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III

Es war kurz vor Mitternacht, als der junge Mensch nach dem Raucherabteil des Pullmanwagens ging, wo trotz der späten Stunde noch mehrere Männer rauchend und redend zusammensaßen. Soeben war der Zug auf das Gebiet des Staates Virginien gelangt, und von den Männern hatte das keiner zur Kenntnis genommen, obwohl es freilich dem einen oder dem andern von ihnen nicht entgangen wäre, hätte er seine Aufmerksamkeit auf solche Tatsachen gerichtet. Die Männer aber waren mitten in einer Unterhaltung, die sich ausschließlich um die ständig steigenden Bodenpreise, um die sicheren Gewinne der Grundstücksspekulation und um Häuser und Bauplätze drehte, die sie in ihrem Heimatsort besaßen.

Trotzdem – gerade als der Zug mit kaum verminderter Geschwindigkeit durch das catawbanische Grenzstädtchen gefahren war – hatte einer von den Männern plötzlich mitten aus der Unterhaltung aufgeblickt. Der Mann hatte ganz schnell und abwesend, ganz beiläufig aufgeblickt, er hatte durchs Fenster hinausgesehen mit der maßlosen Gleichgültigkeit reicher Männer, die schon so oft in glänzenden Zügen gereist sind, daß eine nächtliche Fahrt nach der furchtbaren Großstadt für sie kein Ereignis mehr bedeutet, sondern einfach etwas Gewohntes, Notwendiges, ja Verdrießliches ist, weshalb sie denn nur selten einmal einen Blick durchs Wagenfenster werfen.

»Wo sind wir denn da?« hatte der Mann gefragt. »Ach, Maysville vermutlich! Jaja, muß Maysville sein«, hatte er entschieden. Und von der kurzen Inspektion eines nächtlichen Kontinents, von ein paar Lichtern und einem Landstädtchen hatte er sofort zurückgefunden zu jenem lockenden Gegenstand, der die Gruppe seit mehreren Stunden vollauf beschäftigte.

Es war auch kein Grund vorhanden, weshalb dieser Fahrgast eine weitere Teilnahme an den Dingen, die er durchs Fenster wahrgenommen hatte, hätte aufbringen können. Schon der allerflüchtigste Blick hätte den Beobachter belehrt, daß dieser Ort zu den vielen gehört, die nach Baedekers berühmter Phrase »dem Touristen wenig Interessantes bieten«. Was der Mann in den paar Sekunden erblickt hatte, war eine stille, verstaubte, spärlich beleuchtete Straße aus einem Städtchen in den oberen Südstaaten. Die Straße war von einer großen Allee beschattet; von ebenen Rasenplätzen, Gebüsch und Bäumen umgeben waren ein paar Wohnhäuser sichtbar, geräumige, weißgestrichene Holzbauten mit großen, meist säulengestützten Vorhallen und vielen Giebeln.

Auf dem ganzen Bild – diesen Häusern, Bäumen und Gärten – lag eine eigene Stimmung aus Einsamkeit, Abschied und Oktober, eine aufmerksame, fast traurige Erwartung. Diese nächtliche, staubige Straße mit ihren großen Alleebäumen wirkte fremd und dennoch vertraut. Ein jähes Weh drang einem ins Herz, wenn man sie sah. Man empfand Freundschaft für sie. Diese Empfindung wurde vermutlich dadurch, daß der Zug beinah geräuschlos vorüberfuhr, noch verstärkt. Besonders aber mußte es dem jungen Menschen so gehen, der, von der Machtfülle des Reiseerlebnisses berauscht, dem Norden entgegenfuhr. In ihm rief das einsame Städtchen die Vorstellung von zehntausend anderen, über den ganzen Kontinent verstreuten, ebenso einsamen Städtchen wach.

Der Zug fährt ohne Halt an dem kleinen, verödeten Bahnhof vorüber. Einen Augenblick später kann man den Stadtplatz, das Verkehrs- und Geschäftszentrum der Stadt, mit dem Blick erhaschen. Der junge Mensch sieht diesen Platz und erlebt ihn im Gefühlsdreiklang Einsamkeit – augenblickliche Vertrautheit – Abschied. Eigentlich wirkt dieser Stadtplatz abgeschmackt, aufgeplustert und sinnwidrig in seiner billig-erbärmlichen Großspurigkeit; er ist eben ein Stadtplatz, wie man ihn oft in Kleinstädten dieser Art findet. Und doch: Wer ihn einmal im Bruchteil einer Sekunde durchs Zugfenster blickend erlebt hat, den sucht die Erinnerung an ihn immer wieder heim.

