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LIII

Die Studenten und Studentinnen, lachend, lärmend, in den harschklingenden Tönen der Großstadt durcheinanderredend, standen scharrend von ihren Plätzen auf und packten ihre Bücher zusammen. Eugen schritt schnell hinter seinen Tisch, der auf einem ein paar Zoll hohen Podest stand, und schickte sich an, fieberhaft und unordentlich seine Mappe vollzustopfen. Außer den Lehrbüchern und den Heften mit den Hausarbeiten der Klasse hatte er einen Stoß Papiere einzupacken, auf denen die Antworten auf ein paar ›Paukerfragen‹ standen, die er an diesem Abend der Klasse gestellt hatte. Er hatte diese kleine Vorprüfungsarbeit schreiben lassen, obschon er bereits im voraus um die Ergebnisse wußte. Miss Feinberg zum Beispiel würde behaupten, Coleridges ›Christabel‹ sei von Keats und erläutern: »Es war eine Art von epischem oder erzählendem Gedicht von hochromantischem Charakter, wie man es damals sehr viel gehabt hat.« Mr. Katz würde versichern, Wordsworth sei es, der Keats' ›St. Agnes Abend‹ geschrieben habe und dazu bemerken: »Man kann sagen, daß etwas sehr Eigenartiges und Geheimnisvolles in der Atmosphäre dieses Gedichtes ist.« Mr. Harry Fishbein würde bekennen: »Ein Sonett ist eine Gedichtart, die es gibt, und gewöhnlich von kurzer Natur. Der erste Teil des Sonetts heißt die Oktave. Shakespeare schrieb mehrere Sonette, desgleichen auch Wordsworth und Keats.« Diese Dichternamen würden in Mr. Fishbeins Rechtschreibung (wie überhaupt in der seiner meisten Klassenkameraden) als ›Wadsworth‹ und ›Keiths‹ erscheinen, und aus dem Wort ›Oktave‹ würde ›Oktrave‹ werden.

Nur Abraham Jones mit seinem mürrischen, grauen Spöttergesicht, dieser unnachgiebig-harte, seiner Sache stets sichere Abe, – er allein würde keine Fehler machen. Was bedeutete es den andern schon, ob sie Fehler machten oder nicht? Würde der verworrne Widerhall dessen, was sie dumpfen Ohrs vernommen hatten, in ihrem verworrenen Dasein auf den grellen, tosenden Straßen irgend etwas zum Guten oder zum Schlechten wenden? Würden Robert Herricks süße Vogellaute im Gemüt des Mr. Shapiro erklingen, wenn er allmorgendlich untergrund im Bronx Expreß seinem Tagewerk entgegendonnerte? Würde Miss Feinberg, wenn sie in der großen Drogerie ihr mit Rahmkäse belegtes Mittagsbrot verspeiste, des Richard Crashaw gedenken? Und ob der Dichter von ›La Belle Dame sans Merci‹ nun ›Wadsworth‹ oder ›Keiths‹ hieß, was ging das den Mr. Katz an, solang er ›sich schlecht und recht durchhalfterte‹, solange es ihm ›so leidlich‹ ging, solang ihm das Leben ›prompt den Bedarf deckte‹?

Eugen machte sich in dieser Beziehung nichts vor. Er hatte gehört, weswegen diese jungen Leute die Narrheit begingen, in seine Klasse zu kommen, – es waren da feine Worte gefallen wie »umfassendere Schau von einer höheren Daseinswarte«, »Sinn für die großen Dinge« und so weiter, – aber er selbst stand ja kaum weniger verwirrt vorm Leben wie diese ruppig-ungestümen Studenten.

