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Zweites Buch
Der junge Faust

VII

Sein Zug brauste durch das herbstbraune Land; – aufblitzendes Meer und felsige Küste, weiße Städtchen im flammenden Laub, – die einsame, tragische, ewige Schönheit Neu-Englands, der Landschaft seiner Herzbegehr, der dunklen Helena, die ihm im Blut brannte. Und dies schnelle Fahren zum Ziel! Oktober und scharf grauer Tag: wie der Rauch der Lokomotive in diese Luft strich! Und dazu das Näherkommen dieser großen Erde, dieser neuen Lande, dieser verzauberten Stadt, und schließlich die Ankunft, rauchig, blind und verhangen in der alten Wabe Boston! Die rußigen Barrikaden, die Straßen und Häuser, die ihm so merkwürdig und gespenstisch vertraut vorkamen! Das Halten des Zugs, – Dampf, Rauch und beißender Geruch; in der großen Halle standen ein Dutzend Lokomotiven, die langsam wie rastende Riesenkatzen schnauften. Der große Bahnhof, endloses Gedräng unaufhörlichen Lebens. Der Wandellaut der Zeit, dieses unfaßbare Hallen und Schallen, und dazu, keine Handbreit weg, diese eine Stimme, die im herben Nasal der Neu-Engländer Mundart sagte: »Kaum noch Zeit, aber versuch's, wenn du willst.«

Und dann sehen, riechen, hören, spüren, erleben: – die engen gewundenen, altersbraunen Straßen Bostons mit ihrem schwiemelig-schwülen Geruch nach frisch geröstetem Kaffee – das Treiben des millionenfüßigen Menschenschwarms, das geheimnisferne Raunen über der Großstadt – blinkendes Wasser am Hafen, Schiffe und Gemurmel – die Ahnung der Herrlichkeit und das Versprechen von tausend schönen Frauen, die irgendwo in der Stadtwabe warteten.

Er erlebte die rasenden Straßen mit ihrem endlosen Flutschwall von Millionen Gesichtern, er erlebte die ungeheure Bibliothek mit ihren Millionen Büchern. War es dann, daß die Wut in ihm aufsprang? Oder war es irgendein Augenblick im Fünf-Uhr-Getriebe an der Park Street Station, eine Stimme, ein Gesicht, ein Mädchen, das lächelnd eine Sekunde dastand im scharfen Oktoberwind, kräftig-gesunde Gestalt, großbrüstig und schenkelstramm, und das sofort wieder verschwunden war im Gewühl, unwiederfindlich und auf immer verloren? War es so ein Augenblick? – Lokomotiven, Rauch, ein Bahnhof, eine Straße, der Wandellaut der Zeit, ein Gesicht, das kam, vorüberging, entschwunden war und unvergeßlich blieb? War es hier oder da oder dort, in einem ganz bestimmten überwachten oder unbewachten Augenblick seines Menschengedenkens, daß er die Wut aus der Luft einatmete, daß die Wut ihn bedrang? Er wußte es nie.

Aber sie hatte ihn gepackt, diese Wut, und der Traum von der Zeit suchte ihn heim. Zehn Jahre sollte er leben, ohne daß die Wut ihn einen Augenblick verließ, – zehn volle Jahre sollten Wut, Hunger und Wanderschaft das Leben dieses jungen Menschen ausfüllen, – und wozu? Wozu?

Was ist's um die Wut, die er spürt, die ihn vorwärts, der Erde entgegen, peitscht? Es ist das Hirn, das von seinen eignen Ausschweifungen wahnsinnig wird, das Herz, das sich ob seiner eignen Unerfülltheit quält und daran zerbricht, es ist der Lebenshunger, der sich an jeder Speise, die ihm zuteil wird, steigert, ein Durst, der Ströme austrinkt und ungelöscht bleibt. Es ist dies, daß man eine Million Menschen, eine Million Gesichter sieht, denen man unzugehörig und fremd bleibt. Es ist dies, daß man abends die Bestände einer ungeheuren Bibliothek mustert, aus den tausend Gestellen mit hastiger Hand Bücher entnimmt, um sie mit dem Wahnhunger der Menschenjugend zu verschlingen. Es ist, daß die uralte Gemütsunruh einen umtreibt, daß man verschmachtet und keinen Bestand kennt, daß man Hoffnung, Mut und Freude ganz und gar verloren hat und sie wiederum mächtig aufbegehren spürt, wenn man glaubt, daß dennoch erreichbar ist, was man so dunkel und verzweifelt ertrachtet, das, was alle Menschen auf Erden ertrachtet haben, nämlich das eine Gesicht unter den Millionen Gesichtern, eine Wand, eine Tür, einen Ort des Friedens, der Gewißheit und der Stete. Denn was ist es sonst, das wir Amerikaner immer auf Erden suchen? Warum sonst haben wir das stürmische Meer so oft gekreuzt, warum sonst sind wir nachts in tausend fremden Zimmern wach gelegen und haben dem Laut der Zeit, der dunklen Zeit, gelauscht, bis wir krank und erschöpft waren von der Frage: »Wo soll ich nun hingehen? Was nun anfangen?«