Das Heimsuchende an diesem Erinnerungsbild kommt vermutlich daher, daß im Gegensatz zu der grauenhaften Nachahmung weltstädtischen Großbetriebs in der Anlage des Platzes die fast vollkommene Abwesenheit jeglichen Lebens überhaupt steht. Infolgedessen empfängt man den Eindruck einer gefrornen, starrsüchtigen Stille, und es ist, als blicke man in eine Stadt, in der wenige Minuten zuvor alles Leben durch ein ungeheures, plötzlich eingetretenes Verhängnis ausgelöscht wurde. Alles funkelnagelneu und richtig, alles schreckhaft in Ordnung, die Laternen brennen, die Lichtreklamen funkeln und blitzen ... bloß die Menschen sind alle gestorben, tot, ums Leben gekommen, von der Bildfläche verschwunden, nicht mehr da. Der Platz wirkt ähnlich wie eine auf leerer Bühne aufgestellte Theaterkulisse: Prächtige Gebäude, Läden, Warenhäuser, alle mit den überzeugendsten Farben auf Pappdeckel gemalt ... und nicht die geringste Spur von Leben in der Szenerie – bloß mit dem Unterschied, daß hier die nackte Wirklichkeit und die konkreten Dimensionen der Dinge den Eindruck noch unheimlicher machen.

Im Nu, im blitzhaften Augenblick, in Momentaufnahmen des Bewußtseins hatte der junge Mensch diese Dinge gesehn oder vielmehr erlebt. Blick auf eine stille Straße, Blick auf einen öden Bahnhof, Blick auf einen leeren Stadtplatz, Blick auf ein paar grelle Laternen und Straßenlampen, Blick auf die Außenposten der Stadt, und dann wieder die dunkle Erde; – mehr als diese Folge von Bildbruchstücken hatte er nicht gesehen, mehr hätte er nicht sehen können. Aber diese paar Bruchstücke gehörten für ihn so vollkommen zu dem ihm wohlbekannten Leben der Kleinstadt, daß er im Geist in diesen abgerissenen Fluchtbildern das ganze Nachtleben dieser Stadt wahrnahm und mitlebte.

In der Durchgangsstraße vom Bahnhof zum Stadtplatz stehen, schräg zum Rand des Bürgersteigs geparkt, leere Automobile in einer Reihe. Er weiß sofort, diese Wagen gehören den Besuchern des Lichtspieltheaters, das gleich links am Stadtplatz liegt. Die Fassade ist grell belichtet und mit überlebensgroßen, knallig-bunten Bildplakaten bepflastert. Vor dem Eingang herrscht noch die gefrorne, starrsüchtige Stille, aber er, der ja in solchem Städtchen gelebt hat, verspürt bereits die Wallung vom warmen Leben. Ihm scheint, er sähe, und er sieht das bläuliche Karbonlicht im Wandschlitz, er glaubt zu hören, und er hört das unendlich einsame Gezisch dieses Lichts, begleitet von dem eilfertigen Gesurr des Projektionsapparates. Schon sitzt er mitten im Kino, mitten unter Leuten, die blaß, stumm, einsam, dunkel, erregt, klein, unersättlich weltdurstig, gierig nach vorn gelehnt dasitzen, unter Leuten, die beim Sieg des Helden mitsiegen, beim Tod der Mutter lautlos mitweinen, die sich mit den johlenden Buben in den vordersten Reihen innig mitfreuen, wenn's dem Bösewicht gebührlich schlecht geht. Ja, er kennt diese Leute, er weiß sich ihnen einsam und tief und wunderlich verwandt – er hat sie gegrüßt, sie sind ihm augenblicklich vertraut gewesen, er hat ihnen Lebewohl gesagt.

Um den viereckigen Platz brennen in regelmäßigen Abständen die großstädtisch-neumodischen Fünf-Lampen-Laternen, und auf den starrsüchtigen Asphalt fällt das harte weiße Licht ihrer starrsüchtigen Stille. Auf diese Straßenbeleuchtung – das weiß er – ist das Städtchen ungemein stolz; sie verwandelt den Platz in eine sogenannte »Milchstraße auf Erden«, in einen Broadway von Beinah-New-York. Dabei könnte die gespenstische Leblosigkeit hier nirgends stärker zum Ausdruck kommen als gerade in dieser Straßenbeleuchtung, die in ihrer harschen, grausamen Grelle schlagartig die Erkenntnis weckt, daß Licht ohne Leben entsetzlich leer und geisterhaft wirkt. So wird man unaussprechlich und mit schmerzlicher Schärfe an den Mottenhunger des Amerikaners für hartes, grelles, weißglühendes Licht gemahnt. Es ist, als lebte und lärmte in der Seele des Amerikaners noch die unüberwindliche Angst vor dem Urdunkel, der Schreck vor der alten unsterblichen Stille, die Furcht vor der Wildnis, vor den zeitlosen Himmeln, vor den ungeheuren, unmeßbaren, tür- und torlosen Räumen und Weiten und Entfernungen, in denen er hilflos wie ein Blatt im Hurrikan umgetrieben wird.