Nach jeder Lehrstunde warf sich der beharrliche, heiße, lärmende Schwarm schiebend und drängend, auskunftheischend und disputlüstern, Einwände geltend machend und Urteile abgebend auf ihn, und jedesmal hatte Eugen, der dann an die Wand gedrängt Rede und Antwort stand, das Gefühl der Niederlage und des Überwältigtseins. Seine Leibesmüdigkeit glich dann dem Erschlaffen des Mannes nach einer großen Ausschweifung mit einer wollustkundigen, angebeteten Geliebten: Das Rückkreuz zieht sich schmerzlich zusammen, die ausgepumpten, ausgewrungenen, entleerten Lenden beben, die Glieder sind am Versagen, die Hände zittern, und auf den ganzen Körper tritt langsam der Schweiß der Ermattung. Während aber bei der Leibesmüdigkeit der Liebe die sieghaften Gefühle von etwas geschöpflich Sinnvollem, von Erfülltsein und Vollzug aufkommen, brachte diese Erschlaffung nur Gefühle von Verzweiflung mit, Gefühle eines dumpfen, fruchtlosen Ausgemergeltseins, der ruhlosen Verdammnis und der ratlosen Erbitterung. Ihm war zumute, als habe er die erlesensten Spenderkräfte der Schöpfung, Kräfte, für die es keinen Preis gibt, in den schwammartig aufsaugenden, schlabberigen Schlingrachen einer unersättlichen Gefräßigkeit geworfen. Unlustig und machtlosen Zornes dachte er dann an seine großen Pläne, seine verzückten Hoffnungen, dachte er an die Gedichte und Erzählungen, die er in frohmächtiger Siegeswallung in sich herumgetragen hatte, und nun schien ihm dies alles vertan, fruchtlos vergeudet, in Saus und Braus in den blinden Schlund eines dunklen, unanständigen, hirnlosen Heißhungers geschmissen.

Wenn er seine Klasse ansah, erinnerte er sich entsetzt eines großen Fischs, den er einst im Tiefseewasser außerhalb des Bostoner Hafens gefangen hatte. Er konnte dann wie damals wieder den schweren, scharfen, kräftig zappelnden Zug am Ende der Siebzigmeterleine spüren, als ihm die nasse Leine rauh durch die Hände glitt und er freudig-erregt den Fisch heraufzog. Und dann erinnerte er sich wieder der Gefühle des Ekels, des Verlusts, des Schreckens, als er der Beute ansichtig ward. Durch einen trübgrünen Wassergischt, sich im Todeskampf windend und um sich peitschend, kam der Fisch an die Oberfläche, und Eugen sah, daß auf dem Hirnknorpel des Fischschädels wie angewuchert ein gräßlicher, grauenhafter Tiefseeschmarotzer saß, – ein blindes, schlangenförmiges, etwa ellenlanges Ungetüm, augenlos, knochenlos, hirnlos, ein widerliches Wesen, nur zum Hinschlüpfen im Wasser und zum Saugen befähigt, ganz Maul, – und nun hing dieses Scheusal, unentwegt und verhängnisvoll angeheftet, wie angeleimt, wie festgeklammert, mit seinem blutschaumigen Ringmaul prall angesaugt am Hirngehäus des großen Fischs. Wie oft dieser in wahnwütigen Versuchen, den Peiniger loszuwerden, sich das Hirn zu Blutbrei gestoßen haben mochte an messerscharfen Felskanten oder spitzen Korallenstiften der Tiefsee – das konnte Eugen nur ahnen, aber das Bild des großen Fischs mit dem blinden, hirnschlürfenden Schmarotzerscheusal am Kopf hatte ihn tausendmal in den Nachtgesichten des Halbschlafs heimgesucht, und nun, als das Schlingmaul der dunklen, unersättlichen Gier ihn ansaugte, mußte er daran denken.

Ihr dunkles Fleisch war wie eine Prallwoge, die nicht nur niederschmettert und hereinbricht, sondern auch beim Zurückrollen mit mächtiger Saugkraft die Schätze der Erde mitfortzieht. Diese Menschen hatten die Absorptionsfähigkeit des Schwamms, das Anziehungsvermögen des Magneten. Am Ende jeder Unterrichtsstunde kam sich Eugen ausgezupft und ausgezuckelt vor, er empfand seinen Körper wie ein Stück trockengelegtes Land, die Gefühle der Unfruchtbarkeit, des Verlusts und der Niederlage lasteten auf ihm; aber nicht genug mit dieser leiblichen und geistigen Erschöpfung – es kam noch eine furchtbare Belästigung und Folter der Sinne dazu. Mit ihrem trächtigen, brünstigen, schweren Weibsgeruch bedrängten ihn die geilen, jungen Jüdinnen wie ein mannstoller Schwarm; sie lehnten sich über ihn, wenn er am Tisch saß, und preßten absichtlich die spröden Spitzen ihrer melonenschweren Brüste gegen seine Schulter; langsam und liebeslüstern brachten sie den Bauch heran oder rieben ihre harten Schenkel gegen seine Beine; sie sahen ihn an und ließen die nassen, roten Zungen arglistig-träge zwischen den feuchten, roten Lippen spielen; während des Unterrichts saßen sie in den vorderen Reihen in Kleidern, die zu extrem, zu provozierend, zu indezent nach einer Mode geschnitten waren, die ohnehin nicht viel verhüllt ließ; sie frömmelten ihn an mit einer rundäugig-liederlichen Unschuld des Blicks; mit schamlos unwissender Miene schlugen sie die Beine übereinander, so daß er ihre krausgefältelten, seidebespannten Strumpfbänder und das reife, schwere Beinfleisch sah.

