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IX

Der erste Zusammenstoß mit der Stadt hatte ihn betäubt. Wie ein Schwimmer in tosender Sturmflut nach Halt sucht, suchte er im unaufhörlichen Schwall der Gesichter nach einem Gesicht, das er kenne und sein eigen nennen dürfe. Plötzlich fiel ihm sein Onkel Bascom ein. Als seine Mutter ihm aufgetragen hatte, er solle seinen Onkel und dessen Angehörige sobald als möglich aufsuchen, hatte er genickt und eine selbstverständliche Zustimmung gemurmelt. Damals jedoch waren ihm Herz und inneres Auge so völlig vom Traum von der glänzenden Stadt bezaubert gewesen, daß er es nicht für möglich gehalten hätte, er würde sich je im Ernst um Geselligkeit und Trost an den alten Mann wenden müssen. Und – bereits am ersten Tag nach seiner Ankunft – blätterte er hastig im Fernsprechverzeichnis, um die Geschäftsanschrift seines Onkels auszufinden, und mit unwirklicher Wucht starrte ihm da der vertraute Name Bascom Pentland aus der dichtbedruckten Seite entgegen. Ein paar Sekunden später vernahm er über die Leitung eine betretene Stimme, die ihm seltsam unirdisch, aus einem Irgendwo im Sternenraum, herzuklingen schien. Wie ein sengender Blitz traf ihn die Wiedererkenntnis: es war die Stimme des Onkels, die er, als er zwölf war, also vor acht Jahren, zum letztenmal gehört hatte.

»O hallo, hallo, hallo! Wie geht's, wie geht's, wie geht's, mein Junge? Stell Dir vor ...« – Die Stimme, unirdisch und fern wie ein leises Geheul, ging hier mit einer komisch-plötzlichen Schwankung ins Sachliche über – »... Stell Dir vor, daß ich bereits mit Deinem Kommen rechnete, denn ich hatte heute früh Post von Deiner Mutter, die mir schrieb, daß Du unterwegs wärst!«

»Kann ich jetzt gleich mal zu Dir 'nüberkommen, Onkel Bascom?«

Und die leidenschaftliche Geisterstimme antwortete begeistert: »Oh! auf jeden Fall, auf jeden Fall, auf jeden Fall! Ja, komm sofort, mein Junge, auf jeden Fall! ... Und hör mal, mein Junge, ... da ich Dich doch unerfahren und zum erstenmal in einer Großstadt weiß, möchte ich Dir – Deine Herfindung betreffend – ein paar kurze und, so hoffe ich, klar verständliche Anweisungen geben ...«

Eugen konnte hören, wie sein Onkel wollüstig-genüßlich mit den Lippen schmatzte, als er diesen letzten Satz aussprach; ganz besonders schien er sich an der Wendung Deine Her-fin-dung betreffend zu erfreuen. Es folgten dann die die Herfindung betreffenden Anweisungen, – Anweisungen in der Tat von komischer, pedantisch-genauer Umständlichkeit und von einer labyrinthisch-bestürzenden Fülle. Schließlich, über die Verwirrung stiftende Sorgfalt seiner Angaben hochbefriedigt, kam Bascom zu Ende, und auf die Versicherung des Neffen hin, er würde sich sofort auf den Weg machen, hing er mit einem Lebewohl ab. Somit war Eugens Wiedersehn mit seinem Onkel in die Wege geleitet.

Eugen fand den Alten kaum verändert. Bascom gehörte zu jenem Menschenschlag, der es fertigbringt, sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt gleichzubleiben. Er war wohl ein wenig mehr ergraut, die hohe, flechsig-dürre, vornübergebeugte Gestalt ging vielleicht ein wenig gebückter, die Schrulligkeiten seiner Aussprache und seines Gehabens waren womöglich noch betonter, – aber im großen ganzen war Bascom derselbe, den der Neffe vor acht Jahren gekannt hatte. Tatsächlich bleibt es zweifelhaft, ob Bascom sich in den letzten dreißig Jahren überhaupt merklich verändert hatte; die Geschäftsleute an der Bostoner State Street, für die seine Erscheinung zu der unumstößlichen Ordnung des Tages gehörte, hätten es jedenfalls bestimmt bestritten.

