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Achtes Buch
Faust und Helena

CII

Immens und plötzlich und mit der abrupten Nahheit, der teleskopischen Magie, mit der sich Dinge im Traum ereignen, erschien der englische Dampfer an der Küste Frankreichs; er kam näher und ragte auf mit der eigenartigen Unvermitteltheit, mit der mächtige, riesenhafte Gegenstände, die sich mit großer Geschwindigkeit fortbewegen, näher kommen und aufragen; man hatte nicht das Erlebnis der Anlaufbewegung, des allmählichen, zunehmenden Größerwerdens, es war vielmehr so, daß das Bild des Dampfers von einer Größe übergangslos in eine andre verschmolz, so, wie manchmal im Kino die Gesichter der Menschen auf der Leinwand aus der Normalgröße in einer Kette von schnellen Überblendungen in Großaufnahme übermächtig eindrucksvoll vor den Zuschauer gebracht werden, ruckweise, schußweise, so, wie der Geist aus der entstöpselten Zauberflasche im Märchen.

Zunächst sah man nur das ruhige, endlose, abendliche Meer, die angenagten Landzungen Europas und das Land selber mit seinen üppig-grünen Hängen, den Streifenmustern seiner bis zum letzten Eckchen angebauten Erde, seinen altmodischen Festungswerken und seiner Stadt, der Stadt Cherbourg, die, von diesem Blickpunkt gesehn, wie ein dichtes Baugefüge aus altem Kalk am Fuß einer Küsteneinzahnung lag.

In westlicher Richtung dann, ein klein wenig nach Westsüdwest abgerückt, gegen den schon verdunkelten Umriß des Vorgebirgs gesehen, erschien die lange, schwarze, niedrige Rauchfahne, die anzeigte, wo das Schiff fuhr. Es kam schnell näher, der Rumpf wurde breiter, zuerst war das Schiff ein Tüttel gewesen, ein Klecks, ein körperliches Etwas, ein winziger, kaum merklicher Punkt in der Ruhe und Unermeßlichkeit des Abendmeers, und nun war es schon da und glitt sacht herein hinter dem altmodischen Hafendamm und bewohnte und beherrschte das Weltall mit der Gegenwart seiner sechzigtausend Tonnen so sehr, daß der weite Rahmen aus Himmel, Meer und Erde, in dem es zuvor nur ein unauffälliges, wenn auch lebendiges Zeichen gewesen war, jetzt nur noch die Staffage für seine Großartigkeit abgab.

Und nun genau im Augenblick der Ankunft lag die Sonne auf der westlichen Woge wie ein Ball aus verglühender Kohle; das uralte Licht fiel über See und Land ohne Heftigkeit und Hitze mit einem entrückten, überirdischen Glühn, das den zarten Ton von alter Bronze hatte. Dann tauchte die Sonne schnell ins Meer, und der unbewohnte Himmel brannte auf in einem heftigen, beinah unerträglichen Glorienschein; das alte Sonnenlicht war verwelkt, und das Schiff war draußen vor dem Hafen und glitt nun sacht durchs Wasser und bog, Breitseite gegen das Land, in einer Schleife auf den Ankerplatz zu.

Der steile Wall aus Eisenplatten schien sich kaum noch im Wasser zu bewegen, es war so, als stünde das Schiff firmamentfest in den Fluten, unverrückbar wie das Vorgebirg und die Küste, aber vor dem mächtigen Bug rollte noch langsam das Land ab. Wasser schäumte lärmend in dicken Sturzsäulen aus den Seiten; Seemöwen umflatterten in Schwärmen das Schiff und stießen heißhungrig und hart aufs Wasser mit krächzendem, unheimlichem Gekreisch. Dann lärmten die Anker, das Schiff stand.

Die Beiboote mit den Passagieren, die an Bord wollten, hatten die Stadt bereits verlassen, ehe das Schiff ankam, und waren nun ganz in der Nähe. Sie waren sogar schon eine Zeitlang im äußeren Hafen hin und her gefahren, denn das Schiff hatte Verspätung, der Kapitän hatte gefunkt, man möge bitte zusehen, daß sich beim Anlegen alles möglichst ohne Verzug abwickle.