So kam es denn, daß zu allem Gemütsverdruß, zu aller Qual des seelischen Entsetzens tausend erotische Reizbilder einer zwar erregten, aber leerlaufenden und zur Raserei gebrachten Sinnlichkeit in Eugen aufschwärmten. Es bedrängte ihn da etwas, das dem Wesen nach ganz und gar jenem folternden Hunger, jener von vornherein geprellten Lust, jener der Selbstvereitlung zwangsläufig preisgegebenen Lebenswut glich, wie er sie erst in New York kennengelernt hatte. Furchtbar wortlos aufgerufen erstanden ihm Vorstellungen wie diese: – Menschen, die im Herzen eines üppigen Fruchtlandes verhungern; Menschen, die in Sichtnähe eines sprudelnden Quells verdursten, eines Quells, dessen verdammungswürdiges Blinken und Geplätscher sie höhnt; eine alptraumhafte Schau von stolzem, liebesmächtigem, hermetisch abgeschlossenem Fleisch, von wollüstigen Formen in einer Hölle, von immer nahen, immer fühlbaren, aber nie zu kennenden, nie zu berührenden, nie zu besitzenden wollüstigen Formen.

Die Mädchen, die stolzen, liebesmächtigen Jüdinnen mit ihrem ambrafarbnen Fleisch, auf den Fang von Ehemännern abgerichtet, in allen Kniffen und Schlichen des erotischen Vorspiels bewandert, lüstern-vorsichtig in ihrer geilen Jungfräulichkeit, sie drangen auf Eugen herein in einem sinnlichen Flutschwall, in dem er zu ersaufen glaubte. Sie hatten den blanken Unschuldsausdruck in den Augen, und doch wußten sie jedem Blick mit einem dunkelspöttischen Gegenblick zu begegnen; sie preßten sich atmend, weich, warm und füllig an ihn, sie neckten, schmeichelten, verführten mit Blick und Gebärden, sie stellten ihm triviale, aggressive, überflüssige Fragen, – die, die einen Körper und keinen Verstand hatten, einzig auf Verführung bedacht, vielleicht aus dem Bewußtsein, daß aller Lohn und alles Vorwärtskommen in den Geschäften des Daseins auf diese Weise für sie am besten zu erlangen und am leichtesten zu bewerkstelligen wäre, und die, die einen Körper und Verstand hatten, bedacht auf irgendein peinliches Gemisch von scharfem Protest, geistigem Ringkampf und Verführung, das die Wandelgedanken liebessüchtiger Träumerei in ihnen regte. »O-oh! aber ich stimme ga-ar nicht mit Ihnen überei-in! Das ist ga-ar nicht die Bedeutung, die ich darin sehe! Nei-in! Das scheint mir zu-hu o-oberflächlich! Ich stimme ga-ar nicht mit Ihnen überei-in!« Die vollen, sinnlichen Stimmen klangen ihm wie das Gegacker von Hennen, er hörte das Omen, die tiefen Untertöne reifer Hysterie heraus, sie klangen gekränkt und verletzt, sie hoben und senkten sich in einem wellenartigen Gluckern dotterigen Protests, – die vollen, sinnlichen Stimmen dieser nehmenden, gebenden, immer herankommenden, sich immer zurückziehenden Jüdinnen hoben und senkten sich im Tonfall eines wellenkurvigen, dotterigen Gluckerhennenprotests mit dem Omen der reifen Hysterie. Hinnehmend, gluckernd, aufbegehrend in warmen, hennenfiedrigen Lauten schienen sie zu sagen: »Oh, komm und nimm mich, brich mich, aber ich stimme ganz und ga-ar nicht mit Ihnen überei-in, gluck-gluck-gluck-gluck-gluck! Oh, tu's doch, oh, tu's nicht, wir möchten, wir möchten nicht, aber wir stimmen ganz und ga-ar nicht mit Ihnen überei-in!« Die üppigen, verletztklingenden Wellenwallungen des gekränkten Protests, die mit allem Omen behaftete Drohung der hangenden und bangenden Hysterie erweckten in einem artfremden Geist einen mächtigen Schwall von Verlangen und Humor. Ein wildes, erstickendes, von Liebe und Gelüst bedrängtes Lachen sprudelte in ihm empor, wenn er das sinnliche, gekränkte, empörte Hennengeglucker ihrer Seelen hörte.