Jeden Werktagmorgen kurz vor neun enttauchte Bascom dem Untergrundbahnhof, der am oberen Ende dieser Straße liegt. Am Ausgang blieb er eine Weile unschlüssig stehn, während der Strom der Werktätigen, um das ragende Hindernis herumstrudelnd, eilig weiterschäumte. Bascom krallte sich die großen, klapperdürren Hände in den mageren Leib und schnitt unter krampfhaften Hals- und Kinnverrenkungen eine Serie furchtsam-furchtbarer Abwehrfratzen: die mageren, ungemein beweglichen Gesichtszüge verzerrten sich, die kleinen, scharfen Augen wurden winzig, die gummiartig elastischen Lippen schnellten vor und zurück, er fletschte gräßlich grinsend die Roßzähne. Sodann blickte er schnell nach beiden Seiten aus, offenbar aber tat er dies ohne Wahrnehmung, denn er machte sich stets sofort daran, die Straße zu überqueren. Manchmal war dann tatsächlich Übergangszeit für Fußgänger, ebensogut aber konnte es sein, daß Bascom sich mitten in den tollsten Fahrverkehr begab ... daß Hupen gellten, Bremsen kreischten, Flüche schallten, während er sich in Sicherheit brachte, oder aber, was häufiger der Fall war, von dem diensttuenden Verkehrspolizisten vor den jäh gestoppten Kraftwagen gerettet wurde.

Bascom war ein Mann des Schicksals; er entkam stets. Einmal zwar hatte so eine hirnlose Fahrmaschine, die augenscheinlich kein Organ für Männer des Schicksals besaß, ihn bös zu Fall gebracht; ein andermal hatte ihn ein ungelehriges Rad für einen gewöhnlichen Sterblichen gehalten und war ihm über die äußerste Schuhspitze gefahren, – Bascom jedoch entkam stets. Er war ein Mann des Schicksals, und jene gütige Vorsehung, die Kinder und Blinde behütet, wachte liebend über ihn. Der Verkehrsschutzmann, ein junger, kräftiger Ire mit einem roten Gesicht und einem Gorillamund hatte da merkwürdige Erfahrungen an sich gemacht: der Zorn von einst war verraucht, der Vorrat der Flüche erschöpft, und auch die Tage der stumpfen Resignation waren vorübergegangen. Er empfand nun eine hirtenhafte Zuneigung für das verirrte Schaf und paßte allmorgendlich auf. Hatte sich der Sonderling dennoch unversehens in Gefahr begeben, dann schrillte sofort die Pfeife, der Polizist erschien, nahm Bascom am Arm und geleitete ihn in Sicherheit. Zärtlich besorgt tastete er den Alten ab und erkundigte sich eingehend, ob dieser auch ja nicht verletzt wäre. Er redete Bascom, der dem Alter nach sein Großvater hätte sein können, mit »Brüderchen« an, aber Bascom war dann noch so erschüttert und entsetzt, daß er auf die Fragen seines Betreuers nur mit einem aufheulenden »Au! Au! Au! Au!« antworten konnte.

Hatte er sich etwas gefaßt, wenn auch nicht gerade beruhigt, so legte er los mit einer Bannpredigt auf Kraftwagen und deren Besitzer; es klang, als rufe ein erzürnter Prophet vom Berge herab in die andächtige Feierstille der Täler. Bascom hatte eine unvergeßliche Stimme: hoch, heiser, erregt, tatsächlich ein wenig heulend, keineswegs laut, aber sehr weittragend und stets klarverständlich; es war die Stimme eines großen Kanzelredners, voll von unirdischer Leidenschaft und wie aus großen Fernen herdringend; man hatte das Gefühl, diese Stimme gehöre in eine Kirche, und in Kirchen, in vielen Kirchen übrigens, war sie einst auch tatsächlich vernommen worden in Predigten von großer Überzeugungskraft. Bascom war Geistlicher gewesen, und im Lauf seines langen und bemerkenswerten Lebens hatte er sich zu verschiedenen Zeiten zu den Glaubensbekenntnissen der Episkopalianer, Presbyterianer, Methodisten, Baptisten und Unitarier bekannt.

