Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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70.

Sonnabend, den 22. Oktober 1774, nach dem Eingang der Post.

Mein Gott, Ihre Mitteilungen versetzen mich in Unruhe und Betrübnis. Ich glaube immer alles, was ich fürchte. Sehen Sie, so nehme ich an Ihrem Kummer teil. Nun kann ich die Trennung von Ihnen ganz und gar nicht mehr ertragen. Lieber Freund, Ihr Leid ist mein Leid. Es ist mir schrecklich, daß ich es Ihnen nicht erleichtern kann. Wenn ich bei Ihnen wäre, würde ich alle Ihre Sorgen auf mich nehmen, alles, wovor Sie Angst haben, sodaß Ihnen gar nichts mehr davon bliebe.

Wie bin ich unglücklich! Bei der einzigen Gelegenheit, wo Ihnen meine Liebe wohltun könnte, bin ich dazu verdammt, Ihnen nichts zu nützen. Dasselbe werden Ihnen auch noch andere sagen, die Sie lieben, und zweifellos in schöneren Worten. Ich gehöre Ihnen allzusehr, als daß ich sagen könnte, was ich fühle. Gibt es denn Worte, mit denen eine leidende Seele alle ihre Regungen auszudrücken vermöchte? Eine Seele voll Bangen und Zagen, der das Unglück jede Hoffnung versagt hat? Lieber Freund, in meiner Stimmung hat man keine anderen Worte als die: »Ich liebe Dich!« Ach, wenn sie so in Ihre Seele dringen könnten, wie ich sie fühle! Wie groß auch Ihr Unglück sei, Sie müßten dabei glückselig sein!

Mit tödlichem Schmerze merke ich jetzt, wie schwach Ihre Liebe zu mir ist. Sonst könnte es uns nicht an Trost fehlen. In der Krankheit schlummert die Arznei. Wenn man unglücklich ist, dann ist es schrecklich, nur eine schwache Liebe in sich zu haben. In uns müssen wir die Kraft finden, und nichts verleiht mehr Kraft als eine starke Leidenschaft. Die Gefühle anderer erfreuen und rühren uns; die in uns selber sind, die halten uns aufrecht. Aber diese Hilfsquelle ist fast den meisten Menschen versagt. Alle lieben sie nur auf Gegenseitigkeit. Eine armselige Art, die klein und schwach macht. Sie können nicht anders, selbst wenn sie es wollten. Wir Menschen müssen bleiben wie wir sind, wenn uns nicht eine Naturmacht oder ich weiß nicht was wandelt.

Sie sind zu gut, tausendmal zu gut, weil Sie sich um mein Leid kümmern. Leiden heißt, für mich leben. Indessen geht es mir ein wenig besser, seit ich nur noch Huhn als Nahrung zu mir nehme. Das bekommt mir. Der Pylor läßt die Hühner ein, und das ist sehr richtig, denn die sind die besten Geschöpfe der Welt, immer bereit, sich für jedermann vierteilen zu lassen.

Leben Sie wohl, lieber Freund, ich plaudere von mir, fühle aber nur Sie. Von heute bis Montag werde ich in Aufruhr sein. Sie werden mir schreiben. Das ist mein Glaube.


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