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XCIX

Anfang April kam Geld von zu Haus, und der junge Mensch fuhr wieder los. Diesmal war es ihm ernst mit Südfrankreich; er sauste in einem Luxuszug auf der Strecke Paris–Lyon–Méditerranée, er drückte sich fast die Nase platt an der Scheibe des Abteilfensters, er verschlang die Landschaft mit Augen von verzweifelt heftiger, unersättlicher Sehwut, mit Augen, die vor lauter Schaulust schon nicht mehr blinzeln konnten, und seine Mitreisenden betrachteten ihn neugierig und sahen einander dann verständnisinnig zwinkernd und lächelnd an.

Bewegung und Erlebnis der Bahnfahrt erfüllten ihn wie stets mit einem Gefühl von Triumph, Freude und herrlichem Behagen. Dieser Luxuszug mit seinen blanken Wagen, seinen üppig eingerichteten Abteilen, dem glänzenden Speisewagen, wo Wärme, Wein, gutes Essen, Daseinsfülle, verbindliche Bedienung waren ... ferner die Mitreisenden, die aussahen wie Leute, die mit solchen Zügen reisen, eben aussehen, nämlich nach Muße und Geld und der Weltsicherheit des Kosmopoliten ... das alles erweckte in ihm die Empfindung von namenlosen, ihm bevorstehenden Freuden, jene Wohllaune, die dem Eintreffen ganz unmöglicher Glücksverheißungen voraufgeht, jene Ahnung von Wohlstand und Erfolg, die ihm das Fahren auf der Bahn stets gab, selbst dann, wenn er nur ein paar Dollar in der Tasche hatte, ... und nun, in dem gepflegten Glanz dieses europäischen Expreßzugs, ward diese Stimmung unermeßlich verstärkt.

In einem solchen Zug mußte ihn in der Tat die gepackte Dichte des europäischen Kontinents durch ihre zaubrische Unmittelbarkeit ungemein erregen; was er auch ansah und spürte – mochten es nun die reichaussehenden, weltsicheren Männer, die verführerischen, lieblichen Frauen im Zug sein, oder mochte es die hingebreitete Landschaft vorm Fenster sein, die bis ins kleinste angebaut und durchgestaltet war mit ihrem schönen Muster aus Äckerrechtecken und ihren altertümlich angelegten Städten, Dörfern und Einzelhöfen, – eine Wesenheit, wie sie Jahrhunderte reich gemacht und gereift haben, beeindruckte ihn, blendete und beblickte ihn mit ihrer unendlichen Vielfalt und erweckte eine Vorstellung in ihm von einer Welt, die sich vorbehaltlos dem Vergnügen, der Liebe, dem Wohlleben hingibt, rief – kurzgesagt – das »Traum-Europa« des Amerikaners in ihm auf, das heißt jenen widerlichen Wahn von einem Dasein, in dem die Plackerei, die Pein, die Angst, die nagende Sorge und die aufreibende Wütigkeit des harschen amerikanischen Lebens fehlen.

In Lyon, auf halber Strecke, stieg er aus. Und wieder wußte er nicht, warum er ausstieg und diesen Abstecher machte; man hatte ihm gesagt, in Lyon wäre »nichts zu sehen«, aber schließlich war Lyon doch eine große Stadt; sein alter Hunger nach Städten hatte ihn bestimmt, die Fahrt zu unterbrechen; er wollte einen Tag bleiben und blieb eine Woche.

Später konnte er sich genau an vier Dinge erinnern, die ihn in jener großen Provinzstadt festhielten, und zwar waren das ein Fluß, zwei Speisehäuser und ein Mädchen. Der Fluß war die Rhone; sie kam von den Alpen herabgeschäumt, um sich hier bei Lyon mit der Saône zu treffen. Tag für Tag saß der junge Mensch auf einer Kaffeehausterrasse und sah sich den Fluß an, der hell und eisig, smaragdgrün, kalt und glänzend vorbeischäumte mit seiner ewigen Botschaft von den Alpen, dem Tauwasser der Kristallgletscher und der Kunde des kommenden Frühlings. Die ganze Kunde der Frühlingskunft war irgendwie in der kalten, funkelnden, unvergeßlich grünen Lieblichkeit dieses hellen Wassers zu lesen, und diese Kunde suchte den jungen Menschen heim wie etwas von je Gekanntes, wie etwas auf einmal Gefundenes, wie etwas, das er eines Tages entdecken würde.

Das Essen in der Stadt war unvergleichlich. Das war bodenständige Küche, da gab's Speisen, wie sie zur Gegend gehörten – schlicht, würzig, ländlich und erlesen gut –, und auf der ganzen Welt wird nirgends besser gekocht als in der großen Provinzstadt Lyon.

