Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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52.

Donnerstag, den 15. September 1774.

Vielleicht werden Sie niemals lesen, was ich Ihnen eben schreibe, vielleicht auch haben Sie es sehr bald in den Händen. Die Antwort, die ich am Sonnabend erwarte, soll nämlich entscheiden, ob ich diesen Brief verbrenne oder Ihnen sende.

Hören Sie mich an. Mir ist, als ob alle Leidenschaften meiner Seele eingeschlafen seien. Sie ist ihrem alten und einzigen Ideal wieder zugewandt und zurückgegeben. Mein lieber Freund, ich täusche mich durchaus nicht. Meine Erinnerungen, selbst meine Trauer, sind mir teurer, vertrauter und heiliger als die ungestüme Liebe, die ich für Sie gehegt habe, als das Begehren, das ich so gern auch in Ihnen gesehen hätte. Ich bin in mich gegangen, ich bin zu mir gekommen, ich habe Gericht über mich und auch über Sie gehalten. Ein Urteil habe ich aber nur über mich gefällt. Ich habe eingesehen, daß ich Unmögliches beansprucht habe: von Ihnen geliebt zu werden. Es war ein unerhörtes Glück, ein Glück, das ich nie hätte gewinnen sollen, daß der zärtlichste, vollkommenste und liebenswürdigste Mann, den es je gegeben hat [der Marquis von Mora], mir seine Seele, sein Denken, sein ganzes Ich geschenkt und völlig überlassen hatte.

Ich erwähne das alles immer wieder, mein Freund, nicht aus alberner Schwäche, die der Trauer meines gequälten Herzens unwürdig wäre, sondern um mich vor Ihnen zu rechtfertigen, jawohl zu rechtfertigen. Schuldbeladen habe ich mich an Sie verloren. Ich habe Sie leidenschaftlich geliebt, aber auch das kann mich nicht vor Ihnen entschuldigen, daß ich die Sehnsucht habe hegen können, Sie sollten fühlen wie ich. Diese Anmaßung mußte Ihnen verrückt vorkommen. Ich einen Mann Ihres Alters fesseln, der in sich alle liebenswürdigen Eigenschaften eint, den Talent und Geist zum Liebling aller der Frauen machen, die mehr Anspruch als ich haben, zu gefallen, zu verführen und zu fesseln! Mein lieber Freund, ich bin ganz außer mir, wenn ich daran denke, für wie blind von Eigenliebe und verstandesarm Sie mich halten müssen! Voller Schmerzen klage ich mich an. Zweifellos zu spät, viel zu spät werde ich gewahr, daß ich mich verirrt habe. Es war ein Wahn zu glauben, daß Sie mich lieben könnten. Ich verfluche diesen Irrtum, und indem ich mich selber verachte, sollte ich auch Sie hassen. Und in der Tat reizen Sie dieses gräßliche Gefühl in mir. Es wäre die letzte Kraftprobe meiner Leidenschaft. Aber ich bereue nichts mehr. Der letzte Schlag, der meinen Körper gebrochen, hat meine Seele erhoben. Sie ist empfindsam geblieben, aber leidenschaftslos geworden. Ich kenne keinen Haß, keine Rache mehr, keine.....

Mein Gott, welches Wort wollte ich eben aussprechen! Es ist nur noch – in meinen Gedanken – dem Gedächtnis des Marquis von Mora geweiht. '