Nun stand er, mit knapper Not dem Unheil entronnen, an der Straßenecke und predigte mit großer, feierlicher Beredsamkeit, er schmückte seine Rede mit ein paar wohlgewählten Stellen aus den heftigeren Propheten des Alten Bundes, weissagte den Tod, den Untergang und die Verdammnis des gesamten Kraftfahrzeugwesens und aller, die damit zu tun haben, bezog sich auf den Tag des Jüngsten Gerichts und der großen Abrechnung und gedachte dabei der Karossen des Moloch und der Tiere der Apokalypse. Wenn sich, was zuweilen vorkam, ein Kraftfahrer mit ihm einließ, wurde die Sache sehr spannend.

»Was ist denn mit Ihnen los? Haben die Irrenwärter Sie ausgelassen, was?« mochte so ein Geärgerter oder Gekränkter sagen. »Sind Sie blind? Oder bilden Sie sich ein, Sie wären auf einer Kuhweide? Sie verstehen wohl die Signale nicht? Sie können wohl nicht lesen, ob da Stop oder Go steht, was? Haben Sie nicht gesehn, daß der Schutzmann die Hand gehoben hat? Haben Sie je von der Verkehrsordnung gehört?«

»Die Ver-kehrs-ord-nung! Die Ver-kehrs-ord-nung!!« höhnte Bascom voll erhabenen Ingrimms zurück. Er gliederte und betonte seine Worte nun auf die pedantische Weise der Aussprache-Puristen, deren dünkelhaft-genaue Hochlautung zu verstehen gibt, daß andre Leute mit der Sprache Schindluder treiben, während sie – sie ganz allein – am unbesudelten Quell der Rede schöpfen. » Sie wagen es, mir von der Ver-kehrs-ord-nung zu reden! Mir!!« Er schlug sich auf die Brust und reckte einen empörten Zeigefinger so, als hätte ein schmutziger Emporkömmling einem erlauchten Propheten widersprochen. » Mir, Sie kläglicher Nichtswisser! Mir, Sie ungebildeter Rohling! Mir, der ich doch bezweifeln muß, daß Sie das Gesetz weder lesen und verstehen könnten, wenn Sie es vor sich hätten, noch auch es alsdann auszulegen und zu deuten wüßten!«

»Höh! So, das ist's also!« meinte der Kraftfahrer erbost. »Sie sind wohl so'n Siebengescheiter, was? Na, hör'n Se mal, so Leute wie Sie sind's, die immer drauf warten, daß Ihnen mal die Faust aufs Auge paßt. Und wenn Se nicht so alt wären, hätten Se schon längst eine sitzen!« Das Gesicht des Erbosten drückte aus, welch innige Befriedigung ihm diese Vorstellung gewährte.

»Au! Au! Au!« heulte Bascom jählings erschreckt.

»Wenn Se schon so gescheit sein wollen, wie Se sich einbilden, dann sagen Se doch mal, was die Verkehrsordnung vorschreibt!«

Und jetzt hatte der Kraftfahrer das Spiel verloren, denn Wort für Wort nun, in peinlichst deutlicher Aussprache, zitierte Bascom das Gesetz, oder vielmehr die Gesetze, wobei er sich vor Wonne die Lippen leckte über die langwindig-genaue juristische Diktion. »... Und weiterhin«, heulte er, »der Commonwealth von Massachusetts hat dekretiert durch ein irrevokables, inexorables, Anno 1856 gebuchtes Statut, daß jegliche Art von Vehikel, habe es zwei, vier, sechs, acht oder jede beliebige andre Anzahl von Rädern, laufe es auf Kufen oder Rollen, stehe es im Dienst der Öffentlichkeit oder gehöre es einem Privateigentümer, werde es von seinem Besitzer oder einem Fahrer oder von wem auch immer gelenkt, geleitet oder gesteuert ...« Aber der Kraftfahrer hatte dann längst genug gehört und sich aus dem Staub gemacht.

