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II

Die Reise von dem Gebirgsstädtchen Altamont nach der Weltstadt New York, deren Turmhäuser wie Mäste auf dem Felseiland Manhattan schwanken, dauert für amerikanische Verhältnisse nicht lange. Die Entfernung beträgt etwas mehr als siebenhundert Meilen, das sind rund elfhundert Kilometer, und für diese Strecke braucht der Zug zwanzig Stunden und ein paar Minuten. Aber die Eigenschaften von Zeit und Raum sind so relativ, und die flüchtigen, von Zeit und Raum bewirkten Eindrücke werden so vielfältig faßbar, daß ein Mensch auf dieser Reise ein ganzes Leben leben kann. Er kann ein ganzes Leben leben, und an zehn Millionen anderer Leben kann er in Augenblicken teilnehmen, und die endlose Gesamtflucht jener Bilder, die die Geschichte einer Nation darstellen, kann er beobachtend an sich vorüberziehen lassen.

Zunächst einmal bieten schon Übergang und Wechsel der Umwelt dem Reisenden Seltsames und Wunderbares genug. Er steigt nachmittags in den Zug und erlebt es mit ungläubigem Staunen, daß das vertraute Gesicht seiner Heimatgegend aus seinen festumfassenden Scheideblicken entschwindet. Im Laufe des Nachmittags ringt sich der Zug, Kurve um Kurve, durchs Gebirge und schleppt sich über Pässe. Allenthalben ragen die Berge auf, mächtige Erhebungen in der Bräune und den Schmelzgluten der Herbstfärbung. Die Gipfel, einsam und wild, freudig und verwegen, werden bereits von den Vorahnungen des Winters heimgesucht. Die Talstürze mit Klammen, Klüften und Felsrinnen schießen jäh und mit schreckhafter, schwindelerregender Steile ab. Und der Zug, die ungeheure, zählebige Schlange, windet sich langsam und mühselig über Steigung und Gefälle dahin. Diese ausgesprochen mühselige Langsamkeit des Zugs und die eindrucksvolle Stummheit und Nähe der wunderbaren Berge wirken zusammen; gemeinsam bewegen sie das Gemüt des Reisenden auf eine unerklärliche Art, und er hat Empfindungen, wie sie jedermann vertraut sind, Empfindungen des scharfandringenden Schmerzes und der wilden Lust zugleich, des bekümmerten Abschiedswehs und der sieghaften Ankunftsfreude.

Der Zug schafft sich bergan, er biegt um eine Kurve, hart und metallisch klingen die kurzen Puffstöße aus dem niedern Schornstein der Lokomotive gegen das Gefäll des Felseinschnitts. Der Reisende blickt aus dem Fenster, er sieht wie Einschnitt und Abschrägung langsam vorbeiziehen; der alte Fels glänzt feucht vom Leckwasser eines begrabenen Bergquells; der Zug fährt langsam über die Überführung einer Schlucht; tief drunten sieht und hört der Reisende das felshelle Bergwasser schäumen und tosen; neben dem Gleis steht vor seiner Bahnwärterhütte ein Weichensteller und betrachtet den Zug mit dem langsamen, verwunderten Blick, der den Bergbewohnern eigen ist. Die kleine Hütte, in der der Mann wohnt, steht hart und gefährdet am Rand der abschüssigen Steile. Schlampig, das Haar glatt über den Kopf zu einem wirren Wuschel zurückgebunden, einen Schnupfstecken im Mund, ein schmutziges Kindchen auf dem Arm, steht die Frau des Bahnwärters in der Tür der Hütte; sie hat denselben hageren, harten, langsam-verwunderten Blick wie ihr Mann.

Das alles ist so nah, fern, furchtbar, schön und wirkt so unmittelbar vertraulich, daß es dem Reisenden zumute ist, als hätte er diese Bahnwärtersleute von jeher gekannt, als müsse er ihnen nun durchs Fenster des üppig-bequemen Pullmanwagens die Hand zustrecken und mit ihnen reden. Es ist ihm, als wäre – wieso weiß er nicht – das ganze bittre und wunderbare Geheimnis des Lebens in diesem Augenblick aus Gruß und Lebewohl beschlossen. Einmal hat er dies gesehen, und im Augenblick des Sehens wurde es ihm entrückt, und es gehört ihm nun auf immerdar, und er kann es niemals vergessen. Der Zug fährt an diesen Gesichtern vorbei, der Zug fährt weiter, und im Herzen des Reisenden bleibt etwas Unsägliches zurück.

Schließlich hat der Zug die letzte Steigung überwunden, auf den glänzenden Serpentinenbogen der Gleisspur ist er bergab gefahren und hat mit dem einbrechenden Abend die Ebene erreicht. Die Sonne, ein ungeheurer orange- und pollenfarbener Ball, geht unter. Die taumelnden Bergketten, in ein überrauchtes, zaubrisches Purpurrot getaucht, verdämmern. Die Nacht kommt, die großsternige, sammetbrüstige Nacht. Und nun rollt der Zug mit gleichmäßigem Rhythmenstoß durch das breit aufgerollte Flachland des Staates Catawba.