Ich habe Ihre Briefe gelesen und nochmals gelesen, den ans Bordeaux und den vom 8. aus Montauban. Es tut mir herzlich leid, daß Sie ohne rechten Anlaß unruhig und aufgeregt sind, aber grundlose Schmerzen sind nur vorübergehend, ich hoffe es wenigstens, denn ich wünsche Ihnen aus ganzer Seele Frieden und Glück. Ich habe nicht die Macht gehabt, Ihnen diesen Besitz zu gefährden, aber vielleicht leidet Ihr Ehrgefühl unter dem Bewußtsein, mir weh getan zu haben. Ich verzeihe Ihnen im Grunde meines Herzens. Bewahren Sie mir Ihr Gedenken, aber sprechen Sie nie davon und lassen Sie mir meinen Glauben, daß ich damals mehr unglücklich als schuldig war, als wir uns fanden. Ach, Sie sind nicht verpflichtet, dasselbe zu glauben, und ich habe das Recht verloren. Sie zu überzeugen, aber mit Rousseau wage ich zu sagen: »Meine Seele war nicht geschaffen zur Erniedrigung!«

Leben Sie wohl! Sollte ich Sonnabend Nachricht von Ihnen bekommen, dann will ich noch ein paar Worte hinzufügen. Ich verzeihe Ihnen im voraus jegliche Kränkung, die Sie mir könnten geschrieben haben. Ebenso widerrufe ich mit dem letzten bißchen Vernunft und Energie, das mir geblieben ist, alles was ich Ihnen im Banne der Verzweiflung geschrieben habe.

Ich lege Ihnen hiermit mein Glaubensbekenntnis in die Hände. Ich verspreche, ich gelobe Ihnen, nichts mehr zu fordern, keinerlei Ansprüche an Sie zu stellen. Wenn Sie mir etwas Freundschaft bewahren, so will ich mich ihrer in Frieden und Dankbarkeit erfreuen. Und wenn Sie mich ihrer nicht mehr für würdig erachten, so will ich darum trauern, ohne Sie ungerecht zu schelten.

Adieu, mein lieber Freund! Die Freundschaft spricht dies Wort aus. Es ist meinem Herzen um so teurer, seit ihm nichts mehr daraus droht.

Sonnabends, elf Uhr abends.

Ihre Antwort ist da. Sie ist nicht anders, als ich sie mir gewünscht hätte: frostig und lau. Mein lieber Freund, wir werden uns verstehen. Meine Seele ist der Ihren gleichgestimmt.

Mein Brief hat Sie also nicht beleidigt? Sie haben ihn wunderbar richtig aufgefaßt! Sie haben eben mir gegenüber den Vorteil des vernünftigen Mannes über ein leidenschaftliches Weib! Sie waren kaltblütig, ich im Fieber. Aber auch bei mir war das die letzte Krise einer schrecklichen Krankheit, an der es freilich besser gewesen wäre zu sterben, weil die Heftigkeit der Fieberanfälle die Kräfte des unglücklichen Kranken so schwächt und verzehrt, daß er sich wenig Freude von seiner Genesung versprechen darf.

Lieber Freund, Sie haben das Wort Ritterlichkeit gebraucht. Wissen Sie, was ritterlich ist? Nicht etwa, daß Sie die sechs oder sieben Seiten wieder zerrissen haben, die Sie mir vor dem Empfang meines Briefes vom 4. September geschrieben hatten. Nein, nein! Die Vernunft hat über die Leidenschaft triumphiert. Sie regelt unser Leben. Sie gießt über alles ihren Frieden aus; kurzum, sie ist so maßvoll, daß ich Ihnen heute meinen Dank abstatten muß für das, was Sie mir gesagt haben, und für das, was Sie mir nicht gesagt haben.

Lieber Freund, Ihr Brief vom Freitag ist liebenswürdig. sanft, rücksichtsvoll, vernünftig. Er hat den reizenden Ton des Vertrauens. Aber er ist traurig, und ich bin betrübt, daß dies die Stimmung Ihrer Seele ist. Aber ich habe nichts in mir, was Sie aufheitern könnte. Ich habe nicht einmal die Kraft, heute abend noch länger mit Ihnen zu plaudern. Ich bin allzu leidend. Wenn ich es kann, nehme ich Ihren Brief vor dem Abgang der Dienstagspost noch einmal vor. Leben Sie wohl! Erwarten Sie denn eigentlich noch Nachrichten von mir?


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