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XCVIII

Wie lange er sich in Tours aufgehalten hatte, darüber war sich der junge Mensch kaum klar, denn, vom Zauberbann der Zeit und des Gedenkens in der Schwebe gehalten, schien er sich nicht nur von den unendlichen Bindungen zu seiner Vergangenheit, sondern auch von all seinen Zukunftsplänen abgelöst zu haben. Tag für Tag saß er in seinem kleinen Zimmer über dem gepflasterten Hof des Hotels, er nahm seine Mahlzeiten im Haus und ging nur am Abend aus. Er ging dann in ein Café, wo er noch etwas aß und trank, streunte auf den Straßen umher, ging auch ein- oder zweimal mit einer Frau aus der Stadt nach Hause. Stets aber kehrte er auf sein Zimmer zurück, um stundenlang wütig zu schreiben. Und dann lag er ausgestreckt im Bett, auf den Fels eines furienhaften Wachschlafs genagelt, und erlebte wiederum, schlafsüchtig-überwach, in einer Hypnose des Willens, die unermeßlichen und raumlosen Wahrbilder der Nacht.

Eines Morgens erwachte er im Zustand einer schreckhaften Wahrnahme, ganz so, als ahne er eine bevorstehende Mißlichkeit. Es war nun zum erstenmal seit Wochen, daß er an den Stand seiner Barschaft denken mußte; bisher hatte er deswegen weder Sorge noch Bedenken gehabt. In fiebriger Hast zählte er sein Geld nach und stellte fest, daß er nur noch knapp zweihundertfünfzig Francs hatte, und dann saß er eine Weile am Bettrand, den dünnen Stoß Frankenscheine in der Hand, vollkommen bestürzt und betäubt von der jähen Erkenntnis, daß seine Mittel zu Ende waren, und wußte im Augenblick nicht, was er tun sollte. Die Hotelrechnung für die Woche war fällig; er ging sofort ins Geschäftszimmer und verlangte sie; er überschlug hastig die Summe und war nun sicher, daß er sein Hotel bezahlen könne; dann allerdings würden ihm nur etwa zwanzig Francs übrigbleiben.

Er kannte niemanden in Tours, den er um Hilfe hätte angehn können, und ein einziger Blick auf das unfehlbar verbindliche, kalt höfliche, harte und dunkle Gesicht der Gallierin im Hotelbüro – den Basalt dieser Augen und die zusammengewachsenen, schnurgeraden Brauen darüber – sagte ihm, er könne ebensogut Milch und Honig aus den Pflastersteinen wringen wie eine Unze wohltätiger Unterstützung aus den Granit- und Stahlkammern dieser Seele locken. Die Brauen wurden heruntergezogen, die dunklen Augen wurden härter, kleiner, kälter vor Mißtrauen, und noch ehe er sprach, erkannte er, daß diese Frau ihm die Geschichte seiner liederlichen Verschwendungssucht am Gesicht abgelesen und daß sich ihr Argwohn von diesem Augenblick an gegen ihn gewandt hatte mit jener tugendhaften Abneigung, die dergleichen Leute vor Menschen empfinden, die kein Geld haben. Und so kam es, daß er, als er sprach, nur sagte, er reise noch am selben Tag ab; teilnahmslos neigte die Frau ihr dunkles, hartes Gesicht, sagte: »Oui, monsieur!« und bat, das Zimmer bis um zwölf Uhr zu räumen.

Er ging zum Bahnhof, um wegen Fahrpreisen und Entfernungen Auskunft einzuholen. Der junge Mensch hatte während seines ganzen Aufenthalts in Tours – ja, sogar seit er Paris verlassen hatte – im guten Glauben gelebt, daß er, im großen ganzen gesprochen, in Richtung auf die Provence, auf Marseilles, südwärts reise, und nun, als er auf einer Eisenbahnkarte nachsah, entdeckte er, daß er um ein paar hundert Kilometer von der Linie abgekommen war und die Südwestroute eingeschlagen hatte, die von Paris nach Bordeaux und weiter über die Westpyrenäen nach Spanien führt. Augenblicklich entschloß er sich, nach Bordeaux zu fahren; – Ann hatte ihm nämlich auf einer Postkarte aus Carcassonne mitgeteilt, sie führe nun mit ihren Freunden weiter nach Biarritz. Der junge Mensch erkundigte sich kurz und fand heraus, daß sein Geld bei weitem nicht für eine Fahrkarte nach Bordeaux reichte. Außerdem wurde ihm nun auch klar, daß er sich so nur in eine noch verzweifeltere Klemme begeben hätte, denn er kannte keinen Menschen in Bordeaux, und die Hoffnung, dort zufällig Bekannte zu treffen, war recht gering. Er fand auch heraus, daß die billigste Fahrkarte nach Paris – die Fahrt dritter Klasse – rund vierunddreißig Francs kostete, also beinah doppelt soviel, als er noch besaß.

