Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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109.

Sonntags mitternachts.

Welche Wonnen und Freuden kann die Seele im Rausche der Leidenschaft erfahren! Mein lieber Freund, ich weiß wohl, mein Leben hängt an meiner Torheit. Wäre ich wieder ruhig, wieder, bei Vernunft, so könnte ich keinen Tag länger leben. Wissen Sie, was mein erstes Bedürfnis ist, wenn meine Seele aufgewühlt ist von Lust oder Leid? Mit Mora plaudern!

Ich mache ihn mir wieder lebendig, ich rufe ihn ins Leben zurück. Mein Herz sucht Frieden in seinem Herzen, meine Seele versinkt in seiner Seele. Die Glut, der wilde Puls meines Blutes triumphiert über den Tod. Ich sehe den Verlorenen vor mir, er atmet, er hört mich .... Mein Hirn ist so heiß, so wirr, daß Illusion und Wirklichkeit in eins verschwimmen. Sie könnten nicht greifbarer vor mir stehen als seit einer Stunde Mora.

Er sagt mir, daß er mir verziehen hat und mich liebt.

Mein lieber Freund, was ich eben erlebt habe, das ist noch die Folge der seelischen Erschütterung von heute nachmittag. Die Fähigkeit, die uns eine zweite Welt vorgaukelt, muß man lieben und hochhalten. Das ist ein Gnadengeschenk des Himmels, das zu preisen ich zu gering und schwach bin. Aber ich besitze noch genug Empfänglichkeit und Leidenschaft, um mich seiner voll Entzücken zu erfreuen und einen Nachklang jener Liebe daraus zu schöpfen, die mir einst der Inhalt meines Lebens war und noch immer meine Stütze.

Die Liebe, welche Glückseligkeit! Durch sie lebt und webt alles Schöne, Gute und Große in der Natur. Alle großen Dichter haben geliebt. Erst die große Leidenschaft trägt sie empor in ihr hehres Reich.

Aber, – leben Sie wohl, lieber Freund. Sie sind doch nicht auf den Ton meiner Seele gestimmt. Sie denken und ich fühle. Sie konzentrieren sich nicht, und Zerstreuung macht schlaff. Ich habe keine körperlichen Kräfte, aber die Begeisterung belebt mich. Ich weiß sonst nicht, woher ich die Kraft hätte, Ihnen so viel hinzukritzeln.

Leben Sie wohl!

Wenn Sie sich nicht wieder anders besonnen haben, so hole ich Sie morgen um fünf Uhr im Hause d'Argentals ab. Aber eins, mein lieber Freund, ist Bedingung: Keine Gefälligkeit, kein Opfer! Das verdiene ich nicht, und das wissen Sie wohl.


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