Zwar kannte er den Augenblick des Anfalls nicht, aber er wußte, daß die Wut ihn mit einem Schlage gepackt hatte. Und von da an war sein Leben, mehr als das irgendeines andern, den er je traf, der Einsamkeit und der Wanderschaft überantwortet. Warum dem so wäre, und wieso es geschah, konnte er nie erklären. Es war einfach so. Er führte – von zwei Unterbrechungen abgesehen – ein Leben, so einsam, wie es einem Menschen von heute möglich ist; damit soll gesagt sein, daß die Zahl der Stunden, Tage, Monate und Jahre, – der meßbaren Zeitspannen also, die er allein zubrachte, eine ungeheure und ungewöhnliche Höhe erreichte.

Das Erstaunliche hieran ist, daß er wissentlich nie das Alleinsein suchte, daß er sich nie vom Leben zurückzog, sich nie vor dem Lärm und der Raserei in seine vier Wände verschloß. Ganz im Gegenteil: – liebend begehrte er alles Leben so sehr, daß ihn der Hunger und Durst danach wahnsinnig machte. Von der Wut, die ihn so mit der Geißel vorantrieb, kann kaum ein Tausendstel gesagt werden, und was gesagt wird, mag unglaublich erscheinen, ist aber wahr. Sein Hunger war so buchstäblich, so grausam, so körperlich, daß er die Erde und alle Menschen auf der Erde zu verschlingen begehrte, und sooft er die Vergeblichkeit dieses Ansinnens spürte, ging er unter in einem Meer des Entsetzens und der Verlassenheit; die große Erde erdrückte ihn dann mit ihrem Schwall von Menschen und Dingen, sie machte ihn krank, unfruchtbar, hoffnungslos, tot.

Nun ward es ihm zur Gewohnheit, abends in der Bibliothek zu stöbern und wie ein Besessener zu lesen. Schon die Vorstellung der unzähligen Bücher genügte, ihn in Wut zu versetzen, – je mehr Bücher er las, desto weniger Bücher schien er zu kennen, denn mit der Zahl der gelesenen schien ihm die Zahl derer, die er zu lesen außerstande wäre, ins Unermeßliche zu steigen. In einer Spanne von zehn Jahren las er – das ist absichtlich niedrig geschätzt – zwanzigtausend Bände – und ein Vielfaches hiervon beträgt die Anzahl der Bände, die er flüchtig ansah oder durchstöberte. Das mag unglaubhaft erscheinen, verhält sich aber so. Dryden sagte von Ben Jonson: »Andre Leute lesen Bücher, er las Bibliotheken«, und ganz so tat dieser junge Mensch. Allein diese furchtbare Orgie brachte ihm weder Trost, noch Frieden, noch irgend Weisheit. Statt dessen war es so, daß seine Wut und seine Verzweiflung noch geschürt wurden, daß sein Hunger sich an der Speise, die er verschlang, noch steigerte.

Er las wie ein Besessener Hunderte und Tausende von Büchern, und dies, obschon er nicht das geringste Zeug zum Bücherwurm hatte. Auch stand hinter diesem irrsinnigen Ansturm auf die Welt des Gedruckten keinerlei formulierbare Bildungsabsicht. Es war Gier. Ihn gierte nach allem, was über die menschliche Erfahrung niedergelegt ist, und Vergnügen und Genügen fand er beim Lesen nie, denn der Gedanke, daß andere, ungelesene Bücher auf ihn warteten, trieb ihm den Stachel ins Herz. Wie einer dem toten Geflügel das Geweide herausreißt, so sah er sich selber lesen. In den ersten Jahren las er oft stehend vor den Gestellen, las er oft mit der Uhr in der Hand und nahm die Zeit ab, die er für eine Seite brauchte; er murmelte dann triumphierend oder geärgert: »Fünfzig Sekunden! Verdammt! Jetzt aber!« und raste dann in zwanzig Sekunden durch die nächste Seite.

Die Wut, die ihn so zu lesen trieb, hatte nichts mit Gelehrsamkeit, nichts mit akademischen Ehren, nichts mit wissenschaftlichem Lernen zu tun. Er war weder Gelehrter, noch wünschte er Gelehrter zu werden. Er wollte einfach über alle Dinge auf Erden Bescheid wissen, wollte die Erde verschlingen, – und die Einsicht, daß dies unmöglich sei, machte ihn wahnsinnig. So ging es ihm in allen Dingen, die er tat. Es kam vor, daß ihm mitten in einem Anfall wüster Lesewut plötzlich die Straßen und die große Stadt draußen einfielen. Der Gedanke ging durch ihn hindurch wie ein Schwert, und ihm war dann, jede Sekunde, die er länger in der Bibliothek über Büchern verbrächte, sei vergeudet, denn draußen geschähe gerade in diesem Augenblick etwas Unerreichtes, Nie-wieder-Einzubringendes, und wenn es ihm gelänge, gerade noch zeitig dazuzukommen und es mitzuerleben, dann würde er den Schlüssel zu seinem eignen Geheimnis haben und den Ursprung alles irdischen Geschehens auf der Stelle verstehen.