Und schließlich nun, böswillig erfreut – denn sonderbarerweise hatte ihn das wachsende Verständnis seiner mißlichen Lage, hatten ihn die argwöhnischen, geldgierigen Franzosenaugen in eine Laune jubelnder Gleichgültigkeit versetzt, so daß er ständig Lust hatte, vor Lachen herauszubrüllen –, dachte er an Orléans und die Gräfin.

Die Fahrkarte dritter Klasse nach Orléans kostete ungefähr siebzehn Francs, dafür reichte sein Geld; gleichzeitig erfuhr er, daß in einer Stunde ein Zug ging. Er kehrte zum Hotel zurück, packte in rasender Hast seine Handtasche, stopfte seine Kleider hinein und trampelte sie mit den Füßen zusammen, als sie nicht hineingehn wollten, fuhr in dem von Pferden gezogenen Omnibus des Hotels zur Bahn und war eine Stunde später auf dem Rückweg von Tours nach Orléans.

Es war Spätmärz geworden: – der Himmel war verhängt mit dünnen grauen Wolken, einem ungewissen, milchigen Glast; die Ackererde und die noch kahlen Wälder lagen da in der fruchtbaren Feuchte des Tauwetters, das den Frühling verheißt. Während der Fahrt begann es zu schnein, ein kurzes Geschwirbel großer, nasser Flocken, die im Fallen zerschmolzen; es war bald vorüber, und in dünnen, zaghaften Strahlenschüssen brach die Sonne durch.

Er war allein im Abteil, sah zum Fenster hinaus über die feuchten Fluren, und von Zeit zu Zeit, als er sich vorstellte, was für ein schlaues, überraschtes, ahnungsbanges Gesicht die Gräfin beim Wiedersehn machen würde, brach er in ein lautes, unbändiges Gelächter aus, das sprudelnd und gellend über dem steten Stampfrhythmus der Räder widerhallte.

Es war Mittag, als er in Orléans ankam. Er nahm seine schwere Handtasche und hinkte über den Bahnhofsplatz; einmal legte er eine Pause ein, um seinen schmerzenden Arm auszuruhn und die Last dann mit dem andern Arm weiterzuschleppen. Im Anmelderaum fand er Yvonne. Sie blickte von einem Kontobuch auf, als er eintrat; ihr dunkles Gesicht wurde mißtrauisch-hart vor Überraschung, als sie ihn erkannte.

»Monsieur ist zurückgekehrt, um hierzubleiben?« fragte sie, während ihr Blick auf die Handtasche glitt. »Sie wünschen ein Zimmer?«

»Ich weiß es noch nicht«, erklärte er leichthin. »In ein paar Minuten werde ich's Ihnen sagen können. Zunächst möchte ich gern die Gräfin sprechen. Sie ist doch im Haus?«

Yvonne antwortete nicht gleich, ihre schwarzen Brauen gingen herunter und standen wie ein Strich über den Augen, die zusehends härter, kälter, mißtrauischer wurden.

»Ja. Ich denke, sie ist auf ihrem Zimmer«, gestand sie endlich. »Ich laß nachsehn ... Jean!« rief sie schrill und schellte.

Der Hausknecht erschien, machte zunächst ein erstauntes Gesicht, als er den jungen Amerikaner erblickte, lächelte aber sofort herzlich, grüßte den Gast freundlich und wandte sich dann fragend an Yvonne, die ihn schroff anwies:

»Dites à Madame la Comtesse que Monsieur le jeune Américain est revenu. Il attend.«

»Mais oui, monsieur«, sagte Jean flink zu dem Gast. »Et votre bagage?« Er sah die Handtasche an. »Vous restez ici?«

»Je ne sais pas, je vous dirai plus tard. Merci«, sagte der junge Mann, als der Hausbursche die Handtasche nun hinter den Schreibtisch stellte.

