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XCI

Die volle Dunkelheit war hereingebrochen – die winterliche Dunkelheit eines graufeuchten Februartages –, eh der junge Mann in Orléans ankam. Der Zug gehörte zu der Sorte, die man in Frankreich ›omnibus‹ nennt, war so ein trübseliges Lokalbähnchen, das nur Wagen dritter Klasse führt und an jedem Dorfbahnhof hält. Als der Zug in die Umgegend von Orléans kam, fiel es auf, daß mehr und mehr Leute zustiegen; an jeder Haltestelle lärmte es von Ankunft und Abreise. Die Leute sahen meist bäuerlich aus, ihre Schuhe waren schmutzig; sie stiegen ein und aus, schmissen die Wagentüren zu, daß es knallte, redeten laut durcheinander mit der gesunden Erregbarkeit robuster, gesprächiger Menschen.

Das waren herzhafte Leute, und sie schienen alle einander zu kennen, wenn auch nicht namentlich, so doch mit der sogar noch vollkommeneren Vertrautheit von Menschen, die die Zugehörigkeit zu einer Rasse, einer Art, einer Gegend verbindet. Sooft der Zug an einem der trüberleuchteten Kleinbahnhöfe jäh anhielt, konnte man sie zum Gruß und zum Abschied rufen hören, konnte man sehen, wie draußen ein paar von diesen Gestalten düsterbeleuchtet auf einer schmutzigen Straße auf ein kleines Nest zugingen, das da äußerst vertraut, schlechthin vertraut, trübselig vertraut in der märzlichen Gegend lag. Diese unvermittelten, plötzlichen Haltepausen machten, daß einem diese Art zu reisen fast so selbstverständlich und beiläufig vorkam wie eine Trambahnfahrt. Das Bähnlein rumpelte an einen Bahnhof heran und hielt, die Leute stapften aus und ein und schmissen die Türen zu unter vielen Rufen, Schreien, Gruß- und Abschiedsworten, dann ertönte der schrille, kleine Trillerpfeifenpfiff, und die Fahrt ging weiter durch die winterliche, verregnete Landschaft.

Die Lichter in den Abteilen brannten trüb und matt und warfen Flackerschatten auf die Gesichter der Fahrgäste. Irgendwo im Zug, in einem anderen Abteil, hatte sich eine lautvergnügte Gesellschaft von Soldaten und Bauernvolk zusammengefunden. Insbesondere war es ein Mann, der den ganzen Zug mit seinem herzhaft-munteren Wesen, mit seiner geschöpflich derben, hochgemuten Frohlaune beherrschte. Aus der vollen Stimme dieses Mannes klang ganz unbeschreiblich die hohe, sanguinische Vitalität des Franzosen. Dem Ausländer klang diese Stimme ganz unnachahmlich fremd im Akzent, im Timbre und in der Tonlage, und gleichzeitig doch so vertraut wie alles Leben, alles Lebendige. Diese Stimme war prall vom Saft des Lebens, diese Stimme war wie ein vollmundiger, schwerer und guter Wein.

Diese Stimme, da und dann im Flackerschatten in dem kleinen Eisenbahnzug gehört, in all ihrer erdhaft-vollblütigen Eindringlichkeit gehört in den Haltepausen an den Kleinbahnhöfen, diese Stimme sollte zu einer sonderbaren Heimsuchung für den jungen Mann werden. Ihm sollten Ton und Vollklang dieser Stimme in der Folgezeit tausendmal wieder im Ohr hallen, im Gedächtnis dröhnen mit jenem heimsucherisch-seltsamen, wunderbaren Widerhall, mit dem erlebte ›Kleinigkeiten‹ im Gemüt nachschwingen – Kleinigkeiten, wie ein hinter einer Fensterscheibe erhaschtes Gesicht, ein ins Dunkel gestürzter Wortlaut, das Gezettel eines Blattes an einem Zweig im Wind – jene Kleinigkeiten, die aus dem ganzen, unbändig-heftigen Wirrwarr der Tage wiederzukommen pflegen, die so merkwürdig, so lebhaft, so unerklärlich überdauern, wenn die aufregenden und ›wichtigen‹ Ereignisse längst vergessen sind oder verdämmern.