Er eilte hinaus auf die Jagd nach diesem Geschehnis, nahm die Untergrundbahn, die unterm Bett des Charles River Cambridge mit Boston verbindet, und trieb sich dort stundenlang auf den Straßen umher, sah Tausenden von Leuten ins Gesicht, versuchte ein schlüssiges Augenblicksbild von ihrem Wesen zu gewinnen, von ihrem Millionenschicksal und von der großen Stadt, von der ewigdauernden Erde und von den ungeheuren Himmeln aus Einsamkeit, die sich über diese Menschen, über diese Schicksale, über diese Stadt, über diese Erde wölbten. Er suchte auf den Straßen, bis ihm die Glieder schmerzten, bis er an Leib und Seele wie ausgewrungen war und vor Erschöpfung zitterte. Und das Herz sank ihm vor Verzweiflung und Verlassenheit.

Und dennoch brannte ein wütiges Hoffen, ein wilder, schwärmender Glaube in ihm. Er legte schriftlich ungeheure Pläne nieder von all dem, was er im Leben zu tun gedachte, ein Arbeits- und Leistungsvorhaben, das die Kräfte von zehntausend Mann erschöpft hätte. Er stand mitten in der Nacht auf und kritzelte wahnwitzige Aufstellungen nieder, Rechenschaftsberichte über alles, was er gesehen und getan hatte: die Summe der Bücher, die er gelesen, die Summe der Menschen, die er gekannt, die Summe der Frauen, denen er beigeschlafen, die Summe der Mahlzeiten, die er eingenommen hatte, die Summe der Meilen, die er gereist war, die Summen der Städte und Staaten, die er kannte.

Eine Weile dann weidete er sich an diesen erstaunlichen Aufstellungen, er kicherte wie ein Geizhals über seinen Schätzen, bloß um dann in der nächsten Minute verzweifelt aufzustöhnen und mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, weil ihm überwältigend die Unsumme der Dinge einfiel, die er nicht gesehen oder gekannt hatte. Alsdann begann er mit anderen Listen; er legte Riesenkataloge an von Büchern, die er nicht gelesen, Speisen, die er nicht gekostet, Frauen, die er nicht beschlafen hatte, von Städten und Staaten, die er nicht kannte. Er legte Pläne nieder, wie er dies alles verwirklichen würde, rechnete aus, wieviel Jahre er dazu brauchte, wie alt er sein würde, wenn dies alles vollbracht sei. Eine ungeheure Woge von Hoffnung und Freude wallte dann in ihm auf, denn auf dem Papier sah alles so leicht aus; er hegte keinen Zweifel, daß er es bewältigen könne.

Er legte sich nie die Frage vor, wie er während der Durchführung seines Lebensprogramms sein nacktes Dasein fristen würde, oder woher er Geld für dieses gigantische Abenteuer nehmen könne. Wenn diese Dinge ihn berührten, dann maß er ihnen nie das geringste Wirklichkeitsgewicht bei, er schob das ganze Problem ungeduldig beiseite, überzeugt, es würde schon gehen. Irgend ein Greis würde ihm sein Vermögen vermachen – oder er würde im Fenway eine Geldtasche mit ein paar hunderttausend Dollars aufheben, und der Finderlohn wäre dann genug für ihn – oder es erschiene eine schöne und reiche Jungwitwe, ein herzenstreues, zartes, liebendes, wollüstiges Wesen mit karottenfarbnem Haar, winzigen Sommersprossen im Gesicht, einer einzigen Goldfüllung in den gediegenen, kleinen Zähnen und leuchtend graugrünen Augen, in denen zu aller Lieb und Treu doch ein kleiner, schlimmer Schalk säße, ... und diese Jungwitwe würde sich sterblich in ihn verlieben, ihn heiraten und ihm allzeit wahrhaft ergeben bleiben, während er sich in aller Welt gierig lesend, essend, trinkend und hurend herumtriebe – oder aber er würde einfach jährlich, oder alle zwei Jahre nur, ein sehr erfolgreiches Buch oder Theaterstück schreiben, das ihm jedesmal auf einen Schlag fünfzehn bis zwanzigtausend Dollars einbrächte. So stürmte er brausend durch die Welt, manchmal wahnsinnig vor Verzweiflung, Verdruß und Bestürztheit, manchmal wild und himmelhoch jauchzend in der Überzeugung, alles käme so, wie er es wünschte. So lauschte er nachts der stillen Erde und der rauschenden Stadt, er stellte sich den dunklen, schlafenden Kontinent vor, bis dieser vor ihm hingebreitet lag wie eine Reliefkarte mit Flüssen, Ebenen, Gebirgen und zehntausend schlummernden Städtchen – ihm war dann, als erlebe er alles auf einmal.


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