Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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191.

Sonntags, sehr spät. [Februar 1776.]

Sehen Sie wohl, ich wußte es. Wenn ich auch ein wenig daran zweifelte, so habe ich Ihnen doch vorausgesagt, daß Sie nicht kommen würden. Der Moment hat Sie verführt, und ich freue mich darüber. Sie werden sich amüsiert haben, und ich, ach ich war durchaus nicht verdrossen. Ich habe zwar das Unbehagen gehabt, auf Sie zu warten, indessen vermelde ich das bloß, ohne mich im geringsten zu beklagen.

So habe ich eben heute jemanden zu sehen bekommen, der zwei Tage lang nicht da war. Mein Lieber, Sie lieben mich wohl, aber Sie haben heute vormittag keine von all den Fragen getan, mit denen mich die andern überhäufen. Ob ich Fieber gehabt hätte? Ob ich gut geschlafen habe? Wieviel Hustenanfälle ich in den letzten vierundzwanzig Stunden gehabt? Und so weiter! Und so weiter!

Lieber Freund, erklären Sie mir, wenn Sie imstande sind, wie es nur möglich ist, daß man Sie auch nur ein wenig lieb behalten kann, wenn man sich überzeugen muß, und zwar ganz augenscheinlich überzeugen muß, daß Ihre angebliche Liebe völlig bar ist von Anteilnahme, Rücksicht, Aufmerksamkeit, Freundschaft, kurzum von all den Dingen, nach denen sich eine zärtlich Liebende sehnt?

Ich glaube wohl, wenn Sie Zeit dazu hätten und ab und zu darüber nachdächten, wieviel man Ihnen darbringt und wie wenig Sie dafür geben, so müßten Sie die von Ihnen Betrogenen entweder tief bemitleiden oder arg verachten.

Sagen Sie, wem gehört der heutige Abend? Der Arbeit oder Frau von M[ontsauge] oder wem? Es gehört unbedingt eine sehr glückliche Natur dazu, nie recht zu wissen, was man tun soll. Ich gestehe allerdings, daß ich für meine Person andre Begriffe vom Glück habe. Wenn ich mein Leben noch einmal beginnen sollte, so hätte ich nach dieser Sorte Glück kein Verlangen. Es ist mehr dazu geschaffen, die Eitelkeit als das Innenleben zu befriedigen. Aber jeder nach seinem Geschmack! Der Ihre ist vielleicht besser als jeder andre, denn Sie sind recht zufrieden, und dazu beglückwünsche ich Sie von ganzem Herzen.

Gestern habe ich eine sehr wonnige herzliche Freude erlebt. Ich habe Herrn von Saint-Chamans umarmen dürfen. Es geht ihm besser, aber gesund ist er nicht, und sein schlechter Zustand stimmt ihn sehr traurig, weil er gern lange leben möchte.

Das Tauwetter hat mich wieder etwas auf die Beine gebracht. Heute war mein Zimmer den ganzen Tag voller Besuche. Das macht mir weder Vergnügen noch Verdruß. Ich bin still geblieben. Mein Husten war geringer. Frau von Durtal hat mir liebenswürdigst einen Saft gebracht, der mir gestern und heute als Linderungsmittel gedient hat. Seit drei Monaten lebe ich vom Opium. Man hat mich beredet, darauf zu verzichten.

Gute Nacht!

Sie sehen: so lasse ich mich zur Plauderei mit Ihnen verführen, während ich doch in meinem Bette liegen sollte. Es geht mir nicht so wie Ihnen, der Sie mich auch heute morgen so rasch wieder verlassen haben.


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