Nun welkte das Licht auf dem Land; der heftige, harte Glanz des Westhimmels, der hellgolden und flammzackig aufgelodert war, war zu einem orangefarbnen Nachglast abgeklungen; die feine Blütentraube der Dämmerung zerlöste sich über dem Land; die Stadt, weit weg nun, war schon halb ins Duster eingetaucht, die Schatten wallten über die Felder und Hänge, spannen über den Wassern wie ein Geweb. Über dem Land aber war der Himmel noch hell; es war jene seltsame, phantomische Abendhelle, die sich den Menschen drunten in der Dämmerung offenbart, ohne sie mit einem Glanz zu berühren, denn die physikalisch-materiellen Eigenschaften des Lichts scheinen dieser Helle zu fehlen; es ist eine Helle, die kurz am Himmel hängt, ohne Substanz oder Lebensmacht, ganz wie das Gespenst des Lichts, wie dessen Seele, dessen Geist.

Dieser Späthimmel über Frankreich, dieses späte Abendlicht des schwindenden Sommers hatte ein eigentümliches Wesen von hoher Trauer, von Entrückung, von klassischer Ruhe und Gehaltenheit. Es war so, als sähe man unterm Schein dieses Lichtes in edlen Alleen ernste und schöne Menschen langsam heimwärts wandeln; das Licht war so weich, so leuchtend, so zartperlmuttern getönt, und alle große Müh war abgetan, das Gewalthafte von Freude, Haß und Liebe war zu Ende, die Wildheit der Wünsche und Hoffnungen, die Raserei von Herz, Hirn und Fleisch, das Fieber, der Aufruhr und das Gefrett, das alles war zu Ende, und Frauen mit ernsten Augen gingen langsam in langen Gewändern, gingen mit Blumen im Arm durch die laubigen Baumreihen, und die Nacht war gekommen, und sie würden nie mehr in den Wald gehn.

Nun, in diesem Licht über ganz Frankreich, kamen die Leute von den Feldern heim; sie hatten die kostbare letzte Helle des Tags genutzt, der Sommer war beinah herum, die Äcker waren gemäht, das Heu war gerecht und gehäufelt auf tausend Wiesen; im Elsaß, im Marnetal, in Burgund, in der Touraine, in der Provence schwankten schwere Wagen langsam auf Feldwegen heim.

In den größeren Städten hatte das nervöse Abendgeschwärm angefangen; die Kaffeehausterrassen waren unbehaglich überfüllt mit lärmenden Leuten, auf den Bürgersteigen drängte sich die plappernde, gestikulierende Menge, die Straßen waren laut vom Radau des Fahrverkehrs, Trambahnen klapperten, Autobusse knirschten hart, die Hupen zahlloser kleiner Taxis höhnten. Über allem aber, über dem Reichtum der abgeernteten Felder und über der unordentlich-wirren Drangsal der Städte hing dieses hohe, traurige Abendlicht.

Ein Landfremder – ein Reisender, wie er von einer neueren, fröhlicheren Erde stammte, ein Amerikaner etwa – hätte, falls er diese Küste zum erstenmal in diesem Lichte gesehn hätte, denken können, dieses Land Frankreich sei von einer Menschenrasse bewohnt, die bei weitem anders wäre als die Rasse, die tatsächlich dort wohnt; er hätte das trächtige Herbe dieser Erde unter diesem sterbenden Licht erkannt, und das hätte ihn tief beunruhigt.

Ja, einen solchen Reisenden hätte die tiefe, feine Melancholie dieser Szene sicher verstört gemacht, denn nach seiner eignen Lebenserfahrung wäre er auf einen solchen Stimmungsgehalt nicht gefaßt gewesen, er hätte ihn, ohne vorbereitet zu sein, nicht verstanden, denn hier waltete ein Friede ohne Hoffnung, war Schönheit ohne Freude, war eine stille, brütende Resignation ohne Frohlocken, – und beim Anblick des Schiffs, das nun immens und unbeweglich vor Anker lag, hätte ihn ein jäher Siegesschauer durchfahren, das plötzliche Wiederaufdringen von Glaube und Hoffnung nämlich, das feste Vertrauen in die Glücksalsbestimmtheit des Lebens.