An den glücklicheren Tagen jedoch, an denen Bascom blindbehütet und unbehelligt die rasende Gefahr bestanden hatte, eilte er sofort, die Hände noch immer in den hageren Leib gekrallt und die Miene heftig verziehend, die State Street hinunter, wo er in einem stattlichen, großen, rußgeschwärzten Steinbau verschwand, einem sehr gediegenen, unauffälligen Office-Building, das um 1900 gebaut sein mochte und der alten, ungeheuer reichen Corporation gehörte, die auf der andern Seite des Charles River, in Cambridge, ihren Hauptbesitz hat und Harvard Universität heißt. Ein nicht gerade neuzeitlicher, aber auch durchaus nicht ausgedienter Fahrstuhl brachte ihn aus der mit Marmorfliesen belegten Eingangshalle im Erdgeschoß in den siebenten Stock hinauf. Die Hände noch immer auf den Magen gekrallt, den Mund verziehend, sich vorsichtig nach links und rechts gegen mutmaßliche Gefahren sichernd, durcheilte er dann zwei Korridore – erst linker Hand hinunter, dann rechts ab, stets an Türen vorbei, hinter denen bereits mit Papieren geraschelt und an Schreibmaschinen prüfend geklickert wurde – und stand schließlich vor der Tür zu einem Business-Office, auf deren Blindscheibe in kühnen Lettern folgendes zu lesen war: The John T. Brill Realty Company, Houses for Rent or Sale; und darunter in kleineren Lettern: Bascom Pentland, Attorney at Law, Conveyancer and Title Expert.

In der State Street oder wo er auch immer erscheinen mochte, der Sonderling Bascom Pentland wäre überall aufgefallen, hätte überall von sich reden gemacht. Er war bestimmt über einen Meter neunzig groß, aber wieviel ihm an zwei Meter fehlte, ließ sich nicht schätzen, weil er sich nie aufrecht hielt. Er war immer stark vornübergebeugt gegangen, und mit den Jahren hatte sich die gebückte Haltung so verfestigt, daß die lange, knochig-flechsige, hickory-zähe Gestalt wie verwachsen wirkte. Der Alte gehörte zu jenem Schlag Menschen, von denen es scheint, sie könnten sich weder abnützen, noch altern oder auch sterben. Leute dieser Art erreichen gewöhnlich ein sehr hohes Alter und sterben dann über Nacht, ohne daß ein Schwinden der Kräfte oder ein Hinfälligwerden an ihnen bemerkbar gewesen wäre; an ihren gewissermaßen mumifizierten Fibern und Fasern ist nichts, was vom Verfall angefressen werden könnte; ihre Dauerhaftigkeit erinnert an Granit.

Bascom Pentlands eckige Gestalt war angetan mit einer Auswahl von ausgefallenen Kleidungsstücken, die aus ebenso dauerhaftem Stoff gemacht zu sein schienen wie ihr Träger. Die Stücke waren zwar unheimlich alt und getragen, schienen jedoch unverwüstlich zu sein. Dem allgemeinen Aussehen und dem Schnitt nach ließ sich annehmen, daß sich dieser genügsame Gemütsmensch in den achtziger oder neunziger Jahren einmal Kleider angeschafft hätte, die es ihm auf ewig tun sollten. Der Rock, ursprünglich von einem dunklen, stumpfen Pfeffer-und-Salz-Grau, war nun grün verschossen und viel zu kurz; er saß an dem dürren, hageren Gestell wie ein lächerliches Jankerjäckchen; er spannte über den schmalen, eingezogenen Schultern, und die knorpelholzigen Hände ragten mit einem unheimlich langen Stück Unterarm aus den knappen Ärmeln hervor. Auch die Hosen waren eng und knapp; sie waren von einem heller grauen, rauhen dermaleinst flauschig gewesenen Wollstoff, von dem nun aller Nupf abgetragen war. Bascom trug grobe, mit Rohlederriemen geschnürte Farmerschuhe und hatte ein Hütchen auf dem Kopf, einen komischen, alten, flachen, abgegriffenen Filzdeckel, dessen frühere Schwärze besonders am Rand stark nach Grün hinüberschimmerte. Wer sich das alles vorstellt, kann ohne weiteres verstehen, warum der Verkehrsschutzmann an der State Street seinen Schützling mit »Brüderchen« anredete, denn der Alte stand da in einem Aufzug, in den gezwängt etwa ein hinterwäldlerischer Jungbursch in den achtziger Jahren, eine Düte mit pappigen Gutseln in der Hand, seinem Herzensschatz einen Besuch abgestattet hätte. Um den Hals trug Bascom eine kleine, verkordelte Schleifbinde und einen reinlichen, aber abgewetzten Kragen, dessen bläuliches, leicht-krumpeliges Aussehen die Vermutung zuließ, daß er ihn selbst gewaschen und gebügelt habe, was denn auch stimmte: Bascom wusch nicht nur seine Wäsche selbst, er war auch sein eigner Flickschneider und Fleckschuster. Also bekleidet lief Bascom Sommer wie Winter herum, und an dieser Aufmachung änderte sich nie etwas, außer daß im Winter eine alte blaue Strickjacke dazu kam, die er bis ans Kinn zugeknöpft trug, und deren ausgefranste Enden mehrere Zoll unter dem Jäckchen und aus dessen knappen Ärmeln hervorstießen. Niemand hatte ihn je in einem Mantel gesehn, selbst nicht an den kältesten Tagen jener langen, rauhen, mächtigen Winter, denen Boston ausgesetzt ist.