So hörte der junge Mann nun die vergnügte Stimme dieses Franzosen, den er nicht sah, er hörte die gutmütig-spöttischen Bemerkungen, in denen sich diese Stimme laut erging über Art, Brauch, Aussehn und Einwohner jedes kleinen Nests, an dem der Zug hielt, er hörte auch die gleichartigen Antworten, die dieser Stimme von Leuten auf dem Bahnsteig erteilt wurden, und das brachte ihm augenblicklich eine Kleinstadt in den Südstaaten ins Gedächtnis, an der er genau um diese Tageszeit wohl ein dutzendmal vorbeigefahren war. Creasman hieß jene Kleinstadt, und in Creasman war eine kleine ›sectarian school‹, das Creasman College, und bei den Studenten der Staatsuniversität, die auf ihren Hin- und Rückreisen in den Ferien scharenweis im Zug fuhren, war es zum Brauch geworden, am Bahnhof Creasman vom offnen Wagenfenster aus mit all der höhnischen Hoffart der Jugend zu brüllen: »Hoihoh! Ihr Mädchen! Creasman College!« Und dieser Anwurf auf den Sektengeist in Creasman wurde dann gewöhnlich mit Hohnreden und witzigen Zurufen beantwortet von Studenten und An- und Umwohnern der Stadt Creasman, die stets in Menge auf dem Bahnhof standen, um ›den Zug durchfahren‹ zu sehen.

In den Anwürfen und Hohnreden des Franzosen und in den Antworten, die er von den Leuten auf den Bahnhöfen bekam, und überhaupt in der Art, wie diese lärmenden, angeregneten, mit Straßenkot bespritzten, durcheinanderredenden, sich lebhaft gebärdenden Menschen beim Ein- und Aussteigen auf jeder Haltestelle des Zugs miteinander verkehrten, in all dem war trotz der offenbaren örtlichen Unterschiede eigentlich dasselbe Wesen, das der junge Mann in seiner Heimat erlebt hatte, wenn der Zug mit den Studenten in jener Kleinstadt dort in den Südstaaten, auf der weiten, rohen Vorgebirgsebene des Piedmont, hielt.

Die Stimme dieses Franzosen hatte außerdem noch eine Eigenschaft. Sie, die mit ihrer Tonfülle, ihrer Klangbeschaffenheit, ihrer Lautung das Ohr des Hergereisten einerseits so wirklich, so lebendig, so vertraut bedräng, ihm andrerseits jedoch so beunruhigend, so fremd, so unheimatlich blieb, sie war getränkt von der ganzen Wärme und der ganzen Seinshaftigkeit gelebter Jahrhunderte, in ihr webte und schwebte und schwang die Vergangenheit von Alteuropa, von Altfrankreich, und sie rückte dem Hörer diese Vergangenheit auf eine Weise in die Vorstellung, wie es die Bücher der Geschichtsschreiber nie zu tun vermochten.

Auf ganz die gleiche Weise hatte der junge Mensch vor langer Zeit die Entdeckung gemacht, daß ein bestimmter Ton oder Klangschatten in der Stimme seiner Mutter oder seines Vaters an die verlorne Vergangenheit Amerikas rührte und sie augenblicklich ins Leben zurückbrachte, – und zwar war es jenes Stück Vergangenheit, in der der Bürgerkrieg gespielt hatte, in die die seltsam geheimnisvollen Präsidentschaftszeiten der Garfield, Arthur, Harrison und Hayes gefallen waren, eine Epoche, die den meisten Amerikanern zeitlich weiter zurückzuliegen und fremder scheint als die Kreuzzüge.