Das Schiff lag wie ein Wesen fremder Art in diesen Wassern, es hatte die Wirklichkeit des Magischen, jene Wirklichkeit, die so groß und lebhaft ist, daß man sie für unwirklich hält. Das Schiff war wunderbar und wahr, es lag wie eine magische Leuchte vor der trauervollen Küste; sah man es an, dann hätte man mächtig jubelnd aufschreien mögen; der Anblick des Schiffs war, wie wenn eines Mannes Geliebte ihm die Hände auf die Lenden legt.

Das Schiff lag nun festverankert im Wasser mit jener lebendigen Stille, die allen zum Fahren geschaffenen Dingen beim Stillhalten eignet. Es lag tatsächlich vollkommen still im Wasser, es lag so unverrückbar stet da wie die Landzunge der Hafenbucht, seine Flanke ragte stumm auf wie eine Klippenwand, man hatte das Gefühl, der große Rumpf aus Eisenplatten wäre fest in den Boden des Meeres gerammt, das ihn ruhig flutend umplätscherte und umbrandete – aber in jeder Linie dieses Dampfers stand die Geschichte von seiner Macht und Geschwindigkeit geschrieben, dieses Schiff glühte und pochte vom dynamischen Geheimnis des Lebens. Lesbar an ihm war die Geschichte von hundert Transatlantikfahrten, die Erinnerung an seltene Seen, an Sonnen, Monde und vielerlei verschiedene Lichter, an die Frühlingskünfte ferner Küsten, an den Wandel von Krieg und Frieden und an die vollendeten Dramen all seiner Reisen, charakterisiert durch die Phantome von mehreren tausend Passagieren, das Leben, den Haß, die Liebe, die Bitterkeit, die Eifersucht, die Intrigen von Sechstagewelten, deren jede vollkommen in sich abgeschlossen war, Dramen also, wie sie nur auf einem Schiff spielen können, wie sie nur das Meer umgeben kann, wie sie nur auf der Erde beginnen und enden können.

Das Schiff glühte vom Glanz seiner strahlenden und leuchtenden Geschichte, und außerdem, es war buchstäblich ein Besuch aus einer neuen Welt, und der Reisegast aus der neuen Welt hätte ihm das auf den ersten Blick angesehn. Dieser Dampfer war ein paar Jahre nach dem Weltkrieg gebaut worden, und obschon es einzig und allein europäische Konstrukteure, Ingenieure, Navigatoren, Geschäftsleute und Diplomaten waren, die dieses Schiff geschaffen hatten, so war doch sein Geist, so war doch der Impuls, der sich in jeder seiner Linien ausdrückte, nicht europäisch, sondern amerikanisch. Meistens sind es Europäer, die diese Riesenschiffe bauen, aber ohne Amerika haben diese Riesenschiffe keinen Sinn, keine Bedeutung. Diese Schiffe sind geschaffen für das erhabenste, ekstatischste Erlebnis der modernen Welt, die Reise nach Amerika. Es gibt kein andres Erlebnis, das auch nur entfernt mit diesem verglichen werden könnte, das die Freudigkeit, das Jubelhafte, die herrliche Hoffnungstrunkenheit hätte, diese Zuversichtlichkeit, die gegen alle Vernunft und alles Wissen in einen Himmel fabulöser Überzeugung stürmt, ans Wunder glaubt und es beständig wahrwerden sieht.

In der weichen, ein wenig schlaffen Luft glüht das Schiff wie ein ungeheures, glänzendes Juwel. Alle Lichter brannten; sie brannten Reihe um Reihe schnurgerad über die dreihundert Meter Breitseite hin, sie brannten mit dem harten, kleinen Glitzern geschliffener Edelsteine; es war, als wäre die ungeheure, schwarze Klippenwand des Schiffsrumpfs mit Diamanten besät, und das erinnerte merkwürdigerweise an die glitzernden Hochhäuserklippen der fabulösen Weltstadt, die der Bestimmungsort dieses Schiffes war.

