Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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159.

Donnerstag, den 9. November, elf Uhr abends.

Mein lieber Freund, ich habe Ihnen heute vormittag vier Seiten geschrieben, aber ich will den Tag nicht beschließen, ohne Ihnen noch einmal zu sagen, daß ich Sie liebe. Eben war der bei mir, der mich über alles liebt, und das hat mir so recht fühlbar gemacht, wie sehr ich Sie liebe. Wären Sie nach einer dreimonatigen Abwesenheit unverhofft bei mir eingetreten, so hätte ich von Kopf bis Fuß gebebt. Und auch nicht ein Wort wüßte ich jetzt von dem, was ich zu Ihnen gesagt oder von Ihnen vernommen hätte!

Mein Lieber, man muß lieben, um zu erfahren, was für Reichtümer und Freuden die Natur den Menschen gewährt hat. Geliebt werden ist süß, aber ist es darum Glück? Die Zuneigung eines liebenswürdigen Mannes zu erkennen und zu erfahren, elementare Wallungen mit Artigkeiten zu beantworten, abwechselnd Melancholie und Mißmut in den Zügen dessen zu beobachten, der einen so gern glücklich machen möchte, – das mag der Eitelkeit eines albernen Weibes schmeicheln. Ein ehrliches und feinfühliges Frauenherz betrübt es tief.

Wie können Sie es aushalten, von mir keine Nachricht zu haben? Ist dann Ihr Dasein nicht leer? Sind Sie so in Tätigkeit oder in einem Rausche, daß Sie nicht abwechselnd Arbeitslust und müde Sehnsucht fühlen? Lebe ich nicht in Ihren Gedanken, wenn ich Ihnen fern bin?

Ach, Liebster, alle diese Fragen schildern Ihnen nur einen ganz geringen Teil meiner Gefühle. Ich sterbe vor Traurigkeit.

Meine Freunde denken, meine Leiden stimmten mich trübe. Gerade heute abend waren d'Anlezi und Schönberg so gütig zu mir. Mein Husten erschreckte sie. Sie sprachen mir zu und trösteten mich, diese trefflichen Menschen. Sie ahnen all mein Elend nicht. Und ich verdiene nicht, bemitleidet zu werden; nicht einmal von Ihnen! Ich bin ja wahnsinnig. Ich liebe Sie bis zur Tollheit, wie eine Wahnsinnige.

Verstehen Sie das? Leben Sie wohl!


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