Zum Beispiel hatte er nie eine lebendige Vorstellung vom Bürgerkrieg gehabt, bis er eines Tages seine Mutter etwas aus jener Zeit erzählen hörte. Bis dahin waren alle seine Versuche, diese verlorne Zeit aus den Büchern wiederzugewinnen, vergeblich geblieben: – die Männer, die Schlachten, die Generale, das Leben der Bürger von damals, das alles hatte sich ihm nur in einer Welt legendarischer Unwirklichkeit erstellt, in einer Welt, die von der Welt, in der er lebte, so getrennt und verschieden war, als hätten sich die Geschehnisse auf einem andern Planeten ereignet. Und dann hatte eines Tags seine Mutter davon gesprochen. Sie war erst fünf Jahre alt gewesen, als der Bürgerkrieg endete. Sie erzählte, wie auf einer Landstraße ihrer Heimat Truppen aus dem Kriege heimgekehrt waren. Sie erzählte, wie der Staub aufwirbelte, als die marschmüden, zerlumpten Männer ankamen, wie sie auf den Schultern ihres Vaters saß, als die Truppen vorbeizogen, wie alle ihre Freunde und Verwandten und Bekannten dabeistanden, und dann, wie ein Vetter von ihr zurückkam, – ausgehungert, zerlumpt, einen Zylinder auf dem Kopf, barfuß, – und wie die Frauen weinen mußten, als sie den Burschen wiedersahen, und wie der Bursch ein paar Spaßworte, ein paar herzhafte Grußworte gesagt hatte, als er zu seinen Angehörigen trat.

Nun hörte der junge Mann den Franzosen sprechen, den er gar nicht sah, er hörte die vollen, reichen Töne dieser Stimme, die ihm gleichviel fremd und vertraut klang, und das ganze altfranzösische Leben – Frankreichs Kriegs- und Friedenschronik, das glänzende und unzerstörbare Gewebe der französischen Art und der französischen Seinskraft, wie es so viele Jahrhunderte mit Siegen und Niederlagen, mit Triumphen und Katastrophen gewoben haben – das alles begann, in ihm mit einer solch vertrauten Wärme zu leben und zu pochen, daß ihm schien, dies alles läge von seinen Ursprüngen an reich verdichtet und sanguinisch geläutert in den Energien, die in der Stimme dieses einen Franzosen steckten.

Die Hohnreden dieses Mannes, gleichsam im Zorn gemachte, mutwillig spaßhafte Herausforderungen auf Hieb und Stich, die sich aus einer augenblicklichen Bereitschaft heraus gegen alle Neuankommenden richteten, geschöpfliche Kraftäußerungen, wie sie beinah einer nationaleignen Trunkenheit gleichkamen, waren stets und ständig mit dem Ausruf »Parbleu!« durchsetzt. Dem jungen Ausländer schien es, als wäre mehr als alles andre gerade dieses alte, so tonfrisch, saftig und herzhaft heiter vorgebrachte »Parbleu!«, was den Franzosen mit der fernen Vergangenheit seiner Nation verbände, mit Millionen von vergessenen und begrabenen Leben, mit einem Gewesenen und Gewordenen, das nun durch ihn im Nu wieder Wärme und Leuchtkraft gewänne.

Was dieser Mann sagte, war anzüglich und liederlich, hatte die unverblümte, erdig-grobe Derbheit, mit der gesunde Menschen bäuerlichen Schlags dergleichen Dinge ausdrücken. Er verkündete seine patzigen Dreistheiten ganz ohne Ziererei und Getu, er redete laut genug, daß ihn jedermann hören konnte, und alles, was er sagte, wurde allgemein mit sinnenfrohem, brüllendem und quietschendem Lachen aufgenommen, und das sagte, daß die Leute, die bei ihm im Abteil saßen – Soldaten, Landvolk, stramme Bauernweiber – keine zimperlichen Zuhörer waren.

Das Hauptziel für die witzigen Anwürfe, das Ziel, das der schnurrig-robuste Kerl sich mit unverdrossener Hartnäckigkeit immer wieder aussuchte, war der Stationsvorsteher, jener Unglückselige, dessen Beruf aus irgendeinem Grunde in Frankreich als ungeheuer heiterkeitserregend gilt. Nun war es so, daß der Witzbold auf jeder Station unter schallendem Gelächter vor aller Welt seine Späße über das gunstlose Los des Bahnhofsvorstehers zum besten gab. Insbesondere sang jener ein paar Verse aus einem kleinen, frechen Liedchen –»Il est cocu le chef de gare« –, das ergreifenderweise von den Daseinsschwierigkeiten des Stationsvorsteherlebens handelte, von der Hahnreischaft, der der Beamte berufshalber ausgesetzt ist, von der Führung der Ehegattin zu Haus während der Zeit, in der der Mann als Fahrdienstleiter auf dem Bahnhof steht. Der Witzbold pflegte dieses Bänkelliedchen mit gewissen, spitzen Anspielungen auszuzieren, die auf den Stationsvorsteher der jeweiligen Haltestelle abzielten, Bemerkungen, die sich hauptsächlich darum drehten, was die Gattin dieses bestimmten Stationsvorstehers vermutlich gerade in diesem Augenblick täte.