Und über dem Rumpf lagen im grellsten Licht die Verdecke. Der ungeheure Aufbau mit dem großartigen Bug, der von Drang und Schnellkraft prallen stolzen Brust; die Verdecke, stockwerkhaft übereinander, die Promenadendecke, breit wie Großstadtstraßen; die Fabelfülle und der Abwechslungsreichtum der Räume und Anlagen, die dem Reisepublikum offenstehn, als da sind Faulenzersäle, Unterhaltungssalons, Restaurants, Grillrooms, Cafés, Bars, Bibliotheken, Gymnastikhallen, Schreibzimmer, Tanzsäle, Schwimmbad; ferner die imperialen Suiten mit ihren breiten Betten, Privatdecks, Wohnkabinen, glanzvollen Badezimmern, – und das alles geformt, gefugt, gefügt, geführt, unter Fach gebracht in einem Fahrzeug, das stürmische Seen bestehen sollte, gegen die Ewigkeit und den Grauschwall des Atlantik gebäumt mit einer Geschwindigkeit von siebenundzwanzig Knoten die Stunde, – und das alles von den Gespenstern bewohnt, von den subtilen Parfümen von tausend schönen, luxuriösen Frauen getränkt, lebendig von der Erinnerung an das seidige Fließen ihrer langen Rückenlinien, die samtne Nacktheit ihrer Schultern, – und das alles, samt den großen, ungeheuer triebkräftigen Essen, deren vier Schlote nun scharf und dunkel gegen den Abendhimmel standen, das alles brannte mit einer heftigen, frohlockenden Lebendigkeit vor der weichen Melancholie dieser Küste.

Beim Anblick des Schiffs fuhr einem die Freude durch Mark und Bein. In seiner intensiven Realität wurde das Schiff fabulös, wurde es zu einem Besuch aus einer andern Welt, zu einem Monstrum an lebendiger Magie, zu einem Geschöpf, das vor dieser melancholischen Küste fremd war und fremd schien, denn es war so beschaffen, daß es in der harten, scharfen Luft eines jüngeren, fröhlicheren Landes glitzern sollte.

Es war auch so beschaffen, daß es an allen Küsten der Erde anlegen und an der Kimme des Erdballs mächtig seine Bahn ziehen sollte, gleichsam die Kontinente an sich heransaugend, Meer und Land verschlingend; es war so beschaffen, daß es unter europäischen Himmeln einfahren sollte wie ein Fremdling aus einer anderen Welt, fremd und fabulös brennend in der dumpfen, grauen europäischen Luft, pochend und glühend unter dem sanften, feuchten europäischen Himmel. Hier war dieser Dampfer bloß ein wunderbarer Fremdling, ein helles, juwelenartiges Ding, das entschieden, zweifellos, wundervollerweise bloß von einem einzigen Ort auf Erden gekommen sein, nur in diesem einen einzigen Ort vollauf erlebt und gewürdigt werden, nur an diesem einen einzigen Ort die ihm zugehörige, imperiale Fassung fanden konnte.

Und dieser Ort war Amerika, dieser Ort waren die Anfahrten der amerikanischen Küste, dieser Ort waren die Sichtweiten des amerikanischen Kontinents. Dieser Ort, endgültig und absolut gesagt, war der Bestimmungsort, zu dem dieses Schiff fuhr, der Fabelfels des Lebens, die stolze, von den Signalmasten ihrer Türme überragte Weltstadt, die gereckt mit dem Löwenmaul ihres Hafens in den Riesenrachen des Ozeans hineinsprang. Und als die Amerikaner auf dem pustenden kleinen Beiboot dieses Wahrzeichen an dem großen Dampfer sahen, da blickten sie ihn an und erkannten ihn sofort; sie verspürten etwas wie Unruh an ihren Lenden, und ihr Fleisch regte sich.

