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LVI

Der Juni bereits hatte den Segen der Universitätsferien gebracht. Und nun neigte sich der Sommer seinem Ende entgegen, der brutale und schlaffe New Yorker Sommer mit knatschig-feuchter, lebloser Schwummerhitze, dem Tod aller Hoffnung und dem Kummer zeitlosen Gedenkens. Und dennoch, diese Großstadtsommernächte hatten auch eine Art feierlich-ernster Freudigkeit, die mit ihrer von menschlicher Resignation ins Friedliche gedämpften Helle so ganz anders anmutete wie die namenlos-wilde Schmerzlust des Frühlings, die Wehmut des Herbsts, die grimme Strenge des endlosen Winters. In diesen Nächten des sich neigenden Sommers war der ungemeine Wandellaut der Zeit hörbarer als in jeder andern Spanne des Jahres. Man hörte ihn über sich und rings um sich, er war nah, fern, ungeheuer, allgegenwärtig und unerklärlich. Er schien in den oberen Lüften zu branden, über den steilen Engschlüften der Stadtstraßen, über den tausend riesenhaft hochgerissenen Turmhäusern, über den schwärmenden Millionen, die gequält und unbehaglich ihren verzweifelten, häßlichen, uneinträglichen Daseinskampf in den heißen, verworrnen Labyrinthen der Metropole führten. Über dem häßlichen Lärm dieses gequälten Lebens hallte unabänderlich und unermeßlich, fernher raunend und weithin murmelnd diese Stimme der Zeit. Sie hatte, so schien es, alle Erdenlaute in sich aufgefangen, hatte aus der bittern Kürze der Menschentage das Wesen ihrer eignen Ewigkeit entnommen und war doch an sich selber ewig, stet und immerdardauernd, gleichgültig, was für Menschen lebten oder stürben.

Die Menschen in der Weltstadt hatten diesen Wandellaut der Zeit gehört, und nun wurden sie von seinem Zauber gebannt. Zum erstenmal seit Monaten hörte man ruhiges Gelächter auf den nächtlichen Straßen, die Stimmen der Vorübergehenden klangen seltsam gedämpft, die Laute des Lebens wurden zu einem Murmeln, das dem Murmeln des Zeitlauts glich.

Eine Stimmung des Friedens und der Resignation lag überall, und es war, als hätte die Sommerluft die Eigenschaft, das heftige Getös der City ins Harmonische abzudämpfen. Anscheinend war ein Geist des Friedens der Stadt ins Wesen und ins Gewebe gedrungen; er schien das fiebrige Blut der nervös überreizten Menschen beschwichtigt zu haben. Zum erstenmal seit Monaten sah man stille, nachdenkliche Augen, aus denen die Blicke des Argwohns und des Mißtrauens, des Hasses und der Feindseligkeit entschwunden waren. Auch die Gesichter hatten nicht mehr den gespannten, harten Ausdruck der Gereiztheit, und selbst die Stimmen hatten etwas von ihrer schnarrenden, scharrenden, ständig lästernden Heftigkeit verloren.

Diese ungemeine, murmelnde Leisigkeit der Zeit und des kummervollen Hinnehmens hatte sogar das Leben der Jugend berührt. Man sah noch nachts junge Männer in Gruppen auf den Straßen herumlaufen, aber der Zauberbann der Zeit hatte auch sie gepackt und hielt sie unter der Fuchtel. Diese Straßenbanden junger Männer, die sich in Gruppen von sechs oder acht nachts in der Stadt herumtreiben, und die so sehr zu unserm bekannten Bild vom Großstadtleben gehören, daß uns ihr Erscheinen überhaupt nicht mehr merkwürdig berührt, waren vom Zauber der Zeit vielleicht am augenfälligsten verwandelt.

Wo waren die Lieder der Jugend auf diesen Großstadtstraßen? Wo das Gelächter, der wilde, ursprüngliche Heiterkeitsschwall, die Leidenschaft, die Wärme, der goldne Dichtertraum der Jugend? Wo war der große Jungbursch Jason, der sich nach Fahrtbrüdern umsah für jenes begeisterte Abenteuer der Mannesjugend, das das stolze, todlose Wahrbild dessen ist, was wir alle begehren, wenn wir jung sind? Wo war dieses Wahrbild? Wo waren die edlen Gedanken und die heißen Wollungen junger Männer, wo die bittren Verzweiflungen und die hochfahrenden, torenhaften Hoffnungen, die großen Träume und die Musik der flüchtigen, ins Unmögliche schweifenden Träumereien, ... wo all das, was die Jugend lieblich und begehrenswert macht und dem Mannesglauben die Treue hält ... wo war das bei diesen jungen Bengeln auf den Großstadtstraßen?