Jean ging, um die Botschaft zu bestellen. Yvonne machte sich wieder über die Kontobücher, und der junge Mann schritt wartend in einem Zustand nervöser Hochgelauntheit in der Hotelhalle auf und ab. Er hörte – droben im ersten Stock – die alte Frau sprechen – scharf, überrascht, erregt – hörte dann, wie sie die Treppe herunterkam, wandte sich, sah ihr fragend gespanntes, aufmerksames Gesicht und schüttelte bereits tüchtig die klauenhafte, kleine Hand, die sie ihm ungewiß und unwillig reichte, ehe sie noch Zeit hatte, einen Gruß zu stammeln:

»Aber was – warum – wieso – ei, was bringt Sie denn her?« fragte sie. »Ich vermutete Sie längst wieder in Paris. Wo sind Sie gewesen?« fragte sie scharf.

»In Tours«, antwortete er.

»Tours! Aber was haben Sie denn die ganze Zeit dort gemacht? ... Was ist denn mit Ihnen geschehn?« fragte sie, einen begründeten Verdacht äußernd.

»Oh, Gräfin«, sagte er feierlich ernst. »Das ist 'ne lange Geschichte.« Und dann, absichtlich burlesk die große Gewichtigkeit mimend, ließ er seine Stimme leis werden und flüsterte heiser: »Ich bin unter Diebe geraten.«

»Wa-as?« fragte sie mit versagender Stimme. »Was sagen Sie? ... Wollen Sie damit sagen, daß Sie hierher zurückgekommen sind ... daß Sie kein ... Wieviel Geld haben Sie noch?« forschte sie bebend.

Er fuhr mit der Hand in die Hosentasche, fischte herum, brachte seinen Münzenvorrat heraus: – vier Zweifrancsstücke, ein Einfrancstück, zwei Fünfundzwanzig-Centimes-Stücke, ein Zehn- und ein Fünf-Centimes-Stück.

»Das ist alles«, sagte er nachzählend. »Neun Francs und fünfundsechzig Centimes.«

»W-w-w-w-was?« stotterte sie. »Neunfrancsfünfundsechzig? Und Sie sagen, das ist alles, was Sie noch haben?«

»Ja, alles«, meldete er vergnügt. »Aber nachdem ich nun hier bin, macht es ja nichts aus.«

»Hier?!« keuchte sie. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie ... Was haben Sie vor?« forschte sie bebend.

»Oh«, sagte er leichthin. »Ich werde hier warten, bis ich Geld aus Amerika bekomme.«

»Und – wie lang wird das dauern, rechnen Sie?« Fiebrig vor Befürchtung verrenkte die alte Frau die hautigen Finger ihrer verschränkten Hände.

»Oh, nicht lang«, sagte der Luftikus. »Ich hab gestern meiner Mutter geschrieben, die Antwort wird nicht länger als vier bis fünf Wochen auf sich warten lassen.«

»Vier oder fünf Wochen!« rief die alte Frau aus. Sie war heiser vor Aufgeregtheit. »Was wollen Sie denn damit sagen? Vier oder fünf Wochen! Mit neun Francs fünfundsechzig in der Tasche! Mein Gott! Das ist ja verrückt!«

»Oh, deswegen brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen«, sagte er leichthin lachend. »Ich hab' meiner Mutter alles von Ihnen und von Monsieur und Madame Vatel und all meinen anderen Freunden hier geschrieben und ihr erzählt, wie gut Sie zu mir gewesen sind, und wie Sie sich immer der Amerikaner annehmen, und daß sie deshalb ›Little Mother‹ bei ihnen heißen. Ich hab' ihr geschrieben, Sie hätten nicht gütiger gegen mich sein können, wenn Sie meine leibliche Mutter wären, und so brauchte sie sich keine Sorgen um mich zu machen. Also nehm' ich an, diese Seite der Sache ist vollkommen in Ordnung«, schloß er behaglich. »Ich schrieb ihr, ich würde einfach hier im Hotel bleiben und Sie und die Vatels würden dann schon gut für mich sorgen, bis Geld von ihr käme.«

»Hier im Hotel bleiben! ... Vier oder fünf Wochen! ... Pst! Mein Junge, pst!« tuschelte sie. Die kleine knochige Klaue krallte sich krampfhaft in seinen Arm. Die alte Frau warf einen forschenden Blick auf Yvonne, deren dunkler Kopf zwar beflissen über ein Kontobuch gebeugt war, die aber doch durch die gespannte Aufmerksamkeit ihrer Haltung verriet, daß ihr nichts von diesem Gespräch entginge.