 

»Oh, schau!« rief plötzlich eine Frau und deutete auf das Schiff, dessen immense und glitzernde Breitseite nun über dem Beiboot aufragte. »Ist das nicht schön!? Gott, ist das aber groß! Meinst Du, daß wir überhaupt vor lauter Schiff noch den Ozean sehen können? Findest Du nicht?«

»Das erste, was ich finden möchte, ist mein Bett«, sagte die Begleiterin, und zwar sagte sie es in einem Ton, der verriet, daß sie schlaff und müde war. Sie war eine schlanke, sinnlich aussehende Jüdin; sie saß, die Beine schräg übereinandergeschlagen, auf einem Stapel von Koffern, rauchte eine Zigarette und musterte gleichgültig mit einem glimmenden, arroganten Blick die Passagiere auf dem Beiboot.

Die andre Frau konnte nicht stillhalten; ihr rosiges Gesicht glühte von der Aufregung der Reise, in nervöser Ungeduld schob sie ständig einen Ring an ihrem Finger auf und ab, mit kurzen, muntern Schritten ging sie um die aufgeschichteten Gepäckstapel herum.

»Oh, hier!« rief sie plötzlich ganz aufgeregt und deutete auf einen Handkoffer, der beinah unter einem Gepäckhaufen begraben war. »Oh, hier!« rief sie wieder, ganz allgemein ans Publikum gewandt. »Der da gehört mir! Wo nur die andern stecken?« Sie wandte sich in einer scharfen, protestierenden Stimme an einen der Gepäckträger, einen kleinen, muskulösen Mann mit sprossendem Schnauzbart. »Können Sie nicht mein anderes Gepäck finden?« fragte sie. Der Mann versicherte ihr in einem Sturzbach auf französisch, es wäre alles da. »Hey?« fragte sie, sich gewissermaßen beschwerend, und hielt die Hand ans Ohr. Dann wandte sie sich an ihre Begleiterin und begehrte auf:

»Ich bring's nicht fertig, daß diese Leute was für mich tun. Sie geben einfach nicht acht auf das, was ich sage. Ich kann meinen großen Koffer und zwei von meinen Handkoffern nicht finden. Das ist doch grauenhaft, nicht wahr? Meinst Du nicht auch? Hey?« Und wieder hielt sie die kleine Hand ans Ohr, denn sie war wohl etwas schwerhörig. Das kleine rosige Gesicht war dunkelrot vor Aufregung und Ernst; im Ton ihrer Stimme, in ihrem Gehaben, in ihrer Entrüstung war etwas unwiderstehlich Komisches. Und ihre Begleiterin fing plötzlich an zu lachen.

»Oh, Esther!« sagte sie. »Mein Gott!« Und dann hielt sie unvermittelt inne, so, als wäre sonst nichts zu sagen.

Esther war schön, Esther war blond, Esther hatte Taubenaugen.

 

Nun glühte das liebliche Gesicht dieser Frau so, als ob es aus einem selteneren, reicheren und leuchtenderen Stoff gemacht wäre, unter den Gesichtern der anderen Passagiere, die alle einmütig gespannt auf den großen Schiffsrumpf gerichtet waren, der nun, als das Beiboot im Kreisbogen anfuhr, immens und überwältigend aufragte.

Das große Schiff schlug sie alle mit seiner Zaubermacht in Bann; die meisten dieser Leute hatten viele Seereisen gemacht, und doch packte dieses große Schiff sie wieder mit seinem magischen Glühn, nahm es sie wieder in Beschlag und machte sie erschauern, als wären sie Kinder. Stumm und gespannt standen diese Reisenden, als das kleine Beiboot an dem großen Dampfer anlegte, sie standen da mit emporgereckten Gesichtern, und auf einen Augenblick war es befremdend und traurig, sie so zu sehen, mit dieser Einsamkeit und dieser Sehnsucht in den Augen. Ihre Gesichter waren kleine, emporgereckte, weiße Placken, glänzend wie ein Glimmergeleucht in der einfallenden Dunkelheit, und da war etwas Kleines, Nacktes, Einsames im Glimmern dieser Gesichter, und rings um sie war die unermeßliche Ewigkeit von Meer und Tod. Diese Menschen hörten die Zeit.

