Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V

Bei Tagesanbruch erwachte er plötzlich. Das erste, fahl-grau-weiße Licht fiel durch das Fenster neben seiner Schlafstatt, fiel auf die heißen Kissen und das in drangsäligen Fiebergesichten verkrumpelte Bettzeug, fiel auf seine lange, eingeengte Gestalt, die er – in der polierten Unterseite der Schlafstatt, die über der seinen lag – bereits leicht widergespiegelt erkennen konnte. Draußen hatte sich das Licht fast unbemerkt in die Dunkelheit eingestohlen. Die rauchgraue Luft wurde graublau und leuchtete matt. Die alte braune Erde begann dem Dunkel zu enttauchen; sie löste sich allmählich aus der dämmerigen Halbhelle langsam und mit jener fremden und bangen Stille, die das erste Tageslicht von je mit sich bringt.

Die Erde erschien in ihren urtümlich-ewigen Eigenschaften. Stattlich, feierlich-ernst und einsam, wie sie im ersten Lichte dalag, erfüllte sie das Herz der Menschen mit ihrem ganzen urtümlichen Wunder. Es war, als wäre sie von je dagewesen, und obschon die Menschen es nie zuvor erkannt hatten, schien sie ihnen bekannter und vertrauter als ihrer Mutter Gesicht. Es war, als hätten sie sie bloß wiederentdeckt, und gleichzeitig war es doch so, als wären sie die ersten Menschen überhaupt, die die Erde je zu Gesicht bekamen, und fremder und vertrauter hätte die feierlich-ernste Freude über die Entdeckung nicht sein können. Sie sahen die Erde an, und in ihren Herzen empfanden sie nichts als Stille und Wunder. Sie waren nackt und allein und aller Dinge ledig bis auf ihr bares Selbst, – der Wahrheit so nah, als ihr Menschen je kommen können. Sie wußten, sie würden sterben, die Erde aber würde dauern auf immerdar. Und Freude, Verwunderung und Kümmernis im Herzen wußten sie, daß ein Tag vergangen wäre, daß ein andrer Tag gekommen war, und sie erkannten, wie kurz und einsam des Menschen Tage sind.

Die alte Erde, die in diesem ersten, hageren Morgenlicht vorbeischwamm, schien das Angesicht der Zeit selber zu sein. Das Geräusch des fahrenden Zuges wurde zum Geräusch der Stille. Und die Menschen wurden in diesem Gültigkeitsverhältnis von Zeit und Stille festgehalten. Der Rauch der Lokomotive puffte in die Luft; die alte Erde – Feld und Wald und Berg und Fluß und Wald und Feld und Berg – glitt und strich vorbei in einer gewissermaßen auf immerdar dauernden Wiederholung; und der Zug machte beständig sein Geräusch, das der Stille und des Immerdar glich, ... bis es schließlich den Menschen scheinen mußte, sie wären auf immerdar in dieses Abbild der Ewigkeit eingebannt, – als befänden sie sich in bewegungsloser Bewegung, in unendlicher Stille, auf der Flucht durch die Raumlosigkeit.

Dem jungen Menschen war es, als gehörten alle Geräusche und Laute, alle Rhythmen und Varianten des dahinrollenden Zugs zu den Bildern und Gesichtern, den Schreien und Flüchen, den Gesängen und heimsuchenden Erinnerungen der vergangenen Nacht. Ihm schien, der Zug wäre eins geworden mit der endlosen Eintönigkeit der Stille. Er empfand, daß das Land da draußen nun sein Leben besäße, und daß er es von je gekannt hätte, und nur mit einem Gefühl des Unglaubens und der Verwunderung konnte er denken, daß er gestern erst – gestern erst – seine Heimat im fremden Gebirge verlassen hatte und nun ostwärts, nordwärts, meerwärts fuhr.

Und an den Grenzen des Ostens, rein, strahlend und zum erstenmal im unglaublichen Wunder der Neuentdeckung erlebt, allen Menschen bringend, was es von je gebracht hatte, nämlich das erste Leben, das je auf der Erde erkannt ward, erschien das goldne Banner des Tags.


 << zurück weiter >>