»Kommen Sie mit«, wisperte die Gräfin fiebrig und zog den jungen Mann fort in Richtung auf die Treppe. »Kommen Sie mit mir, mein Junge. Ich möchte Sie allein sprechen.«

Sie gingen in den ersten Stock in ein Empfangszimmer, einen verlassenen, abgeschloßnen Raum, der ein wenig muffig roch mit seiner bordellhaft-üppigen Einrichtung in Vergoldung und karminrotem Plüsch. Die Gräfin sah dem jungen Mann ins Gesicht und erklärte frank:

»Hören Sie mal, mein Junge, was Sie da vorhaben, kommt nicht in Frage. Sie können hier unmöglich vier oder fünf Wochen wohnen! Ohne Geld ist das ganz unmöglich! Unmöglich!« rief sie aus, die knochigen kleinen Hände in ständig wachsender Aufgeregtheit verrenkend. »Das ist einfach nicht zu machen!«

Er blickte sie überrascht, ein wenig geschmerzt an.

»Ja warum denn?« fragte er.

»Weil«, erklärte sie, und nun war endlich ihre Stimme schlicht und unvermittelt vor ruhiger Bestimmtheit, – »die Vatels Sie nicht hierbehalten werden – weil sie Ihnen nicht auf so lange Frist Kredit gewähren werden –«

»Ja, und Sie?« fragte er ruhig.

»Mein Freund«, antwortete die alte Frau schlicht. »Ich habe es nicht.« Die knochigen kleinen Schultern gingen in einem Achselzucken hoch. »Im Augenblick habe ich überhaupt nichts, nicht einmal einen Sou! Ich kriege am ersten und fünfzehnten jeden Monats ein bißchen Geld aus Amerika geschickt, – ... wenn ich es hätte, würde ich's Ihnen geben, aber ich hab' zur Zeit nichts. Und das, was ich kriege, wäre annähernd genug, um Ihre Ausgaben auf vier oder fünf Wochen hinaus hier zu decken. Da ist einfach nichts zu machen.«

Zum erstenmal seit dem Wiedersehn empfand er nun Respekt und Sympathie für diese Frau; angesichts ihres schlichten, aufrichtig unverblümten Eingeständnisses war seine vorherige, zynisch-spöttische Laune vergangen. Er sagte:

»In diesem Fall freilich ist nichts zu machen. Da haben Sie recht. Da muß ich zusehen, daß ich woanders her geholfen kriege.«

»Sie haben Freunde in Paris, nicht wahr? Sie kennen Leute dort, Landsleute, meine ich, Amerikaner?«

»Ja, – ich glaube schon, daß man mir aushelfen würde, wenn ich in Paris wäre.«

»Dann werd ich versuchen, Ihnen zu helfen, daß Sie bis Paris kommen«, sagte sie schnell. »Wieviel brauchen Sie da?«

»Die Fahrt dritter Klasse wird ungefähr siebzehn Francs kosten.«

»Und Sie haben noch – wieviel? Neunfrancsfünfundsechzig, nicht?« Sie rechnete schnell, schwieg eine kleine Weile, dann erklärte sie mit entschiedner Miene, während die peinliche Verlegenheit der unangenehmen Aufgabe ihr eine leichte Röte in die welken Wangen trieb: »Wenn Sie hier warten wollen, werd ich heruntergehn und sehn, was ich bei diesen Leuten ausrichten kann ... Ich weiß zwar nicht ...« Sie errötete tiefer. »Nun, jedenfalls werd ich's versuchen.«

Sie ging. Alsbald hörte er schnell und erregt die durcheinandersprechenden Stimmen im Erdgeschoß. Zehn Minuten später kam die alte Frau zurück. In der Hand hatte sie einen Zehn-Francs-Schein.