Denn, wenn es so ist, daß Menschen, die im Sterben liegen, aus der Dunkelheit, in die ihr Bewußtsein versinkt, einen Augenblick herausgreifen können, wenn es so ist, daß dann noch ein einziger Augenblick aus dem dunklen Geheimniswald lebt, dann mag es wohl das Andenken an einen solchen Augenblick wie diesen sein, der dann, obschon logischer Bedeutung entbehrend, auf einen Nu im sterbenden Gedächtnis aufbrennt, summarisch und als ein Symbol für das Los des Menschen auf Erden. Das verdämmernde Gedächtnis hat dann vergessen, was damals von den Passagieren gesagt wurde, die tausend Abtönungen und Verschattungen des erlebten Augenblicks sind ihm entfallen, aber getränkt vom fremden, braunen Licht der Zeit glüht das Bild wieder auf einen Nu auf mit gespannter Stille: – Dunkelheit ist herabgefallen auf die ewige Erde, das große ergrellte Schiff liegt wie ein Ungeheuer, das zu Besuch da ist, auf dem Wasser, und die Gesichter der Passagiere auf dem Zubringeboot sind wie Blüten emporgereckt in einer Art hingerissener und trauervoller Ekstase – diese Leute sind der Wanderschaft müd, sie sind in fremden Städten gewesen, wo man mit fremden Zungen spricht, wo ringsum fremde Gesichter sind, und sie haben nicht einmal ihre Fußspur in irgendeiner Stadt zurückgelassen.

Ihre Seelen sind nackt und allein, und sie sind Fremde auf der Erde, und viele unter ihnen sehnen sich nach einem Ort, wo die Wegmüden rasten können, wo die, die des Suchens müde sind, zu suchen aufhören können, wo Friede sein wird und ein stilles Dasein und kein Verlangen. Wo werden die Müden Frieden finden? An welchem Strand wird der Wanderer endlich zur Ruhe kommen? Wann wird das alles aufhören, – das blinde Tasten und Tappen, das falsche Verlangen, der fruchtlose Ehrgeiz, dem das erreichte Ziel sofort verächtlich wird, die eitlen Wettkämpfe mit Wahnmächten, die rasendmachende Not von Herz und Hirn in der Hast und der Grelle des Alltags, das staubaufwirbelnde Gedräng, die Schinderei, das Geschrei, die blödsinnige Wiederholung von Straßen, der keimtote Überfluß, die übelkeiterregende Fresserei, der Durst zum Weitertrinken?

Diese Reisenden sind aus einer Dunkelheit gekommen, um in eine andre aufgenommen zu werden, aber auf einen Augenblick sieht man ihre bangen, stillen Gesichter, die alle zum Schiff emporgereckt sind. Das ist alles. Ihre Worte sind verweht, die Bewegungen und Gebärden, die sie machten, sind dem Gedächtnis entfallen; man entsinnt sich nur ihrer Stummheit und ihrer stillen, ins phantomische Licht der verlornen Zeit emporgereckten Gesichter; man sieht sie immer still und stumm aus der Dunkelheit auf dem Strom der Zeit einhergleiten, man sieht sie warten an der Breitseite des großen Schiffs, alle schweigsam, alle zum Sterben verdammt, sieht ihre ernsten, weißen Gesichter, die einmütig emporgereckt sind zum Schiff und auf die schweigsame Reihe der Passagiere droben an Deck, die den Blick ihrerseits mit demselben ernsten, ruhigen Starren erwidern. Diese schweigsame Begegnung ist summarisch für alle Begegnungen im Leben der Menschen; in der Stille hört man den langsamen, traurigen Atemgang der Menschheit, man weiß um des Menschen Los.

 

»Oh, schau!« rief die Frau wieder. »Oh, sieh! Hat's je was Schönres gegeben?« Die aufsteilende, überhängende Klippenwand des großen Schiffs stand klar über ihr. Sie wandte die kleine behauchte Blüte ihres Gesichts und blickte den abgeschrägten Zug und Bug des großen Hecks entlang, und Musik erfüllte sie. Sie reckte die kleine, behauchte Blüte ihres Gesichts empor und sah die vielen Menschen, so klein, einsam, still und gespannt, die über die steile Brüstung des Schiffs gebeugt herunter auf das Beiboot sahen. Sie wandte sich und sah die Leute, die rings um sie herum waren, sah das flüchtige Gewebe und Durcheinanderschieben der Gestalten, und dann sah sie das Licht, das uralte Licht, das über der abendlichen Küste verwelkte, sah das verblassende Abendrot auf den stillen Wassern, hörte den unheimlichen Schrei einer Möwe. Und Verwundrung erfüllte sie, das fremde, sterbliche Schönheitsweh packte sie, und von des Herzens Not durchdrungen wollte sie das Unaussprechliche aussprechen, das Unfaßbare fassen, nehmen und auf immer festhalten, was vergangen war, sobald sie die Hand darnach ausstreckte und zugriff. –