Daß der Mann verrückt war, war auf seinen Mienen zu lesen, und daß er nicht arm wäre, schienen ihm die Leute anzumerken. Sie stießen einander an und sprachen:

– »Guck Dir den alten Kauz da an! Man sollte meinen, der wartet nur darauf, daß ihm die Heilsarmee 'nen Happen gönnt, nicht wahr? Weit gefehlt! Der hat's, Bruder. Glaub' mir, der hat sein Schäfchen im trocknen! Der hat 'nen schönen Strumpf voll! Der hat's eingepökelt, dort, wo keiner drankann!«

– »Da möchte man wirklich bloß wissen, wie das Geld so einem alten Vogel guttut. Mit ins Grab nehmen kann er's doch nicht!« sagte ein andrer drauf, worauf der erste meinte:

»Recht haste, Bruder«,– und somit bog das Gespräch in die Bahnen der Lebensweisheit ein.

Bascom war sich seiner Knickerigkeit wohl bewußt. Wenn er auch gelegentlich versicherte, er wäre »bloß ein armer Mann«, so war ihm doch klar, daß er vor seinen Mitarbeitern im Geschäft seine übertriebene Sparsamkeit nicht mit Gründen der Armut rechtfertigen könne. Diese Männer machten sich einen Spaß draus, zu Bascom zu sagen: »Kommen Sie mit, Pentland. Gehn wir Mittag essen. Im Parker House kriegen Sie 'nen anständigen Lunch für 'n paar Dollars.« Oder: »Sagen Sie mal, Pentland, ich weiß 'nen Laden, wo grad Wintermäntel im Ausverkauf zu haben sind. Ich hab' da einen tadellosen Mantel für Ihre Figur gesehen, für sechzig Dollars ist er feil.« Oder: »Suchen Sie vielleicht 'ne gute Wäscherei, Ehrwürden? Ich weiß Ihnen da ein paar Chinesen, die wirklich zuverlässig arbeiten.«

Worauf denn Bascom, als echter Knauser nie um eine Ausflucht verlegen, naserümpfend erklärte: »Nein, mich werden Sie nicht in so einem übelriechenden Restaurant ertappen. Dort wissen Sie nie, was Sie kriegen. Wenn Sie auch nur einmal in so einen dreckigen Küchenbetrieb 'neingeguckt hätten, wäre Ihnen der Appetit auf immer vergangen.« Er hegte Vorurteile über den Wert und die Zuträglichkeit von Lebensmitteln, Vorurteile, zu denen ihn der Geiz gebracht hatte. So erklärte er, in »seinen jungen Tagen hätte er sich am Wirtshausessen den Magen ruiniert«; so malte er die widerlichsten Bilder von »Küchenbetrieben« und fragte dann: »Sie glauben wohl, es schmeckt besser, wenn so ein stinkender Nigger seine Schmutzpfoten an den Speisen gehabt hat? Puh-Puh-Puh!«; so war er bitter geladen auf »schwere und reich zubereitete Speisen« und behauptete, sie hätten »mehr Menschenleben gekostet als alle Kriege seit Beginn der Weltgeschichte zusammengenommen«.

