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XIII

Der junge Mensch war zwanzig; dies war sein erstes Jahr in Neu-England, und der Winter war ihm sehr lang geworden. Im Schwarm der Menschen kam er sich verloren und allein vor, winzig und verlassen auf den Straßen des Lebens. Und so kam es, daß er gerade in diesem Jahr seinen Onkel sehr oft besuchte.

Manchmal fand er ihn in dem engen, staubigen Arbeitsgelaß. Bascom saß dann etwa, die Lippen zusammengepreßt, über ein verzwicktes juristisches Formular gebeugt da und füllte mit seiner steif-eckigen, gewissenhaften Handschrift die leeren Felder aus. Mit ruhiger Stimme, ohne aufzublicken, sagte er: »Hallo, mein Junge! Setz Dich bitte! Bin im Augenblick fertig!« Und auf eine Weile war es nun still bis auf das Gerumpel von Brills Stimme im Nebenzimmer, das leise Kratzen von Bascoms Feder und jenem Wandellaut der Zeit draußen, der ungeheuer in den oberen Lüften raunend den millionenfachen Lärm der Großstadt auffing, und dennoch so fernher und stet, so wesentlich, unabänderlich und gleichmütig aus Ewigkeiten anbrandete, als gälte es nichts, was für Menschen lebten oder stürben.

Dann wieder fand der junge Mensch seinen Onkel tief in Gedanken. Bascom saß dann, die Ellenbogen aufgestützt, und starrte über seine gefalteten Hände hin. Das herrliche Gesicht war dann eine Maske wahrhaft innerer Schau und andächtig-stummer Hingegebenheit. Bascom war eins geworden mit seinem wirklichen Wesen und weilte in seiner gültigen Welt: alles Unstimmige und Eigenwillig-Krampfige war von ihm abgefallen; die unangemessene Schrulligkeit seines Gebarens, die gemeinmachende Knickerigkeit und die nörglerische Reizbarkeit, das alles bestand nun nicht. Manchmal sprach er überhaupt kein Wort; er schien am Rande der Zeit zu brüten, an den Lippen der Ewigkeit zuständig den Augenblicken aus Erdenstaub enthoben zu sein.

Einmal, als Eugen ihn so fand, ließ Bascom nach längerem Schweigen die großen Hände sinken, verblieb dann, ohne den Neffen anzusehen, in einer Haltung ruhigen Entspanntseins und sprach schließlich das Psalmwort:

»Was ist der Mensch, daß Du seiner gedenkest?«

Es war einer der ersten Frühlingstage. Dieser Frühling war spät und zauberisch und mit nordländischer Plötzlichkeit gekommen. Er schien über Nacht aus der Erde aufgesprungen zu sein, die Luft war lyrisch und sang ihn. Er war wie ein Sieg und eine Verheißung gekommen, er versicherte den jungen Menschen ungekannter Herrlichkeiten und Erfüllungen, er huschte vor ihm her wie ein tanzender Lichtschein.

Eugens Hunger und Durst waren maßlos gewesen; er hatte sich zum erstenmal ins Weben der faustischen Welt verstrickt gefunden; es gab keine Speise, die ihn zu nähren, keinen Trunk, der ihm den Durst zu löschen vermochte. Unersättlich, wie ein besessenes Tier streunte er auf den Straßen umher. Erbarmen bei den Pflastersteinen, Trost und Weisheit bei einer Million von Anblicken und Angesichtern suchend, – oder aber er trieb sich in der Bibliothek herum, durch eine Unmenge von Büchern stöbernd und stiebend, gefoltert von allem und jedem, das er nicht erleben und erfahren könnte, geblendet, verdrossen und verzweifelt von dem, was er erlebte und erfuhr. Alles wollte er wissen, alles haben, alles sein – er wollte eines und vieles sein, er begehrte der weiten und beschwärmten Erde ganzes Rätsel in der Hand zu halten, leserlich und betastbar wie eine Münze geprägten Golds. Plötzlich war der Frühling da, und Eugen verspürte aufjauchzend Gewißheit und Lust. Durch die ungewaschnen Scheiben von Bascoms Gelaß konnte er eine Ecke der Faneuil Hall und auf den schwärmenden, lärmenden Betrieb der Märkte sehen. Mit dem Lärm kamen die tausend kräftigen und geheimnisvollen Marktgerüche herauf und bedrängten ihn wie der Atem der Gewißheit, wie der Beweis der Zaubermacht, wie die Offenbarung dafür, daß jetzt alle Verwirrung gebannt, die ersehnte Welt gewonnen, das seltene Wort gesagt und der zehrende Hunger endgültig gestillt sei. Diese Märkte da drunten mit ihrem mächtig heiteren Getrieb, Getös und Gedräng bewahrheiteten ihm gleichsam das Erfülltsein, denn ihm schien nun, das leidenschaftliche Rätsel Neu-England wäre nirgends spürbarer als hier; – Neu-England mit seinem harten, steinigen Boden, seiner tragischen und einsamen Schönheit, seinen öden Felsenküsten mit den geschäftigen Fischereien, – Neu-England mit seinen weißen, tiefverschneiten, eiskalten Wintern, mit dem Juwelenglanz großer Sterne in Frostnächten über dunklen Föhrenwäldern und über jenen kleinen, warmen, weißen Häusern, die er dann nicht ansehn konnte, ohne an übervolle Vorratskammern zu denken, aufgehängte Speckseiten, Apfelwein und würzig Eingeschmälztes – und an der Liebe warmes, weißes, üppiges Fleisch.