»Hier«, sagte sie und reichte ihm das Geld. »Mit dem, was Sie noch haben, wird es für die Fahrt nach Paris reichen. Ich hab' mich erkundigt. In zwanzig Minuten geht ein Zug. Nun, mein Junge«, sagte sie schnell und griff nach seinem Arm, »nun müssen Sie gehn. Sie haben gerade Zeit, die Fahrkarte zu kaufen und einzusteigen. Zeit zu verlieren haben Sie nicht.«

Er war überrascht und enttäuscht über die kärgliche Genauigkeit der Anleihe; er hatte den ganzen Tag nichts gegessen, und nun, als ihm klar ward, daß ihm kein Geld zum Essen übrigbliebe, als er einsah, daß er auf unbestimmte Zeit hinaus fasten müsse, nun verspürte er einen rasenden Hunger. Nun war er es, der vor Verlegenheit errötete, und nur mit Schwierigkeit und Zögern brachte er im nächsten Augenblick heraus:

»Ob die Leute hier mir wohl schnell noch ein belegtes Brot geben würden? ... Ich hab' noch nichts gegessen ...«

Sie antwortete nicht; er sah, wie die tiefe Röte in die vergilbten Hagerwangen stieg, er bedauerte sofort, sie mit dieser Frage nochmals in peinliche Verlegenheit gebracht zu haben, und erklärte schnell:

»Nein, nein, das ist unwichtig. Ich krieg schon zu essen, wenn ich nach Paris komme. Außerdem hab' ich ja ohnehin keine Zeit mehr. Ich muß zum Zug.«

»Ja«, sagte sie sofort, sichtlich erleichtert. »Diesen Zug müssen Sie unbedingt erreichen. Das ist das beste ... Und so, mein Junge, beeilen Sie sich. Zeit zu verlieren haben Sie nicht.«

»Leben Sie wohl, Gräfin«, sagte er und nahm ihre Hand. Und nun empfand er plötzlich eine tiefe, ehrfurchtsvolle Zuneigung für die alte, einsame, mittellose Frau. »Sie haben wirklich wie ein Freund an mir gehandelt. Es tut mir leid, daß ich Ihnen diese peinliche Schererei bereiten mußte. Ich werde Ihnen das Geld von Paris zurückschicken. Leben Sie wohl nun, ich wünsch Ihnen alles Gute.«

Als sie antwortete, tat sie es mit leiser Stimme, und ihre Augen waren traurig und ruhig resigniert.

»Ach«, sagte sie, »ich befürchtete, daß Ihnen gerade das zustoßen würde. Ich hab' so viele Amerikaner gekannt, – sie sind so verwegen und verschwenderisch und wissen nicht, daß man auf das Geld achtgeben muß ... Leben Sie wohl, mein Junge«, sagte sie dann und drückte seine Hand. »Geben Sie gut auf sich acht, damit Sie nicht weiter in Schwierigkeiten geraten ... Lassen Sie mich mal wissen, ob es Ihnen gut geht ... Leben Sie wohl, leben Sie wohl ... Ach, Sie sind ja noch so jung, nicht wahr? Eines Tages werden Sie verstehen ... Leben Sie wohl, Gott segne Sie! Und nun müssen Sie sich beeilen – – Leben Sie wohl.«

Sie folgte ihm, als er eilig die Treppe hinunterging, sie blieb stehn und sah ihm zum Abschied nach. Seine Handtasche war bereits vor den Eingang zum Geschäftszimmer gestellt worden, so daß er sie bloß noch zu nehmen brauchte.

Yvonne und Madame Vatel warteten stillschweigend im Geschäftszimmer. Yvonne grüßte überhaupt nicht; als er Madame Vatel grüßte, reckte sie ein wenig den Kopf (so, wie ein Huhn den Kopf reckt) und sagte kalt: »Monsieur.«

Er packte seine Handtasche und hinkte schnell zur Tür. Dort hielt er inne, wandte sich um, sah die Gräfin, die noch auf der Treppe stand und ihm mit alten, traurigen Augen nachsah.

»Leben Sie wohl, Gräfin, leben Sie wohl«, rief er fröhlich zurück.

»Leben Sie wohl, mein Junge!« Ihre Stimme war so müd, alt und traurig, daß er sie kaum verstehen konnte.

Dann hinkte er schnell vom Hotel über den Platz, auf den Bahnhof, auf den Zug zu.