 

Die jüdischen Frauen waren so alt wie die Natur und so rund wie die Erde; sie hatten eine Kurve in sich. Diese Leute waren siebentausend Jahr lang an die Klagemauer der Liebe und des Tods gegangen; Kummer und Weisheit hatten die starken, konvulsivischen Gesichter der Juden gereift, und die Seelenkurve der Jüdinnen war noch ungebrochen. Weibhaft, fruchtbar, dotterig, trächtig wie die Erde, fertig für den Pflug wie die Erde, – so boten sie dem hungrigen Wandrer, dem Verbannten, dem getäuschten, in Wut geratenen Mann Zuflucht und Hafen von den schönen brachen Frauenzimmern, den harten, gefirnißten Sägmehlpuppen, den anmaßenden und unfruchtbaren Dämchen, die falsch sind von Ansehn wie Treibhauspfirsiche und nicht halten, was sie versprechen, allen denen, die einhergingen und keine Kurve in sich und keinerlei Fruchtbarkeit des Wesens an sich hatten. Die jüdischen Frauen warteten mit üppigen, dotterigen Rufen auf ihn, Eugen, und die Neuigkeit, die sie ihm brachten, die Weisheit, die sie ihm schenkten, war die, daß er nicht würgerisch wie ein tollwütiger Hund in schnöder Finsternis umherzustreunen brauche, daß er nicht ungelindert und ausgedarbt in der Wildnis neben einem rostigen Speer verderben müsse, – sondern daß es noch gute Erde für den Pflug zu teilen und furchen gäbe, tiefe Keller für das Korn, eine Scheide für das blanke Schwert, üppige, würzig-fruchtbare Taschen für all die stürmische Raserei des Verlangens.

Er saß am Tisch, und sie schoben an ihn heran, drückten sich um ihn herum, drangen auf ihn ein wie ein Schwall, und er sah sie an und sah, daß sie jung waren. Und manchmal gehörten sie der ganzen großen Erdfamilie an: – sie waren dann wie alle jungen Leute, die je gelebt haben, und erschienen ihm unbeholfen, laut, gutartig, voller Hoffnungen, Ergebenheiten und Wähne. Und manchmal wiederum erschienen sie ihm so, als könne keine von ihnen je Jugend und Unschuld gekannt haben, als wären sie alle mit alten, lebensmüden Seelen zur Welt gekommen, mit einem Wissen um die ungeheure, dunkle Schmerzensgeschichte, um die tausend irrsinnig-quälenden Seelenkrankheiten, als wäre ihnen kein Hunger, kein Durst, kein Verlangen bekannt außer einem unersättlichen Lusttrieb nach Kummer, Gram und Menschenelend. Hatten sie jemals nachts in den heulenden Wind geschrien? Hatten sie jemals des Frühlings jache, sprachlose Begeisterung gespürt, oder den Atem angehalten beim Schütterstoß der großen Räder auf den Schienen, oder gezittert, von einer dunklen, wehen Woge fortgetragen, von einem wortlosen Freudenschrei hochgerissen, beim Ruf der Dampfer in der Hafenausfahrt und morgens beim Gedanken an neue Lande? Oder waren sie immer so alt und weise, so voll Kummer und Bosheit gewesen?

Die Mädchen drangen auf ihn ein in einer Sinnlichkeitswelle, und die Burschen hielten sich zurück. Sie standen hinter den Mädchen und warteten. Und Eugen sah, wie die Männer dunkle, verstohlene, schlaue Blicke wechselten, die schnellen, endgültig bescheidwissenden Blicke des zynischen Verstehns. Sie warteten, bis die Frauen fertig waren, warteten mit einer eigenartigen, vom Verdruß gehärteten Geduld, wie nach einem altbekannten, selbstverständlich gewordnen Übereinkommen, in einer Haltung des Nichts-als-Hinnehmens, so, als wüßten sie seit Jahrtausenden, daß ihre Frauen sie mit nichtjüdischen Liebhabern betrügen, und doch mit einem gewissen Triumph, so, als wüßten sie ebenfalls, daß sie die Frauen wiederbekämen und letzten Endes die Sieger wären.