Da gab's das Geraschel der Kattunschürzen tagsüber und die gleichgültigen Blicke; wenn aber die Sterne auf die niedrigen, überhängenden Dächer schienen, dann regte es sich in den Federbetten; – seidenhäutige Schenkel, der kleine Biß weißer Zähne, die tigerhaft verkrallte Umarmung – allenthalben das begrabne Herz, die verhohlene Leidenschaft, die erfrorne Hitze. Und dann endete der schier unendliche Winter, endete das unerträgliche Eingesperrtsein. Und der Frühling kam, wie er nun gekommen war, kam wie ein lyrischer Aufschrei, kam wie ein Spritzregen auf Fensterscheiben, kam wie der plötzliche, zarte Schwirrklang eines Spinetts, – kam über Nacht und ekstatisch mit Flügelrauschen und Knospenspringen und dem Flackerlicht der Blumen, kam mit Gekräusel und Wellentanz auf bewegten Wassern, – kam heftig, jäh und frohlockend, ein flüchtiges, beinahe haschbares Wesen.

Und hier, achtzig Schritt von dem staubigen Gelaß, in dem seines Onkels Schreibtisch stand, war der lebendige Beweis dafür, daß die Intuition nicht trog; diese geheimnisvollen Neu-Engländer ernährten sich nicht bloß von Kabeljau und im Tongeschirr gekochten braunen Bohnen. Sie aßen Fleisch, Mordstrümmer Fleisch aßen sie, denn hier im Marktviertel standen den ganzen Tag über die Fahrer der großen Lastwagen bis ans Kinn in Fleisch, – Burschen schleiften große Körbe voll mit rohem Fleisch übers Pflaster, – Metzger mit roten Gesichtern, große, blutfleckige Schürzen vorgebunden, verdrückte Metzgerstrohhüte auf dem Kopf, schleppten Schenkel-, Lenden- und Rippenstücke fort, – und regimenterweis in froststeifen Reihen hingen über den mit Sägemehl bestreuten Fußböden der Kühlkammern die halben Ochsen.

Rechts und links, die beiden Seiten des Zentralmarkts entlang, erstreckten sich die alten Gebäude hinunter zum Hafen, wo es nach Schiffen roch: – dies hier war aufgeschüttetes Land, – wo jetzt Steinpflaster war, lagen einst Schiffe vor Anker. Aber diese Lagerhäuser waren dennoch recht alt, sie rochen alt und dumpf und staubig, sie sahen altersbraun und rußgeschwärzt aus, sie waren wohl aus den siebziger Jahren, denn sie wirkten wie Drucke aus der viktorianischen Zeit und erinnerten einen an die Kontore stolzer Kaufleute, die in Kutschen mit lautlosen Gummirädern vorfuhren.

Bei Tag war dieses Viertel ein wahres Gewirr im chaotischen Verkehrsbetrieb von riesigen Ladeautos und Lastwagen mit prächtigen, schweren Apfelschimmeln; man sah fluchende Fuhrleute und Fahrer, Abladen, Aufladen, Umladen, Verpacken, Auftrag und Ausführung, das unendlich verzahnte Räderwerk des Geschäftsgangs.

