, es gibt Augenblicke, wo ich wünsche, Sie stießen mich in die Verzweiflung zurück. Sagen Sie nun: kann ich voll kleinlicher Befürchtungen sein, voll Befürchtungen, die ihren Ursprung nur in fader Eitelkeit hätten und in dem Trachten nach unverdienter Achtung? Nein, lieber Freund, ich wiederhole es Ihnen, ich habe vor nichts auf der Welt Furcht als vor meinem Gewissen, und da ich es nicht beschwichtigen und meine Reue nicht ersticken kann, so möchte ich sterben. Mein einziger Schmerz beim Sterben wäre der Gedanke, Sie gekränkt zu haben.

Geben Sie nach diesem offenen Geständnis meiner Seelenstimmung Ihr Urteil ab! Prüfen Sie sich, ob Sie wirklich noch erbittert sein können über eine Äußerung, die zweifellos sträflich sein würde, wäre Sie nicht die Wirkung zweier Krankheiten, die an meinem Leben zehren und mir das Herz zerfleischen. Lieber Freund, ich habe es Ihnen schon so oft gesagt, Sie müssen unbedingt viel, sehr viel Nachsicht mit mir haben. Anders können Sie dem nicht entgehen, daß Ihr ganzes Leben von bitterer Reue getrübt wird. Verzeihen Sie mir also – nicht was ich gewollt und gefühlt habe, denn das bedarf gewiß keiner Verzeihung, höchstens weil es sich zu leidenschaftlich geäußert hat, – verzeihen Sie mir aber den Anfall von Wahnsinn, dessen ich nicht Herr werden konnte.

Ihr Brief ist bitter, er ist ungerecht, aber er raubt mir nicht die Hoffnung auf die Wiedereroberung Ihres Herzens. Sagen Sie mir, es sei ewig für mich verschlossen, und ich werde Ihnen Dank wissen. Denn mit diesen Worten zerrissen Sie das einzige Band, das mich an ein Leben voll von Kummer und Reue knüpft, an ein Dasein, das mir keinen anderen Reiz, keine andere Freude mehr verheißt als die, Sie zu lieben.

Seien Sie versichert, ich werde Ihr glückliches und vergnügliches Leben in keiner Weise stören, ich werde keine Minute Ihres Daseins in Anspruch nehmen, die Sie Ihrer Meinung nach besser verwerten könnten. Sie sollen frei sein und mich nur selten sehen, ohne Gefahr zu laufen, von mir Vorwürfe zu hören. Lieber Freund, sagen Sie mir noch einmal, daß Sie mich nie wieder sehen wollen. Die drei Worte zu vernehmen, danach dürstet meine Seele.

Wahrlich, ich habe nur vor dem Leben Furcht. Die ganze Welt ist mir vergällt. Ich fühle mich so stark und zu gleicher Zeit so schwach, daß ich Sie herzlichst bitte, vollenden Sie meinen Untergang oder retten Sie mich völlig! Leben Sie wohl, lieber Freund!

Ich lade Sie nicht ein, zu mir zu kommen, sondern teile Ihnen nur mit, daß ich alles, was ich mir vorgenommen hatte, unterlassen werde. Ich komme um fünf Uhr heim, und wenn ich wüßte, wo Sie zu Mittag äßen, würde ich Sie abholen, um Ihnen die Droschke zu sparen. Ich schicke zu Ihnen, aber Sie werden wohl nicht zu Hause sein. Für den Fall, daß Sie mir gnädigst Bescheid sagen lassen, ordne ich an, daß man mir Ihre Antwort zu Frau von Meulan, Rue des Capucines, nachbringt. Ich bin dort zu Tisch.


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