Sie hatten dem Leben die furchtbare Geduld abgewonnen, die alte, listige Geschicklichkeit und die Vorsicht, die von lange ertragnen Leiden kommen. Wenn Eugen sie ansah, dann wußte er, diese Männer würden nie toben und sich betrinken, sich nie die Fingerknöchel an der Wand blutig hauen, nie geschlagen und ihrer Sinne nicht mächtig im Bordell liegen, aber er wußte auch, sie würden einem Mann, der anders wäre als sie, gelassen den Inhalt der Flasche ins Glas gießen und stillschweigend, mit ruhig-glatter Miene und dunklen, spöttischen, unersättlichen Augen das Ende eines solchen verzweifelten Schicksals vorauserkennen. Sie hatten gelernt, daß ein wildes Wort keine Knochen bricht, daß die Wunden des Verrats oder der verschmähten Liebe weniger tödlich sind als Schwertschläge und Dolchstiche. In den Folgejahren fand Eugen heraus, daß – rein vom Körperlichen gesprochen – diese jungen Männer größtenteils unverderbt, alt und vorsichtig, voller Geschicklichkeit und voll Sicherungsbedürfnis waren, daß sie so lebensalt und klug und listig waren, daß ihr millionenfach abgeschatteter, feiner Verstand ohne die plumpen Unvollkommenheiten des fleischlichen Übels auskam und diese Unvollkommenheiten dunkel verachtete, – daß sie es fertigbrachten, gänzlich in einer Welt grausam-subtiler Intuitionen zu leben, daß sie, ohne auch nur einen Finger zu rühren oder eine Hand zu heben, diese Welt in sich aufrufen konnten, eine Welt von unsagbarer und unaussprechlicher Grausamkeit, heftiger und entsetzlicher Schande. So kam es denn in diesen Jahren, daß Eugens eigner Verstand, von den wahnwitzigen Machenschaften giftiger Eifersucht verrenkt und verrückt, dieses Bild von Grausamkeit und Greueln unvermittelt, unverbunden, ohne zu scheiden und zu trennen auf die körperlich wirkliche Welt der Tatbestände übertrug, sich Töchter vorstellte, die ihre Mütter verkuppelten, Söhne und Ehegatten, die ganz ungestört in Häusern schlafen gingen, in denen ihre Schwestern oder Frauen oder Kinder auf Lotterbetten lagen oder Ehebruch begingen, ruhige, nichts verratende Gesichter, Augen und Blicke von kindlicher Reinheit, Mienen voll Güte, Glauben und morgendlicher Unschuld allenthalben, während das Wissen um das unaussprechliche Übel ständig mit einem obszönen, lautlosen Lachen in den Herzen bebte. Diese scheußlichen Ausgeburten seiner Phantasie, diese schändlichen Vorstellungen, die sein verrücktes Hirn ins buchstäblich Tatsächliche übersetzte, waren vermutlich zum größten Teil bloß Imaginationen, wie sie die alten, klugen, geduldigen Juden mit ihrem grausamen und subtilen Verstand in sich aufriefen, Imaginationen, mit denen sie in ihrer komplexen Phantasie spielten. Wenn Eugen den Schwarm der dunklen, zudringlichen Gesichter um seinen Tisch ansah, dann ertrank sein Geist in einer überwältigenden Empfindung des Unterlegenseins und der Trostlosigkeit. Diese dunklen Blicke durchschauten ihn, fraßen an ihm, höhnten ihn, und doch waren sie voller Zuneigung und Zärtlichkeit, so, als liebten sie Speise, von der sie zehrten. Ihm war dann, er als Einziger müsse sterben, er müsse sein Herz zerbrechen, seine Knochen zertrümmern, geschlagen, betrunken, zerstampft und seiner Sinne nicht mächtig im Haus der Verrufenheit liegen, seine Vernunft zerschellen, seinen gesunden Verstand verlieren, seine Begabung zerstören und wie ein in der Wildnis heulender Tollwut-Hund sterben, während diese Leute, einzig diese Leute, diese alten, weisen, überdrüssigen, geduldigen, schmerzenverschlingenden, subtil verständigen Juden, überdauerten.


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