Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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171.

Dienstags, fünf Uhr früh. [Dezember 1775.].

Ich kann nicht schlafen. Mein Leib, mein Kopf, meine Seele, keins läßt mich schlafen, und jedes quält mich auf seine Art. Um mir meine Schmerzen zu versüßen, will ich mit Ihnen plaudern.

Sie sehen wohl ein, mein lieber Freund, daß ich in diesem Zustande unmöglich zu Tisch zu Herrn Boutin kommen kann. Ich habe Ihnen bereits sagen lassen, daß ich mich bei ihm entschuldigt habe. Wahrlich, es ginge über meine Kräfte. Ausgenommen Sie, werde ich mit niemandem sprechen und niemanden anhören. Ich war allzu aufgeregt und bin augenblicklich noch viel zu unruhig. Das Herz weint mir, aber nicht nur wegen Herrn von Saint-Chamans.

Warum lassen Sie meine Seele nicht los? Welche Saite in mir auch vor Schmerz anklingen mag, Sie sind mit im Spiele, immer Sie! Meine Klagen, meine Sorgen, meine Reue, alles redet von Ihnen. Und es muß ja auch so sein! Ich existiere nur durch Sie und für Sie!

Ach, mein Gott, Sie haben gesagt, ich verwürfe, ich stieße alles von mir weg, was Sie für mich tun. Erklären Sie mir doch, was habe ich, das mich an ein schmerzensreiches Leben fesseln und ketten könnte, an ein Leben, das ich in der Stunde hätte verlassen sollen, wo ich den verlor, der mich den hohen Wert des Daseins hatte erkennen lassen? Damals habe ich das Leben vergöttert!

Wer hat mich in jener Stunde zurückgehalten, wer hält mich noch zurück, trotzdem er mich ins Herz sticht?

Sie wissen so gut wie ich, daß ich Sie liebe. Und Sie wissen auch: wenn ich sage, ich hasse Sie, so heißt das doch nur, daß ich Sie liebe. Wenn ich schweigsam oder kühl oder ärgerlich bin, so beweist Ihnen das alles, daß es keine zärtlichere und stärkere Leidenschaft auf Erden gibt als die meine. Ich habe sie bekämpft, verabscheut, aber sie ist immer mächtiger geblieben als mein Wille und meine Vernunft!

Lieber Freund, schicken Sie flink hin, und sagen Sie bei Herrn Boutin für heute mittag ab! Kommen Sie dafür gütigst morgen, am Mittwoch, mit zur Frau Geoffrin. Ich hoffe imstande zu sein, dahin zu gehen, wenn wir heute neue Nachrichten bekommen.

Ihren Brief aus Versailles erhielt ich, als ich nach Haus kam. Er war mitternachts angekommen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr mich diese mitfühlende Güte gerührt hat.

Guten Morgen, oder vielmehr gute Nacht, mein Lieber, denn für mich soll die Nacht beginnen. Es ist zu wonnig, vor dem Einschlafen mit Ihnen zu plaudern. Aber um Sie lieben und noch eine Weile leiden zu können, brauche ich doch wohl Schlaf. Denn zum Lieben muß man leben, und gewiß lebe ich nur, um Sie zu lieben.

Adieu, Liebster und Teuerster auf der ganzen Welt! Ich verzeihe. Aber vergessen? Ach, mein Liebster!


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