Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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61.

Sonntag, den 2. Oktober 1774, vier Uhr morgens.

Ich habe meinen Brief wieder aufgebrochen. Ich konnte nicht einschlafen, und nun werden Sie das Opfer meiner Schlaflosigkeit. Meine Seele war erfüllt von Ihnen. Ihr Brief ging mir durch den Kopf, und über diesen Grübeleien vermochte sich mein Blut nicht zu beruhigen.

Ja, mein lieber Freund, Ihre Vermutung ist richtig. Ich habe Frau von Châtillon gemeint. Was Sie mir von ihr erzählen, ist sehr nett, aber ich bin wegen ihr unzufrieden mit mir. Sie bildet sich ein, mich zu lieben; sie ist tätig, gütig, achtbar, aber in ihrem Kopfe steckt nichts drinnen, und ihre Seele ist wüst und leer. Sie werden sich denken können, daß ich weder Zeit noch Kraft habe, sie zu erleuchten und zu belehren. Oft stört sie mich in meinen Träumereien und ist sie meiner Sehnsucht hinderlich. Ich gehöre mir selber nur an, wenn ich mich aufschwinge zu dem, was mir lieb und wert ist.

Ich vergehe vor Neugier, Ihre »Gracchen« zu lesen. Was mich besonders entzückt, ist der Umstand, daß Sie den Stoff ergiebig finden. Das beweist mir die Tiefe der Konzeption, und das ist vortrefflich.

Adieu! oder besser: Guten Morgen! Die Ruhe, die Stille der Natur müßten eigentlich meine Seele beschwichtigen. Aber, du mein Gott, das Gift, das an ihr frißt, ist allzu tätig!

Ungeduldig harre ich des Tages, indem ich Ihren Brief wieder und wieder lese.


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