»Oh, diese Leute da!« rief sie in einem hohen Stimmton. »Dieses Schiff ...! Mein Gott, die Dinge, die ich Dir alle sagen könnte!« rief sie aufgebracht. »Die Dinge, die ich weiß, die ich in mir habe! Da, da!« Eine kleine Hand zur Faust ballend, schlug sie sich auf die Brust. »Die Art, wie die Dinge sind, die Art, wie sie sich zutragen, und das Schöne daran und der klare Plan, – und kein Mensch fragt mich je danach!« rief sie empört. »Dieses wundervolle Ding geht die ganze Zeit in mir herum, – und niemand fragt mich je, wie sich das eigentlich zuträgt!« Sie stand da und sah ihre Begleiterin einen Augenblick lang anklägerisch an, eine kleine Gestalt von entrüsteter Lieblichkeit, dann wurde sie sofort gewahr, daß die Leute lächelten, daß ihre Begleiterin lachte, und ihr eignes Gesicht wurde nun plötzlich dunkelrot, sie warf den Kopf zurück, und von einem Sturmwind der Heiterkeit geschüttelt lachte sie ein volles, schallendes Lachen, ein Frauenlachen des gellenden Triumphs und der Lebensfreude.

Und doch, mitten im Lachen durchdrang das alte Verwundrungsweh sie wieder, bedrängte die alte Herzensnot sie wieder mit dem Verlangen des Unaussprechlichen, und sie sah die vielen Leute, so einsam, so stumm, so gespannt, sah das Schiff immens und plötzlich über sich im alten Abendlicht ragen, und nun – eingedenk des Wortes: »Kannst Du den Leviathan ziehen mit dem Hamen und seine Zunge mit einer Schnur fassen?« – blieb sie still vor Verwundrung.

Ach, fremd und schön, – dachte die Frau – wie kann ich diese unerträgliche Freude länger ertragen, die Musik dieses großen, unaussprechlichen Liedes, die Herzenspein dieser unvorstellbaren Herrlichkeit, die mein Leben bis zum Bersten füllt und mich nicht sprechen lassen will? Zu schwer, zu schwer ist's und nicht zum Aushalten, zu spüren, wie der große Weinstock mir im Herzen quillt, wie diese wilde, fremde Musik mir die Kehle schwellt, wie sieghaft dieses letzte vollkommene Lied ist, das mich so schmerzt, das mich immer zum Aussagen treibt, das immer ans Tor drängt, und das dennoch keine Zunge zu reden hat! O magischer Moment, so vollkommen, so ungewußt, so unvermeidlich, hier vor der großen Seite dieses Schiffs zu stehn, hier am erhabenen letzten Rand des Abends und der Heimkehr zu stehn mit dieser stillen Verwundrung im Herzen und bloß zu wissen, daß wir irgendwie, o Zeit, von Dir erfüllt sind! Und zu sehn, wie da droben über uns an der Brüstung, da an der Seite des großen Schiffes, alle diese Leute stehn, stumm, einsam und so schön, fremde Geschwister auf dieser Reise, zufällige Wahngestalten in der bittren Kürze unsrer Tage – und Du, o junger Mensch – (denn nun wurde sie seiner zum erstenmal ansichtig) –, der Du da angelehnt stehst allein und hager und geheimnisvoll an der Brüstung der Nacht, warum stehst Du so allein, während diese hier, Deine Gefährten, warten? ... Ach, geheimnisvoll und allein – dachte sie –, wie hager vor Hunger, wie heftig im Stolz, wie brennend von unmöglichem Verlangen er da an die Brüstung der Nacht gelehnt steht – und er ist wild und jung und töricht und verlassen, und seine Augen sind ausgedarbt, seine Seele ist ausgetrocknet vor Durst, sein Herz ist ganz verzehrt von einem Hunger, der nicht gestillt werden kann, und da lehnt er dort an der Brüstung und träumt große Träume und ist verrückt nach Liebe und dürstet nach Ruhm und ist so grausam im Irrtum ... und hat dabei so recht! Ach, sieh an – dachte sie –, wie dieses wilde Licht auf seiner Stirn flammt – wie hell, wie brennend, wie schön – oh, leidenschaftlich und stolz – wie sehr Du der wilden, verlorenen Seele der Jugend gleichst, wie sehr Du meinem wilden verlorenen Vater gleichst, der nicht zurückkehren wird!