Die Antworten auf diese unverschämte Neckerei bestanden manchmal einfach aus Flüchen und wüsten Verwünschungen, manchmal jedoch waren sie herzhaft-scherzhaft und kamen von Stationsvorstehern, die dem Witzbold schlag- und zungenfertig und ebenso rauh draufgaben; aber wie die Erwiderungen auch sein mochten, der Lustigmacher in seiner unerschöpflichen Laune hatte stets eine Widererwiderung bereit.

»Du sprichst wohl aus eigner Erfahrung?« gellte so ein Bahnmeister ironisch zurück. »Deine Alte macht's wohl so, wenn Du von zu Haus weg bist, gelt?«

»Parbleu! Oui!« brüllte der Spaßvogel vergnügt zurück. »Warum nicht? Ein bißchen Extrapfeffer macht das Fleisch um so schmackhafter!«

Dieser Einfall wurde von ergötzten Bauernweibern mit kreischendem Beifallsgelächter belohnt, und der also ermutigte Witzbold fuhr fort:

»Parbleu! Glaubst Du, ich gönn's dem alten Mädchen nicht, nachdem ich selbst mehr als genug habe. Ah, le diable, non, mon ami! Ein Knauser bin ich nicht! Und meine Alte ist so kein zimperlicher Kanarienvogel, daß sie dran stirbt, wenn 'n Mann mal bei ihr nachguckt! Ah le diable, non, mon vieux! Die ist gut gestellt, gesund und solid wie 'n Ochs, und da ist noch viel dran, wo die letzte Lieferung herkam!«

Auf diese zartsinnige Bemerkung hin erscholl brüllendes Lachen und gahlerndes Weibergekreisch aus dem Zug, und als sich der Aufruhr ein wenig gelegt hatte, hörte man, wie der Bahnmeister ironisch zurückgellte:

»Fein! Wenn da genug für jedermann ist, dann komm ich mal und hol' mir mein Teil!«

»Parbleu! Warum nicht?« erwiderte die hohe, sanguinische Stimme sofort hierauf. »Was dem einen recht ist, ist dem andern billig, sagt's Sprichwort. Ich hab' ja auch bei so mancher Bahnmeistershenne den Hahn gemacht – –«

Brüllendes Gelächter.

»– – und da wäre ich der Letzte, der 'nem Bahnmeister nichts gönnt!«

Bei diesem triumphanten Abschluß hatte sich das Züglein in Bewegung gesetzt, und das Gerumpel war begleitet von schallendem, schwallhaftem Lachen, würzigen Witzen, frechen und höhnischen Spottreden, und über alles hinweg hörte man immer die dominante Stimme jenes Franzosen, der sein volles, helles, kraftpralles »Parbleu! Oui! Warum nicht?« rief.

Auf einer kleinen Station kurz vor Orléans stieg der Mann aus, umlärmt von deftigen Scherzen, Spaßen, nachgegellten Spottworten. Er ging am Zug entlang den Bahnsteig hinunter, und auf alles, was ihm zu- und nachgerufen wurde, antwortete er augenblicklich in seinem quicklebendigen, dreisten, groben Humor, dessen Aufwallungen lusthaft waren wie der Rausch, der von einem gesunden, schweren Wein kommt.

Der junge Mensch sah jenen Mann auf einen Augenblick, als dieser draußen vor dem Abteilfenster vorüberging. Der Franzose war ein starker, stämmiger Bulle von einem Kerl. Er trug Gamaschen. Er hatte ein schweres, üppiges Gesicht von gesunder, dunkelblauroter Farbe, einen braunen Schnurrbart, blaue Augen. Aber selbst als der Mann schon außer Sicht war, konnte der junge Ausländer ihn noch immer hören, wie er andern Leuten auf seine dreiste, schlagfertige Art etwas zurief oder etwas erwiderte, – die sanguinische Vitalität in diesem »Parbleu!«, ein Ton, eine Stimme, ein Wort, das die Vergangenheit Frankreichs, das ganze Lebensgewebe aus Erde und Blut, herbeschworen hatte und das in zukünftigen Jahren die Erinnerung an diese Reise wiederaufrufen sollte samt all den Gesichtern, den Stimmen und dem Wesen der Mitreisenden, und zwar so, wie es sonst nichts vermochte.