Gegen neun Uhr kommt eine Pause: Rangieren und Lokomotivenwechsel an einem Eisenbahnknotenpunkt. Der Reisende, erregt und erwartungsvoll, von seiner inneren Unrast getrieben, steigt aus. Er geht auf dem Bahnsteig auf und ab, geht in den Wartesaal, geht hinaus auf die Straße. Er tut das, um sich Zigaretten und ein belegtes Brot zu kaufen, es ist ihm aber völlig bewußt, daß er es in Wirklichkeit tut, um auf einen Augenblick mit einer andern Stadt in Berührung zu kommen. Er betrachtet sich die riesenhaften Lokomotiven auf den Rangiergleisen, er sieht die Heizer und Lokomotivführer, die im Dampf und Rauch und im Widerschein des Feuers an der Maschine zu tun haben, er sieht die gefurchten, berußten, einsamen Gesichter dieser Männer – und ein paar Minuten später fährt er wieder über das kunstlos-rohe, geheimnisträchtige Gesicht der mächtigen, dunklen Erde, der einsamen Erde des alten Catawba.

Um Mitternacht hält der Zug wieder, diesmal an einer größeren Stadt, der letzten Station in Catawba. Und wieder, von denselben Gefühlen bestimmt, von denselben Regungen getrieben, steigt der Reisende aus, geht auf dem Bahnsteig auf und ab, betrachtet die Lokomotive, geht in den Bahnhof. Er sieht allen Leuten, die vorübergehn, ins Gesicht. Jedesmal ist es Begegnung – sofortige Vertrautheit, Gruß und Lebewohl –, Begegnung in dem eigenartig-einsamen, schmerzhaft-weltfremden Lebensgefühl, das der amerikanische Mensch so gut kennt. Dann sitzt er wieder im Pullman, die letzten Außenposten der Stadt entgleiten seinem Blick, und die Fahrtrichtung des Zuges, die den ganzen Nachmittag über westwärts war, ist nun nordwärts, den geheimen Grenzen Virginiens entgegen, den großen Weltstädten der Hoffnung entgegen, den Fabelbezirken der Kindheit und des geheimen Herzenshungers entgegen, der Welt entgegen, nach der dieser Reisende mit Geist und Leben verlangt.

Die kleine Vaterstadt in dem großen Gebirge, die Gesichter und Stimmen der Verwandten und Freunde, die wohlbekannten Formen heimatlicher Dinge, das alles erscheint dem Reisenden nun fern und seltsam wie Träume, verloren in der millionengesichtigen Meerestiefe der dunklen Zeit, verloren an das sonderbare und bittre Geheimnis des Lebens. Er kann es sich nicht denken, daß er je in jenen fernen verlornen Bergen gewohnt hat, und er kann es sich nicht denken, daß er jene Berge je verließ, und so wird ihm sein ganzes Leben seltsamer als der Traum von der Zeit, und der große Zug fährt und fährt über das unendliche und einsame Gesicht der amerikanischen Erde, dröhnt dahin mit seinem Gebraus von großer Eintönigkeit, einem Geräusch, das zum Laut der Stille und der Ewigkeit wird. Und im Zug und in zehntausend kleinen Städten schlafen die Schläfer auf Erden.

Und nun steigen Gram und Einsamkeit und Lust in ihm auf und schwellen ihm die Kehle, aus dem Innersten seines Herzens kommt der unstillbare Hunger und erobert ihn, eine wilde, wortlose Wut reitet ihn, und in den dunklen Wachestunden um Mitternacht kommt er an die Grenzen der alten Erde Virginiens.

 

Wer sah die Wut, die das Gebirge ritt? Wer sah die Wut, die im Sturm brauste? Wer ist in seiner Jugend wahnsinnig gewesen vor Wut, rastlos, friedlos und ohne Gewißheit vor Wut, wen hat die Wut auf Erden umgetrieben, bis der große Weinstock des Herzens brach ward, bis das Gehäuse aus Blut, Knochen, Sehnen, Mark, Hirn und Nerven, in dem die Wut wütete, verzerrt war, zerrenkt, schal, abgenutzt, erschöpft von der Wut, die sich nicht abwerfen ließ? Wer kannte die Wut, wer wußte, woher sie, die Furie, kam?

Kam sie mit dem Atem, der Speise, dem Trank, so daß sie nun in uns ist, so sehr, daß wir ihrer nicht ledig werden, wo auch immer wir weilen? Sie ist ein feiner, sonderlicher Wurm, der uns ständig am Herzen zehrt. Sie ist ein Wahnsinn, der unser Hirn besitzt; ein Hunger, der vom Essen kommt, wenn wir den Hunger stillen; ein Teufel, der auf unseren Blutbahnen einherfährt; ein wilder, dunkler, unbezähmbarer Geist, der uns die Seele schwellt; und nun sitzt sie im Sattel, die Wut, reitet unser Leben, stößt uns den Sporn ihrer unersättlichen Gier in die nackten, wehrlosen Weichen; sie ist unser Herr und Meister, sie ist der verrückte, grausame Tyrann, der uns zwingt, Schritt für Schritt weiterzugehen in den blinden rohen Wandelhöhlen unsrer aus den ewig-gleichen Spielbildern zusammengestückten Tage, an deren Ende dann das blinde Maul der Grube ist, Dunkelheit, und sonst nichts. Sonst nichts.