Kam man aber nach Feierabend, kam man am Abend eines so plötzlich sanften Tages im Neu-England-Frühling, kam man hierher, wie in vergangenen Zeiten so mancher einsame junge Mensch hierherkam, ein Bursch aus den ungeheueren Binnenlanden Amerikas, ein heimwehkranker Bub aus den wunderbaren Bergen von Alt-Catawba, – dann konnte einen die bittre Verzückung der Jugend wieder packen, die Verzückung, die einen schier zerreißt mit dem Schrei, den keiner doch schreien kann, die stolze, einsame, sieghafte Verzückung, die so freudenwild und herrlichkeitstrunken ist, und dennoch das in einem solchen Augenblick geborne Wissen in sich trägt, daß das Unberührbare und Unbegreifliche nicht ertastet und gegriffen werden kann. Auf immer dahin ist dann die herrscherisch-großartige Minute, der er mit all ihren Verheißungen und tausendmal tausend inneren Erspürungen die Dinglichkeit schöner Gestalt verleihen will. Denn dann will er dem Augenblick einen Leib geben, Brüste, Bauch und Schenkel einer wundersamen Geliebten, – will er groß und herrlich und ein Überwinder sein, – will er aus dem Äther dieser Verzückung ein Elixier gewinnen und auf immer starke Seinslust trinken; – – und im Kern all dieser Begehr ist das bittre Wissen vom Tod, – Tod des Augenblicks, Tod des Tags, Tod wieder eines Frühlings, deren dem Menschen so wenige gegönnt sind.

Dieses Bewußtwerden der Lebenslust, dieses innere Spüren zaubrisch brütender Erfüllung, das die Luft dieser zarten Frühlingstage durchschwingt, ist vielleicht gerade das, was Neu-England so wundervoll macht. Und das läßt sich wohl einfach aus dem Erlebnisgegensatz von Winter und Frühling erklären. Da kommt dieser weiche, jählings erweckte Frühling mit seinem Flickerflacker flüchtigen Frohmuts, mit seiner sprunghaften, nur halbgeglaubten Gegenwart, mit seinem verlornen, elfisch geisternden, halbgeträumten-halbgehörten Laut, – und das ist wundervoll nach der grimmigzähen Strenge des langen Winters, der schönen und schreckhaften Verödung, dem Ansturm der Fröste auf das lebendige Fleisch, das ihn nicht anders als die rücksichtslosen Faustschläge eines rohen Gegners besteht, – und so mögen denn auch wohl die herbbittre, wortkarge Sprechweise, die knappen Gebärden und das zurückhaltende, mißtrauische Gebaren, mögen auch die dünnen Lippen, die roten Spitznasen und die harten Späheräugen der Neu-Engländer daher erklärt werden, daß Leute, die sich so hart gegen die Natur halten müssen, sich auch hart gegen die ganze Welt halten.

Wie dem auch sei – was der junge Mensch, der hier gegen Tagesende herkommt, in sich verspürt, sind nicht die fruchtlos-leeren Feierabendstimmungen erschöpfter und verdrossener Großstädter; er kommt vielmehr in schwellender, erfüllungsschwangerer Verzücktheit. Die Luft hat diese wundervollen Gerüche von Markt und Meer. Auf dem Steinpflaster unter den Wellblech-Schirmdächern vor den Lagerhäusern erwachen Hunderte von Gerüchen irdischer Fruchtbarkeit und bestürmen den Vorübergehenden; – der reine, scharfe Holzgeruch der Versandkisten zusammen mit dem heimwehhaften Duft von Orangen, Zitronen und Grapefruit; – der Gestank eines verfaulten Kohlkopfs zusammen mit dem einer verderbten Orange; dann der warme, rauhe Kalkgeruch von Hühnern, der schwere Geruch kalter Fische und Austern, die feucht sauberen Ackergerüche und Gartendüfte von Salat, Kohl, neuen Kartoffeln und knirschendem Sellerie; dann der Geruch von reifen, goldnen Melonen, die in duftiges Stroh gebettet sind, und schließlich dieser warme Einschlag von Tropendüften: Bananen, Ananas und Avogado.

Die Frühlingsluft gibt allen diesen Gerüchen eine neue und köstliche Lebenskraft, sie zieht den Teergeruch aus den Straßen und erweckt die Gerüche von achtzig Jahren, die in diesen Lagerhäusern stecken: – leimig-harzige Mischgerüche, Kisten, Brettzeug und Bohlen, die ein halbes Jahrhundert alt sind, fleckige Gerüche, Teer und Terpentin, Garn und Hanf, eingedickter Zuckerrohrsaft, Ginsengwurzeln, getrocknete Kräuter, alte Säcke; der schwiemelige Geruch frisch gerösteten Kaffees, der Geruch von Hafer, von Heuballen, von geklumpter Kleie, von Eiern, Käse und Butter, und ganz besonders der Geruch von Fleisch, von allerlei Fleisch, Ochsen, Kalb und Schwein, Leber, Hirn und Nieren, Schinken, Bauchlappen und Kutteln; von rohem und zubereitetem Fleisch durcheinander, denn irgendwo im ersten Stock eines dieser Lagerhäuser ist ein Restaurant, wo Metzger, Bäcker, Bankiers, Börsenleute und Harvardstudenten beieinandersitzen und die dicken Beefsteaks von dem besten und zartesten Stück verzehren, dampfend heiße Brote und große, in der Schale gebackene Kartoffeln dazu.