Dort gibt es zwei Gaststätten, wo die besten Köchinnen »Mutter« genannt werden, und sie heißen La Mère Guy und La Mère Filliou, und da gibt es ein Essen, das eines Königs würdig ist, und dabei geht es so recht und billig zu, daß sich's beinah jedermann leisten kann, dort zu mahlzeiten. Das Lokal der Mère Guy ist ein altes Haus mit verschieden großen alten Zimmern, die nun Gaststuben sind. Der Fußboden ist mit Sand bestreut; weiche Teppiche gibt's da nicht, halblautes Gemurmel feiner Säuselstimmen gibt's da nicht, und da gibt's auch kein dünnes Tinketinke klingender Gläser und überhaupt nichts von jenem verbindlichen mondänen Luxus, den man in großen Pariser Restaurants findet. Bei der Mère Guy kommst Du in ein Wirtshaus, das nicht wegen der Touristen betrieben wird, Lyon nämlich ist keine Stadt mit Fremdenindustrie, – und überhaupt: hast Du je von einem Vergnügungsreisenden gehört, der bei der Mère Guy gespeist hätte? Wenn Du zur Mère Guy oder zur Mère Filliou gehst, dann kommst Du in Wirtshäuser für Einheimische, und da ist alles auf den einheimischen Geschmack eingestellt, und die Einheimischen sind's, die Du dort in ihrem derbwüchsigen, gradsinnigen Futterernst antriffst. Bei Mutter Filliou sitzt Du etwas mehr draußen im Freien als bei Mutter Guy; Mutter Fillious Haus ist nämlich drüben über dem grünen Alpenstrom, ein wenig abgelegen von der Binnenstadt, die auf der von Rhone und Saône beinah inselhaft umzogenen Landzunge steht. Bei Mutter Filliou kannst Du zwar im Haus sitzen, aber wenn's das Wetter erlaubt, essen die meisten Leute draußen auf der Terrasse. Bei der Mère Filliou hast Du mehr Sonne, mehr frische Luft, bist Du im heitereren von den beiden Lokalen, aber die Stuben bei der Mère Guy sind dafür bequemer, anheimelnder, und Du sitzt dort nicht vor aller Öffentlichkeit. Aber in welches Wirtshaus Du auch gehst, in beiden sind immer fast alle Tische besetzt von gediegen aussehenden Stadtbürgern und Stadtbürgerinnen, Leuten, denen das blutvolle Leben auf dem Gesicht geschrieben steht, die laute, volle Stimmen haben, die sich die Serviette unterm Kinn einstecken, eh sie herzhaft an die Arbeit gehn.

Das Essen – meist ißt man Huhn, Beefsteak, Flußfische – ist unübertrefflich gut zubereitet. Ein Poulet, das Du bei der Mère Guy oder der Mère Filliou gegessen hast, wirst Du Dein Lebtag nicht vergessen. Das sind fette, zarte Bauernhühner, frisch aus den Dörfern, die in der lieblichen Umgegend von Lyon liegen, und zubereitet sind sie so rösch und schmackhaft, daß Dir der Bissen beinah im Mund zergeht. Die Beefsteaks sind dick, saftig und zart, – überhaupt, das ist einfache Küche, aber alles hat die echt ländliche Würze und Kraft; die Lyoneser lieben scharfe, deftige Beispeisen, und so kannst Du dort zum Beispiel ganze, in Salz eingepickelte Zwiebeln essen. Diese Leute trinken nur einen Wein, und das ist Beaujolais, ein echter, rechter, großer Wein, und dort in der Stadt ist er billiger als Mineralwasser, und anscheinend hat ihn die Natur gerade so gedeihen lassen, daß man mit ihm am besten gerade die Gerichte herunterwaschen kann, die die Leute in Lyon essen.

Auf der anderen Seite von Lyon, auf jener Seite also, die von der Binnenstadt durch die Saône getrennt ist, da liegt auf einer steilen Anhöhe die berühmte Wallfahrtskirche von Notre Dame de Fourvière. Und dort, an einem Tag, als die Pilger in Reihen herzutraten, um die Reliquien zu sehn und zu ihrem Heiligen zu flehen, während ein paar Mönche eine volltönige Litanei sangen, die im hochgewölbten Raum widerhallte, dort sah der junge Mensch ein Mädchen, das er nicht vergessen konnte. Da war ein Gang zwischen den Bankreihen, und das Mädchen setzte sich ans Ende einer Bank, so, daß es von dem jungen Mann nur durch den Gang getrennt war. Das Mädchen setzte sich, sah den jungen Mann an, lächelte verschlafen. Das Mädchen war klein und rundlich, es hatte eine verführerische Gestalt, es hob den Kopf und schien der Litanei der Mönche verschlafen zu lauschen, und der junge Mensch sah, wie im Hals des Mädchens warm und langsam die Schlagader pochte, langsam, langsam, üppig und warm pochte. Das Mädchen sah ihn mit vollem Blick an, seine Augen waren grau und rauchig und hatten eine katzenhafte Kraft des Blicks, und das Mädchen lächelte verschlafen und schlug langsam die Beine übereinander, und da war etwas wie ein träges, sinnlich glattes Gleiten von warmer Seide. Und die ganze Zeit pochte der Puls langsam, üppig, mit einer verschlafenen Wärme von rasendmachendem und heißem Verlangen ... – Und das war das letzte von den vier Dingen, die der junge Mensch in Lyon erlebte, an die er sich erinnerte, die er nicht vergessen konnte.

Ein blanker Strom, smaragdgrün und zaubrisch mit den Ahnungen von Alpen, Frühling und gekannter, unentdeckter Schönheit; die edle Kochkunst der Mère Guy und der Mère Filliou; die Schlagader am Hals eines unbekannten Mädchens, ein langsames Pochen, ein warmes Pulsieren, das die Erfüllung der Lust versprach, – dies war alles, was später von einer Stadt von mehr als sechshunderttausend Menschen und Gesichtern klar und fest blieb.

Der Rest war Rauch und Schweigen – hie und da ein paar Gesichter, ein Schema von Straßen, ein ungeheurer Platz, eine von einer Wallfahrtskirche gekrönte Anhöhe, ein Priester mit einem breitkrempigen Hut, einem Schlitzmaul und Luchsaugen, ein paar Museumssehenswürdigkeiten aus den Tagen der alten Gallier – und all dies fluchthaft, zerrissen, verweht wie Rauch.

... Smaragdstrom und blankes Licht; mancherlei Herrliches zu essen und zu trinken; das Pulspochen an einem warmen Mädchenhals; – das sollte bleiben. Rauch! Rauch! Ist's je einem Menschen anders gegangen?

Und wieder sauste er weiter im Zug. Südwärts.


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