Es war nicht da. Arme, gelblich-bleiche, schwärzlich-angedunkelte Kreaturen waren das mit widerborstigen Zungen, losen Mäulern und häßlich-höhnischen Augen, und ihre verrufene Banditenjugend war der Tod im Leben selbst. Totgeborne waren sie, aus dem Mutterschoß in eine Welt von Großstadtstraßen und Straßenecken gekommen, von Mietskasernen und Elendsbaracken, von starrem Stein, schleimiger Gosse und gemeinem Pflaster, auf dem sie nun ihr klägliches Leben zu verwurzeln suchten, sich herumtrieben und kläglich die kläglichen Gegenstände ihrer niedrigen Vergötzung nachahmten, unter denen ein Gangster der heldischste, ein Zuhälter der weiseste, ein Broadwayclown der witzigste war.

Wie oft haben wir sie gesehn, gehört, uns betrübt und angewidert von ihnen abgewandt, wenn sie uns nachts begegneten, eine Rotte von hemdsärmeligen Jammergestalten, Hergelaufne, Halbwüchsige, Schwankende, ein jeder in Angst und Unbehagen vor dem Auge des andern! Sie traten die Mülleimer am Rinnstein um, das waren die Großtaten ihrer Jugend, sie wollten Anerkennung dafür und versuchten sie heiser herauszufordern mit erbärmlichen, witzlosen Reden, deren glitzerndere Bruchstücke etwa so gingen:

»He, Eddy! ... Heil'ger Jees! He, Ihr da! Kommt mit!«

»Äh, warum die Eile? ... Hopp, kommt mit, Ihr da! Der Joe hat's eilig! Wer zahlt das Taxi?«

»Heil'ger Jees! Was kommt Ihr denn nicht? Hopp, kommt mit, Ihr da!«

»Äh, geh doch fort! Warum die Eile? ... Wo brennt's denn?«

Und nun, in den Nächten des sich neigenden Sommers, waren sogar die ruppigen Stimmen dieser wurzellosen Asphaltwesen befangen und verwandelt von der großen, tragischen Leisigkeit und vom Zauberbann der Zeit, und selbst der maßlosen Unlieblichkeit einer solchen Jugend ward der schmerzlich-trauervolle Hauch von Mitleid und Bedauern zuteil.

Der August war gekommen, und mit ihm kam bereits eine leise, beunruhigende Anmahnung des Herbstes, – ein Atem, ein Gedüft, ein Geruch, der des Sommers Ende ankündigte und verheißungsvoll-ahnungshaft von den Erregungen der großen Reise sprach. Es war dies einer von den seltsamen, beunruhigenden Gerüchen, die es in Amerika gibt, und die das Leben des Amerikaners allerwege dicht bedrängen, Gerüche, die erlebt, geatmet und vom Blute gekannt werden, und für die es keine Sprache gibt. Es ist ein Geruch wie der von Städten, von Städten um die Stunde des Abendwerdens, von Städten am schwelenden Ende jedes entschwindenden Tags, ein Geruch von Feierabend, von Frieden und vom Meer in Häfen. Es ist ein Geruch wie der von altem Holz, warm, harzig, schwül, der einem bis in die Eingeweide dringt mit seinem fremdartigen, namenlosen Beigeschmack von Schmerz und Lust; wie der Geruch der hölzernen Zuschauerbänke um die Baseballfelder, wie der Geruch der von Millionen Füßen täglich abgetretenen Holzbohlen auf einem Rummelplatz, wie der Geruch von Trambahnen und Trambahnhallen, vom Polsterplüsch der Eisenbahnabteile, von Brücken, alten Werften und Pieren, von geteerter Dachpappe und Asphalt, ein Geruch, mit dem die Müdigkeit, die Stille und das Ende des Sommers kommt und der stumme, leise Kummer des Eingedenkens, wenn wir uns der Jugend erinnern, der Stimme unsres Vaters an Sommerabenden auf der Veranda vorm Haus, des Dufts vom Rebstock und von reifen Trauben, des knirschenden Gekreischs der Straßenbahnwagen, die auf dem Hügel oberhalb des Vaterhauses hielten, und wozu das Bewußtsein kommt, daß dies alles verloren, daß unsre Kindheit herum, unser Vater tot und wieder ein Jahr (unser erstes im Menschenschwarm der Weltstadt) vergangen ist, ... und dies, die Erkenntnis von der bittren Kürze unsrer Erdentage, mischt sich so eigen zusammen mit dem Geruch des Meers in Häfen, der erfrischenden Abendbrise, dem Tuten der Dampfer, und irgendwie – Gott-weiß-wie – mit den unerträglichen Erregungen und Verheißungen der unbekannten großen Reise.

Und mit diesem Herbsthauch und der Verheißung der großen Reise gelangte an Eugen die Nachricht, daß Starwick in diesen Tagen nach New York komme, auf einen kurzen Aufenthalt vor seiner Abreise nach Europa. In diesen Tagen traf Eugen auch den Joel Pierce wieder und erneuerte somit eine Bekanntschaft, die in Cambridge angefangen hatte und in der Zwischenzeit eingeschlafen war.


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