Der Zug hat in glatter, beinah geräuschloser Fahrt das Städtchen längst hinter sich gelassen. Und nun ist nichts mehr da als die große, geheimnisvolle Nacht, die einsame immerdauernde Erde, und zwar die Erde Virginiens. Und da ist für Weitgereiste wirklich nicht mehr viel zu sehen. Nichts als Nacht, die eben Nacht und dunkel ist. Nichts als Dunkelheit und ein Erdraum, der Virginien heißt. Ein Erdraum Virginien also, durch den der Zug wie ein ungeheures Wurfgeschoß im Dunkel vorwärts und vorwärts saust.

Felder und Falten und Rinnen und Hügel und Dellen, Wälder und Flüsse und Brücken und Dämme und Straßen fliegen vorbei, vorbei – die große Erde, die rauhe Erde, die wilde, die formlose, die mannigfache, die vertrauteste, die ewig heimsuchende Erde, die großartige und die zufällige Erde, die so braun, so hart, so staubig, so rührend ist, die heimatliche und fremde Erde, die uns im Fleisch und Blut, im Herz und Hirn liegt, die Erde, unvergeßlich und unbeschreibbar ... fliegt an uns vorbei, an uns vorbei, an uns vorbei in der Nacht.

Was ist's, das wir so gut kennen und doch nicht aussprechen können? Was ist's, das wir sagen wollen, und wofür das Wort uns gebricht? Was ist's, das uns das Herz mit seiner großen Feiermusik schwellt, das uns die Kehle schmerzlich schnürt, das uns in den Adern wie ein fremder wilder Trank pulst, das uns vor maßloser, unerträglicher Freude rasend macht, und das uns dennoch sprachlos läßt, zungenstumm, vom Wahnsinn unsrer Wut besessen bis ans Ende?

Wir wissen es nicht. Wir wissen bloß, uns fehlt die Zunge der Offenbarung, die Sprache eines vollkommenen Ausdrucks für die wilde, musikgewordene, herzenschwellende Freude, für das wilde, kehlenschnürende Weh, für den wilden, hirnzergellenden Schrei, für all das, was wir so gut kennen und nicht aussprechen können. Wir wissen bloß: Kleine Bahnhöfe werden vorbeigepeitscht in der Nacht, kleine Städte, die sich hochstrampeln wollen, werden vorbeigepeitscht in der Nacht, und die Erde fließt dunkel vorüber – und ein Feld und ein Wald und ein Feld – und so, so, so geht's mit der Welt. Und von der großen, geheimnishaften Erde wissen wir bloß, daß wir sie begehen und mit allem, was in uns ist, spüren, woraus sie gemacht ist.

Wir wissen bloß, daß wir alles haben und nichts halten, daß das wilde Lied von der Erde in uns aufwallt und daß uns dennoch die Worte gebrechen – und hierin, das wissen wir, liegt das leidenschaftliche Rätsel unserer Leben bitter beschlossen, hiervon kommt der wütige, heimsuchende, verwundende Hunger, den wir Amerikaner so verzweifelt spüren, daß wir bei all unserm Reichtum arm sind, mit unseren unschätzbaren Gütern nichts anzufangen wissen und unsre grenzenlosen Kräfte nicht verwenden können.

Und so sausen wir vorwärts im Dunkel durch Virginien – sausen wir vorwärts im Dunkeln auf Millionen Straßen – sausen wir vorwärts im Dunkeln, Hungergetriebene, durch die blinden rohen Wandelhöhlen unsrer aus den ewig-gleichen Spielbildern zusammengestückten zehntausend Tage – sind wir Opfer, dem grausamen Anstoß zahlloser Zufälle und flüchtiger Augenblicke preisgegeben – und haben keine Wand, die Schulter unsrer Kraft dagegenzustemmen – kein Dach, uns in unsrer Nacktheit zu schirmen – keinen Ort, zu bauen – keine Tür.


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