Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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56.

Freitag, den 23. September 1774

Lieber Freund! Ich schreibe Ihnen so viel, daß ich Sie ermüde. Aber es ist die einzige Beschäftigung, bei der ich die Empfindung habe, noch zu leben. Wenn ich auch überzeugt bin, daß ganz tot sein der schönste Zustand ist, so ist es mir halbtot doch noch eine Wonne, mit Ihnen zu plaudern. Wenn Sie mich auch nicht hören, so erfahren Sie es doch wenigstens und können mir antworten. Es ist sehr traurig, gar keinen Brief von Ihnen zu bekommen. Zweimal hat die Post nichts von Ihnen gebracht, die vom Montag und vom Donnerstag. Ich bin selber schuld daran. Sie hätten mir doch weiterhin wenigstens pünktlich geschrieben, wenn Sie mich auch nicht mehr lieben.

Ach, so weit ist es mit mir gekommen!

Ich habe Sie geliebt und dann rasend gehaßt. Sicherlich war das der letzte Aufschwung meiner Seele, ehe sie auf ewig dahingeschwunden ist. Wahrlich, seitdem habe ich sie nicht wieder reden hören. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist.

Ich glaubte, d'Alembert würde am Mittwoch Nachricht von Ihnen bekommen. Als ich nach Hause kam, war mein erstes Wort die Frage, ob er keinen Brief erhalten hätte. Er wußte es nicht, denn er hat die treffliche Angewohnheit, seine Briefe erst am andern Morgen zu öffnen. Bald erfuhr ich, daß von Ihnen nichts gekommen war. Mein leidender Zustand nahm darüber derartig qualvoll zu, daß ich ein Beruhigungsmittel einnehmen mußte.

Wozu sage ich Ihnen das alles? Sie schreiben mir doch nicht.

Ihre Abneigung vor dem Leben in der Provinz verstehe ich vollkommen. Aber auf dem Lande leben ist was ganz anderes. Ich möchte viel lieber in einem Dorfe wohnen, in der Gesellschaft von Bauern, als in der Stadt Montauban und ihrer guten Gesellschaft. Aber bei Gott, es gibt auch mitten in Paris eine Menge Provinzler, eine Masse Dummköpfe und Protzen. Der höhere Mensch ist allerorts eine seltene Ausnahme, und, wer weiß, ob es nicht ein Unglück ist, einen kennen gelernt und ihn wie das tägliche Brot gehabt zu haben. Von dem gewohnheitsmäßigen Umgang mit geistvollen und bedeutenden Menschen kann man dasselbe behaupten, was Larochefoucauld vom Hofleben gesagt hat: »Es macht nicht glücklich, aber man fühlt sich wo anders auch nicht mehr wohl.« Mir wenigstens geht es so: ich fühle mich in keiner anderen Gesellschaft mehr wohl.

Lieber Freund, vielleicht erraten Sie, auf wen das geht. Ich muß Ihnen gestehen, es ist so gar kein Glück, so gar kein Genuß, nicht einmal ein klein wenig Trost dabei, wenn man von jemandem geliebt wird, und noch so leidenschaftlich geliebt wird, der wenig, – ja sehr wenig Geist besitzt. Ach, wie ich mich hasse, daß ich nur jemanden lieben kann, der hervorragend ist! Wie bin ich wählerisch geworden! Bin ich aber schuld daran? Denken Sie an meine Erzieher: an Frau du Deffand, – in dieser Beziehung darf ich sie nicht unerwähnt lassen! – den Präsidenten Hénault, den Abbé Bon, den Erzbischof von Toulouse, den von Aix, an Turgot, d'Alembert, den Abbés von Boismont, an den Marquis von Mora. Das sind alles Menschen, die mich haben reden und denken gelehrt und die mir die Ehre angetan haben, mich als Etwas gelten zu lassen. Kein Wunder, wenn es mir nun nicht in den Kopf will, geliebt zu werden von [Frau von Châtillon].

Lieber Freund, ich habe Ihnen mein Herz ordentlich ausgeschüttet, wenn auch auf die Gefahr hin, daß Sie mich für töricht und einfältig halten. Was tut's?

Gute Nacht, ich lasse ein wenig Platz, damit ich Ihnen morgen sagen kann, daß ich wieder keine Nachricht von Ihnen erhalten habe. Lieber Freund, nehmen Sie mir's nicht übel: ich halte das für unmöglich.

Sonnabend, nach dem Eintreffen der Post.

Sie sind krank, Sie haben Fieber! Ach mein lieber Freund, es ist nicht das wiedererwachende Interesse, es ist die Angst, die mich das denken läßt. Ich glaube, ich bringe dem, den ich liebe, Unglück.

Wenn ich am Montag keinen Brief von Ihnen bekäme!


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