 

Auf einer der kleinen Stationen in der Nähe von Orléans machte ein Mädchen die Wagentür auf und kam ins Abteil hereingestiegen. Zwar war da drinnen bereits alles besetzt, aber die Leute – mit der gutmütig-rauhen Umgängigkeit, die dem Landvolk jener Gegend eignet – rückten noch dichter zusammen auf der Holzbank und sagten dem Mädchen, es solle sich dazwischenkeilen.

Das Mädchen saß dem jungen Mann gegenüber; einen Marktkorb, den es bei sich hatte, stellte es sich auf die Knie. Es war einfach, aber sauber gekleidet, ein anmutiges und verführerisches Mädchen, dessen schlanke Gestalt vom sinnlichen Verlangen bereits gereift war. Es trug einen blauen, breitrandigen Hut, der das Gesicht beschattete, und aus dem beschatteten Gesicht blickten Augen von einer leuchtenden, beunruhigenden, rätselhaften Klarheit. Das Mädchen sprach kein Wort, es saß einfach da und hörte die rüden Lustigkeiten der bäuerlichen Leute im Abteil und das dreiste Geschrei und das gellende und brüllende Gelächter, das aus dem Nachbarwagen kam.

Die ganze Zeit sah das Mädchen den jungen Mann unverwandt an, und eine leise Spur von einem zärtlichen, rätselhaften Lächeln lag auf dem holden Gesicht. Dem jungen Mann schien es sicher, daß das Mädchen ihn nicht abfahren ließe, wenn er es anspräche. Das Gefühl einer unmöglich guten Gunst, einer vagen und unaussäglichen Glückseligkeit, die in der fremden, unbekannten Stadt auf ihn warte, kam wieder. Das träge, glosende Verlangen begann in ihm zu pochen, pulsierte ihm durch die Adern. Er spürte die Gewißheit, daß das Mädchen ihn nicht abfahren ließe, wenn er es anspräche. Und doch sprach er es nicht an.

Alsbald fuhr der kleine Zug puffend in Orléans ein, alles stieg aus, und die Leute strömten am Zug entlang in den Bahnhof. Der junge Mann hob den Korb des Mädchens aus dem Abteil und war dem Mädchen beim Aussteigen behilflich, und dann stand er da, die alte, bestürzte Unentschlossenheit im Herzen, und sah dem Mädchen nach, das mit zierlichem, langsamem, sinnlich-anmutigem Schritt davonging, und jede Bewegung, die das Mädchen machte, schien dem jungen Mann zu bedeuten, daß es ungern von ihm wegginge, daß es ihn mitzukommen einlüde. Und er sah ihm benommen nach, und das heiße Verlangen hämmerte und dröhnte in ihm träge und schwer durchs Blut. Und er sagte sich, daß er dem Mädchen gewiß wieder begegnen würde, aber das hatte er sich in solchen Fällen zuvor schon oftmals gesagt, und in seinem Herzen wußte er, er würde dieses Mädchen nie wiedersehen.

Das Mädchen war bereits im Menschengewühl auf dem Bahnhof verschwunden, wieder verschlungen ins immerdardauernde Geweb und Weben dieser großen Erde, und es beließ den jungen Mann mit dem Eingedenken an eine dieser kurzen und endgültigen Begegnungen, einem dieser Eingedenken, die so voller Schärfe sind im wortlosen Weh des Verlusts und des Bedauerns, einem dieser Eingedenken, in denen vielleicht mehr noch als in den großartigeren, längeren Begegnungen unsres Lebens des Menschen bittres Los, die schicksälige Kürze seiner Tage, erscheint.

Und der junge Mann fand sich wieder auf dem Bahnsteig, wo er aufs Stationsgebäude zuging, hinter scheidenden Menschen her, die er nur so kurze Zeit gekannt und nun auf immerdar verloren hatte, und wieder suchte er nach dem geheimnisvollen Gelöbnis von neuem Land, neuer Erde und einer strahlenden Stadt, und wieder war er an einem fremden Ort angekommen, ohne zu wissen warum.

Warum hier?


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