Mit den Jahren hatte er sich mehr und mehr von der gesunden Reinheit der »Rohkost« überzeugt, er bereitete sich zu Haus seine Mahlzeiten selber, gemischte Platten aus gehäckselten und geraffelten Gelberüben, Roterüben, Weißrüben und ungekochten Kartoffeln, die er dann bei Tisch genüßlich mit den Lippen schmatzend verzehrte, wobei er seiner Gattin erklärte: »Du magst Dich mit Roastbeef und Austern und Truthahn vergiften, solang's Dir beliebt, mich wirst Du nie dabei ertappen, daß ich so ein Zeug anrühre. Nicht im Leben! Ich gebe auf meinen Magen acht.« In diesem Falle jedoch muß sich der Gebrauch des Pronomens Du statt persönlich aufs Allgemeine bezogen haben, denn hätte die Langlebigkeit seiner Gattin vom Nichtgenuß von »Roastbeef, Austern und Truthahn« abgehangen, dann wäre dem ewigen Erdenleben dieser Dame wahrlich nichts im Wege gestanden.

Handelte es sich um die Kleiderfrage oder genauer: darum, wie man sich im Bostoner Winter dagegen schützt, daß einem das Mark in den Knochen erfriert, so heulte Bascom hohnvoll: »Einen Mantel! Im Leben nicht! Ich gebe keine zwei Cents für alle Mäntel der Welt! Das einzige, wozu sie taugen, ist die Bazillenfängerei! So holt man sich Erkältungen und Lungenentzündungen. Ich habe seit dreißig Jahren keinen Mantel getragen, und deswegen habe ich mich niemals erkältet, ja, niemals auch nur den Schatten von einer Spur von einem Schnupfen gehabt.« Diese letztere Behauptung entsprach freilich nicht ganz den Tatsachen, denn Bascom war jeden Winter zwei- bis dreimal richtig erkältet und erklärte dann, es gäbe auf der Welt kein gehässigeres, trügerischeres und verdammungswürdigeres Wetter als den Bostoner Winter.

Geschah der Sache mit der Wäscherei Erwähnung, dann erklärte Bascom verächtlich, seine Hemden und Kragen würde er nie aus dem Haus geben und einen alten dreckigen Chinesen drauf herumhocken und daranspucken lassen. »Ja! Das tun sie!« erklärte er ergötzt, denn solche Vorstellungen bereiteten ihm eine heimliche Freude, »und dann bügeln sie's auch fein hinein in die Wäsche, und Sie können in Chinesenspucke gekleidet herumlaufen! Puh! Puh! Puh!« Hier schnitt er eine Fratze, zog eine Schnute und lachte triumphierend-befriedigt durch die Nase.

Dies also war der Onkel Bascom, der nun in seinem staubigen kleinen Büro stand, die Hände vor dem Bauch gefaltet, während sein Neffe ihn zu besuchen eilte. Eugen hatte trotz der verwirrenden Fülle der die Herfindung betreffenden Anweisungen das Business-Office recht leicht gefunden, er trat ein, und einen Augenblick später schüttelte ihm sein Onkel mächtig die Hand und heulte ihm mit der Stimme des Propheten vom Berge, ganz wie vor acht Jahren, entgegen:

»Oh, hallo, hallo, hallo! ... Wie geht's, wie geht's, wie geht's? Sag doch, wie geht's denn?!« Unvermittelt plötzlich dann wandte sich der Onkel um und richtete das Wort an mehrere Leute im Büro, die den jungen Menschen neugierig anstarrten: »Ich mache Sie alle hiermit mit dem jüngsten Sohn meiner Schwester bekannt ... mein Neffe, Mr. Eugen Gant ... und sagen Sie mal ...« Seine Stimme bekam den Ton vertrauensseliger Einflüsterung und schien aus größeren Fernen zu kommen als zuvor. – »Würden Sie nicht auf den ersten Blick sehen, daß er ein Pentland ist? Ist die Familienähnlichkeit nicht ganz offenbar?« Bascom schmatzte genüßlich mit den Lippen, warf plötzlich begeistert seine langen, hageren Arme in die Luft und ließ sie wieder fallen, fing an zu tanzen, wobei er allen Gegenständen in Reichweite seiner langen, dürren Beine Tritte versetzte, und heulte wie ein Trunkener: »Ja! O ja! O ja!! ... Es ist offenbar! ... Er ist ein Pentland! ... Es besteht kein Schatten von einer Spur von einem Zweifel! ... O ja! O ja, o ja-ja!« Und er stampfte und tanzte und versetzte Gegenständen Tritte und lachte durch die Nase und heulte verzückt und beglückt wie ein Trunkener, bis sich sein Freudentaumel ein wenig gelegt hatte. Alsdann ruhiger, wenn auch nicht völlig beruhigt, stellte er den Neffen jedem der Anwesenden einzeln vor, nämlich den vier Personen, die in der Immobilienmaklerfirma arbeiteten, in der Bascom Geschäftspartner war. Und so machte Eugen Bekanntschaft mit den Leuten im Business-Office seines Onkels, mit einem Office und Leuten, die er im Lauf der folgenden Jahre Hunderte von Malen wiedersah, und deren Dasein sich ihm so ins Bewußtsein verwob, daß er sich später genau noch an alles erinnerte.

Das Office bestand aus zwei großen Räumen, die L-förmig nebeneinander im Ellenbogenwinkel des Gebäudes lagen. Durch die Fenster des Raums an der Hofseite sah man hinaus auf zwei Flügel des Gebäudes; man blickte da Fenster um Fenster in andre Zimmer und in den Betrieb von einem Dutzend geschäftlicher Unternehmen, sah wie Diktat aufgenommen, Schreibmaschine geklappert und telephoniert wurde, sah, wie da und dort jemand gewichtig hin und her schritt, und mit bestürzender Häufigkeit konnte man immer wieder sehen, wie Leute dasaßen, die Füße ruhevoll auf das nächststehende Möbelstück gestreckt, die Hände hinterm Haupt verschränkt, und andächtig-verträumt an die Decke starrten.

Durch die breiten, meist recht schmutzigen Fenster des Raums auf der Straßenseite hatte man einen Blick auf die Faneuil Hall und auf das herrliche und erregende Leben der Märkte. Im Gegensatz zu diesen Großartigkeiten des Ausblicks wirkte dieser größere Geschäftsraum besonders trübselig, denn an ihm war wirklich nichts, was im Sinne der Reisehandbücher eine Sehenswürdigkeit darstellte. Er war schlecht und recht ein unliebliches Gegenstück zu einigen Millionen von anderen unlieblichen Geschäftsräumen in den Vereinigten Staaten. Da waren: ein paar Stühle, zwei große Schreibtische mit Rollzugaufsätzen, ein Schreibmaschinentisch, ein verbeulter Stahlschrank, auf dem ein Stoß abgegriffener Kontobücher lag; ein Satz grüner, aufeinandersetzbarer Kastengestelle mit Korrespondenzordnern; ein Ständer und darauf eine grünliche, fettige Wasserflasche, die stets halb voll war mit einer rostigen Flüssigkeit, von der niemand trank; und schließlich zwei Spucknäpfe, die für Brill in Bereitschaft standen, den Leiter des Unternehmens, einen Mann, der ständig Tabak kaute und nach allen Richtungen hin spuckte. Dies machte – bis auf die Pappdeckeltafeln – die gesamte Ausstattung aus, und der nach der Hofseite gelegene andere Raum war ebenso eingerichtet. Die Pappdeckeltafeln hingen überall an den Wänden; sie waren für die Kundschaft da und dienten der Veranschaulichung der unbeweglichen Habe, mit der die Firma Handel trieb; – auf jede waren Lichtbilder geheftet von ein paar Häusern, meist Vorstadtobjekten, und darunter stand dann etwa zu lesen: – 8 Zimmer, Dorchester, 6500 Dollars, – 5 Zimmer, Garage eingebaut, Melrose, 4500 Dollars, usw.

Dies war die Örtlichkeit, wo Eugen nach acht Jahren der Trennung seinen Onkel Bascom wiedersah.


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