Dann aber, dann wird die Wut von uns weichen. Sie wird ablassen von dem Leben, auf dessen roten Blutbahnen sie sich ständig umtrieb. Ein Wurm anderer Art wird an dem großen Weinstock zehren, von dem sich die Wut genährt hat. Dann, ja dann muß die Wut nachgeben, sie muß ihr Zelt abschlagen und den Rückzug antreten, denn im Hirn des Toten ist kein Platz mehr für Wahnsinn, im Fleisch des Toten ist kein Raum mehr für Hunger, im Herz des Toten ist keine Stätte mehr für Begier.

Wann und wo war es, daß er der wartenden Wut ausgeliefert ward? War es in einer sammetbrüstigen Nacht vor langer Zeit, einer Nacht im Bergsommer, als auf der dunklen Straße ein Liebespaar näher kam und er die Stimme des Mannes hörte, eine tiefe, halblaute, selbstverständliche, vertrauliche Mannesstimme, und dann plötzlich ein üppig-aufquellendes, tiefes Frauenlachen, das zärtlich und sinnenlüstern in die Nacht schwang und davonschaukelte und unterging in der selig summenden Stille?

War es in der finstern Schwärze einer vergeßnen Wintersturmnacht, als er im Negerviertel Zeitungen austrug, als einziger wach im Häuserdschungel, wild und frei, verwegen und heimlich, ein Bruder der Finsternis und ein Kind des Sturms, dem er wie besessen ins Gesicht schrie?

Wann und wo?

Er wußte es nicht. Es mag ein Fels gewesen sein, ein Stein, ein Blatt, kleine Falter im warmen Goldlicht an einer grün-verzauberten Stätte, das Geheul eines Sturms in kahlen Bäumen, das langsam schwindende, uralte Tageslicht in einem vergeßnen Sommer, das hohe Mysterium einer nahenden Nacht.

Ein April und das feuchte, fliederfarbne Dämmern vor Tag und die reine aufbrechende Helle am Rand der Ostberge, als der Morgen kam. Die ersten Lichtstrahlen, der erste holde Vogellaut, das Hufgeklapper und Milchflaschengeklinker und Rädergerassel des ersten Milchwagens. Das süße Gefühl der Mattigkeit und des Leichtseins auf der Schulter, die auf dem Heimweg noch vom Druck der schweren Zeitungstasche schmerzte. Die Frühstücksgerüche aus den Küchenfenstern der Häuser. Der Anblick der prächtigen dicken Rauchsäule, die aus dem Schornstein auf dem Haus seines Vaters qualmte. Der schöne ordentliche Garten um das Vaterhaus, Pfirsichblust, berstende Apfelknospen, taufeuchtes krauses Endivien im reinlichen Beet, Frühjahrsblumen, der Schnee der Blütenblätter unter dem Kirschbaum. Der Garten seines Vaters, und dann die Gestalt seines Vaters, der nun in der Aprilfrühe schon wach und aufgestanden war und sich im Haus zu schaffen machte.

Oh, morgens aufwachen und wissen, der Vater wäre schon wach! Ihn im Haus hören und wissen, daß er nun Feuer mache! Feuer, daß der Schornstein rauscht und raucht! Das Geklapper am Herd, die Frühstücksgerüche und das Gefühl der unveränderlichen Gewißheit und Sicherheit. Das Gerassel, wenn er Kohlen aufschüttete, sein Gebrumm, wenn er wie ein zorniger Löwe herumging und eine Scheltrede vorbereitete! Seine Art, die Treppe hinaufzubrüllen, die Kinder sollten aufstehen, wenn das Frühstück fertig war!!

Kann es an einem solchen Morgen gewesen sein, daß er der wartenden Wut überantwortet wurde? Er wußte es nicht. Sowenig wie irgendsonstwer das Gewebe seines Lebens zurückwinden kann durch zehntausend verworrene Tage und den Faden finden, der aus dem Rätselgespinst zurückführen könnte in die Stille und den Frieden und die Gewißheit, in jenes magische Land des Beginnens, zu dem es kein Zurück gibt.

Er wußte auch nie, ob nicht die Wut alle diese Jahre in ihm schlafend gelegen hatte, verstohlen und leis an der Arbeit wie Wahnwitz im Blut. Aber später schien es ihm, als ob die Wut ihn zum ersten Male völlig gepackt, erobert und besessen hätte, und daß er den grenzenlosen Irrsinn ihrer Macht zum ersten Male erkannt und gespürt hätte in jener Nacht, als er mit der Bahn durch Virginien fuhr.


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