 

Er wandte sich um und sah sie dann, und so fand er sie und war verloren, und so verlor er sich selber und ward gefunden, und so ihrer ansichtig sah er im schwindenden Nu nur das Bild der angenehmen Frau, die sie vielleicht war, die das Leben in ihr sah. Das wußte er nie; er wußte nur, daß ihn in diesem Augenblick das Messer der Liebe durchdrungen hatte. Von diesem Augenblick an sollte es so sein, daß er diese Frau nie letzthin wieder verlieren konnte, daß er nie vollauf die einsame, wilde Unverletzbarkeit der Jugend, die zuvor sein eigen gewesen war, wiederbesitzen sollte. In diesem Augenblick der Begegnung wurde die stolze Unverletzbarkeit der Jugend zerbrochen, so, daß sie nicht wiederherzustellen war. In diesem Augenblick der Begegnung drang diese Frau kraft einer dunklen Magie in sein Wesen ein, und eh er sich noch dessen bewußt ward, schwang sie ihm im Blut, um dann irgendwann – wie, das wußte er nicht – sich ihm ins Gewebe des Herzens zu stehlen und die einsame, unverletzbare Hausung seines Lebens zu bewohnen, und so wie der große Dieb Liebe sich in alle Geheimkammern seiner Seele zu stehlen und so ein Teil von all dem zu werden, was er tat und sagte und war, – und so mittels solcher Durchdringung alles Liebliche anzurühren, das er anrühre, und so durch diese sonderbare, feine Verstohlenheit ein Anteil zu haben an all dem, was er fühle oder schaffe oder träume, so sehr, daß es keine Schönheit mehr gäbe, an der sie nicht teilhätte, keine Musik, in der nicht ihr Wesen schwänge, keinen Schreck, keine Verrücktheit, keinen Haß, keine Seelenkrankheit und keinen unsäglichen Kummer, der nicht irgendwie mit dem einzigen Wahrbild und den millionenfachen Erscheinungsformen dieser Frau zusammenhinge, – und so auch keine endgültige Freiheit und kein durch unberechenbare Dreingabe von Blut und Qual und Verzweiflung erkauftes Entlassensein, das nicht auf immer auf der Stirn die tiefe Narbe, an den Gelenken die alten, entstellenden Ketten der Liebe trüge.

Nach all der blinden, gequälten Wanderschaft der Jugend sollte diese Frau seines Herzens Mitte, seines Lebens Ziel werden, das Wahrbild des unsterblichen Eins-seins, das ihn wieder zu seinem Eins-sein sammelte und die ganze gesammelte Leidenschaft, Kraft und Macht seines einen Lebens in die grelle Gewißheit, die unsterbliche Herrschaft und Einheit der Liebe warf.

»Setze mich wie ein Siegel auf Dein Herz und wie ein Siegel auf Deinen Arm. Denn Liebe ist stark wie der Tod, und ihr Eifer ist fest wie die Hölle. Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn.«

 

Und nun treten die Leute vom Beiboot durch die große Breitseite hinüber ins Schiff, die Gesichter (darunter das zarte Blütengesicht) gehen vorbei. Stolze, üppige Gesichter reicher Juden, von Wohlstand und Wohlleben geprägt, glühen in feinen, erhellten Kabinen; die Türen werden zugemacht, und das Schiff wird der Dunkelheit übergeben und dem Meer.


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