Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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62.

Montag, den 3. Oktober 1774.

Mein lieber Freund, wie weh ist mir ums Herz! Ich habe keine Worte mehr, nur Schreie. Ihren Brief habe ich gelesen, wieder gelesen und noch hundertmal gelesen. Mein lieber Freund, welch ein Gemisch von Gutem und Schlimmem! Wonne vermengt mit bitterer Qual! Ihre Zeilen haben die Stürme meines Herzens noch heftiger, doppelt so stark gemacht. Ich kann mich nicht mehr beruhigen. Sie haben meine Seele zur Hälfte mit Entzücken erfüllt, zur Hälfte zerrissen. Nie habe ich Sie anbetungswürdiger gefunden, nie so wert meiner Liebe, und nie bin ich von der Erinnerung an den Marquis Mora schmerzlicher, heftiger, bitterer heimgesucht worden. Ich war dem Tode nahe. Mein Herz war zermalmt; in der letzten Nacht war ich nicht Herrin meiner selbst. Diese Aufregung muß mich aufreiben oder ich werde wahnsinnig...

Ach, nein, ich fürchte weder das eine noch das andere. Wenn ich Sie nicht so liebte, wenn mir mein Leid nicht so lieb wäre: mit Freude, mit Wonne wollte ich mich von der Last dieses Lebens befreien! Nie, niemals hat ein Geschöpf unter so viel Marter und Verzweiflung gelebt.

Mein Freund, wir vergiften uns das einzige Gute, das es in der Natur gibt, das einzige Gut, das die Menschen weder verderben noch entstellen können. Alles in der Welt hat einen Marktwert und ist für Geld feil: Ansehen, Wohlleben, Freundschaft, sogar die Tugend, alles wird gekauft, bezahlt, taxiert nach seinem Goldwert. Nur ein einziges Ding gibt es, das über der Schätzung des großen Haufens steht, das licht wie die Sonne bleibt und ihre Glut besitzt, das die Seele leben und lodern läßt, sie emporträgt, stark und groß macht! Mein lieber Freund, ich brauche dieses Geschenk der Natur wohl nicht zu nennen. Füllt es einem die Seele aber ohne Glück, dann muß man sterben. Und so hätte ich sterben müssen. Mich sehnte es danach. Es kam anders. Wie grausam von Ihnen! Ach, was wollten Sie mit den paar Tagen machen, die Sie retteten? Sie mit Unfrieden und Tränen erfüllen! Dem schlimmsten aller Leiden die Marter der Reue hinzufügen! Mir Ekel vor meinem ganzen Leben einflößen! Und mich doch daran ketten durch eine Leidenschaft, die mir das Herz aufwühlt und mir zwanzigmal am Tage als Frevel erscheint. O mein Gott, ich bin eine Sünderin, aber der Himmel ist mein Zeuge, daß meinem Herzen nichts heiliger war als die Tugend. Und Sie meinen, Sie hätten mich nicht verführt? Wie? Sie glauben, ich sei von selber in mein Verderben gerannt? Ich soll Ihnen also weder meine Sünde noch mein Unglück zuschieben!

Ach, ich wollte es sühnen. Schon war ich dem nahe. In meinem Hasse überwand ich den Tod. Welches Verhängnis fügte es da, daß ich Sie wieder fand? Warum mußte die Angst, Sie seien krank, mein Herz erweichen? Warum martern und trösten Sie mich in einem Atem? Wozu dieses gräßliche Gemisch von Lust und Leid, Balsam und Elend? Mit allzu viel Macht stürmt das alles auf eine Seele ein, der Leidenschaft und Unglück die Spannkraft genommen haben. Alles das vollendet den Ruin meines von Krankheit und Schlaflosigkeit erschöpften Körpers.

Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt: im Übermaß meines Leidens weiß ich nicht, ob ich Sie oder den Tod anrufe. Sie oder er, einer von beiden muß mir Hilfe, ewige Heilung bringen! Nichts in der ganzen Welt hat sonst Macht über mich.

Aber sagen Sie, wie ist es nur möglich, daß ich noch nicht von Ihnen gesprochen habe? Daß ich Ihnen noch nicht gesagt habe, wie sehr ich fürchte, Ihr Fieber kehre wieder? Daß ich hoffe, mit der heutigen Post von Ihnen Nachricht zu erhalten? Wenn ich keine bekomme, werde ich Ihnen keinen Vorwurf machen, sondern weiterleiden bis Mittwoch.

Lassen Sie sich's gut gehen, mein Freund. Ihre Güte, Ihre Sanftmut, Ihre Aufrichtigkeit haben mein Herz ganz zärtlich und sehnsüchtig gemacht.

Montags abends.

Ein Wort habe ich von Ihnen erhalten, ein einziges Wort! Aber es sagt mir, daß Sie fieberfrei sind, und das beruhigt mich. Aber ich habe Fieber. Der Anfall der letzten Nacht hat mein Blut und meine Pulse in Wallung gebracht. Doch sorgen Sie sich nicht! Der Tod kommt nie zur rechten Zeit. Unglückliche sterben nicht, und wenn sie lieben, sind sie zu schwach und zu feig, um selber ein Ende zu machen. Ich werde weiter leben, weiter leiden, weiter warten – nicht auf das Glück, nicht auf frohen Genuß, auf was also? Mein lieber Freund, ich frage Sie! Antworten Sie mir!

Sehen Sie, wie unbesonnen Sie sind. Sie haben Ihren Brief nicht zugesiegelt! Wie leicht ist das verderblich. Damit Sie sich überzeugen, füge ich Ihren Umschlag bei.

Graf Crillon heiratet in diesen Tagen. Er hofft auf das Glück, auf das größte Glück. Ob er sich da nicht irrt? Er hat sich angelegentlich nach Ihnen erkundigt.

Gute Nacht, lieber Freund! Der Kopf ist mir schwer; ich leide mehr als sonst, aber ich habe Nachricht von Ihnen. Das ist die Hauptsache. Ich bin in einer sehr seltsamen Stimmung. Seit zwölf Stunden habe ich immer die nämliche Erscheinung vor den Augen, gleichgültig ob ich sie offen habe oder geschlossen. Es ist das Bild dessen, den ich zärtlich geliebt und angebetet habe, das mich jetzt mit Grauen und Angst erfüllt. Selbst in diesem Augenblicke ist es da. Was ich anfasse, die Worte, die ich schreibe, alles das ist mir weniger anschaulich, weniger gegenwärtig. Aber warum habe ich Angst? Warum ist mir bange? Vielleicht weil....


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