 

Den ganzen Nachmittag hindurch rumpelte der Zug durch die fette, fruchtbare Gegend. Eine späte Sonne brach durch zerriss'ne, feuergoldne Wolken, ein wildes, strahlendes Licht, in dem des Frühlings Verkündigung war. Im Abteil saß außer dem jungen Amerikaner noch ein einziger Fahrgast, ein blutjunger Soldat, achtzehn Jahre alt, hochgeschossen, linkisch, mit großen Händen, langen Beinen und großen Füßen, und der Bursche sah plumper aus, als er in Wirklichkeit war, in seinen dickbesohlten Militärschnürschuhen, seiner weiten, ins Olive verschossenen, horizontblauen Uniform und den groben, dicken Wickelgamaschen.

Der Junge hatte ein freundliches, olivenfarbnes Gesicht, das von Pickeln ein wenig entstellt war und auch dadurch, daß er sein fisseliges Barthaar noch nicht rasierte. Er redete dauernd, freundlich gleichgültig gegenüber der Aussprache und dem Gehaben seines ausländischen Reisegefährten, liebenswürdig geschwätzig in seiner heiseren Jungenstimme.

Um die Mitte des Nachmittags begann der Junge, mehrere Päckchen aus den erstaunlichen Hinderlichkeiten militärischer Ausrüstung, die ihn umgaben, hervorzukramen. So holte er mit ernster Feiermiene aus einer Manteltasche eine ungeheuerlich große Sardinenbüchse hervor. Aus einem Paket schälte er eine riesige Flasche Wein, und mit derselben Gewichtigkeit zog er einen meterlangen krustigen Brotlaib aus einer Einwickelzeitung.

Und dann, immer mit derselben sachlichen Sammlung, machte er die Sardinenbüchse auf, zog er den Kork aus der Weinflasche, nahm er einen herzhaften Einleitungsschluck, zückte er ein Taschenmesser, klappte er eine gefährlich aussehende Fünfzentimeterklinge auf, klemmte er den Laib fest zwischen die Knie und säbelte sich, brustwärts schneidend, einen tüchtigen Runken ab. Nachdem er alsdann das Brot beiseite gelegt hatte, spießte er mit blitzender Klinge eine Sardine an, schlappte sie auf den Brotrunken, nahm wieder einen herzhaften Schluck Wein und begann, das belegte Brot nach dem ihm zugedachten Bestimmungsort zu befördern, wobei er eine zwar vom Wamschen erstickte, sonst jedoch durch nichts gehemmte Unterhaltung mit dem Mitreisenden führte.

Und dieser Mitreisende verspürte angesicht dieser groben, aber appetitlichen Zehr wieder einen so ruppigen, reißenden, rasenden Hunger, daß der unbezwingbare Wunsch mitzuhalten geradezu auf seinen Mienen erschienen sein muß. Jedenfalls, der junge Soldat ließ, mit vollen Backen kauend, ein paar unverständliche, freundliche Laute vernehmen, unter denen einzig ein aufforderndes »Mangez!« schlechthin vernehmlich war, schob dann plötzlich Laib, Flasche, Messer und Sardinenbüchse dem ausgedarbten Gefährten zu, und den Ausruf durch eine rüde Ermutigungsgebärde unterstützend, prustete er wiederum:

»Mangez!«

Eines nochmaligen Geheischs bedurfte es bei diesem Mitreisenden nicht. Gefräßig langte er zu und labte sich an Sardinen, Wein und krustigem Brot; die beiden saßen mit Begeisterung futternd im Abteil, brachten dann und wann erstickte, verwamschte Wortlaute hervor und grinsten einander freundlich an.

Nichts, was der junge Mann je gegessen hatte, hatte ihm so geschmeckt wie diese derbe Kost. Der starke Landwein walmte warm in seinen Adern, wohlig warm glomm ihm das Essen im dankbaren Bauch, und draußen war die Sonne in Schäften durch gold- und bronzefetziges Gewölk gebrochen, und über dem Rädergang konnte er aus einem andern Abteil herzhaft herausgebrülltes Bauernlachen hören und die hohe, üppige Sanguinikerstimme eines Franzosen, der »Parbleu!« rief.

Und so fuhr er nach Paris zurück, ohne einen Pfennig, ohne einen Plan oder Vorsatz, und Sorgen oder Schmerzen oder Gedanken machte er sich deswegen nicht; er verspürte nichts außer einer wilden Freude, einer frohlockenden Glückseligkeit, so, wie er sie nie zuvor empfunden hatte. Warum, wußte er nicht.


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