Und dann ist dort immer das Meer. Diese schmutzig-graubraunen Gebäude erstrecken sich bis an die Docks, und man vergißt nie, daß dies aufgeschüttetes Land ist. Ein leeres Lastauto rattert vielleicht gerade über das verödete Pflaster, drunten biegt es in die Hafengasse ein, wo nebeneinander die kleinen, trübseligen Speisehäuser und Kleiderläden liegen. Und dort ist dann auch der Güterbahnhof; in langen Reihen, warm nach Holz und Eisen riechend, stehen auf den toten Geleisen die gähnend leeren Frachtwagen, die über große Strecken hergerollt sind.

Und schließlich ist dort das Wasser, sind dort die großen Piere und Ladeschuppen: ruhig und machtvoll liegen sie da, denn die Arbeit des Tags ist getan; ungeheuer liegen sie da mit der nackten Häßlichkeit und der schlechthin sachhaften Schönheit reiner Zweckbauten, hartkantige Backsteinklippen mit Durchstichen, durch die die Ladezüge hinaus auf die Molen laufen, und nun in der Feierabendstunde atmen sie wie müde, aber lebendige Geschöpfe. Wenn dort vielleicht noch jemand geht, dann hallt sein Tritt in den brütenden Tiefen dieser geräumigen Hallen wider; vielleicht hört man das Gerassel eines letzten, abfahrenden Wagens, hört die Stimme eines Arbeiters, der »Gutnacht« ruft, und dann tritt die zaubermächtige Stille ein.

Und dann ist da ja das Meer. Das Meer, so schön und geheimnisvoll, wie es nur dort sein kann, wo es in Häfen der Erde begegnet und anflutend und zurückebbend sein Wesen mit dem ihren vermischt. Das Meer, das gegen die verkrusteten Pfeiler schlappt und schwappt, das Meer, in dem das schaumig-algige Schlick- und Schlinggezopf treibt, das Meer mit dem Mast- und Mergelgeruch verwesender Muscheltiere. Da also ist das Meer, und da liegen die großen Schiffe, die Frachter, die Fischerschoner und die sauberen, weißen Küstendampfer, die in einer Nacht die Fahrt nach New York machen; stumm und mächtig mit Messing und Lichtern und reicheingerichteten Salons lockend, ein Wahrzeichen der Freude und des Glanzes auf dem dunklen Wasser, das sich liebend im Schwall an den Sammetbauch schmiegt. Der Anblick all dieser Dinge, das Erlebnis all dieser Gerüche, die der sprungfreudige Mai durcheinanderwirbelt, ist mit unsäglichen Rückerinnerungen und Erspürungen geladen: der junge Mensch weiß gar nicht, wie er sich da anders ausdrücken könnte als in den Bewegungen der Herrlichkeit, Liebe und Macht. Er möchte davonlaufen, dem Anblick der neuen Erde am nächsten Morgen entgegen, und die lebendig-leibliche Erfüllung seiner Verzücktheit wohnt in seinem wünschenden und überzeugten Bewußtsein.

Nun können zwar alle diese Dinge in Neu-England gefunden werden, aber die Person, die diese verschütteten Freuden vielleicht am heftigsten verspürt, ist dieser einsame Besucher, dieser junge Mensch aus den Südstaaten. Vielleicht ist nämlich die wahre und geheime Erkenntnis des Nordens diesem Menschen aus dem Süden ins Herz gelegt, aus Träumen und Kindheitsahnungen aufkeimend, und ist da wie die dunkle Helena. Was er auch immer Enttäuschendes erfahren wird, er wird immer gläubig an diesem Bild festhalten, wird immer zu ihm zurückkehren. Sicherlich aber stimmt das für den kauzigen Alten, der nun gar nicht weit von all dieser Herrlichkeit in seinem staubigen Arbeitsgelaß in der State Street sitzt. Ihn hätte wohl jeder dem Ansehen nach für einen »hartgebißnen Neu-Engländer« gehalten, er aber war von der Erde Alt-Catawbas gekommen, so elend und allein, wie ein junger Mensch nur sein kann; dann hatte er diese Welt erlebt und gespürt; trotz seiner häufigen Beschimpfungen des Landes, der Leute und des Klimas war er immer hierher zurückgekehrt, und Neu-England, das Land seiner größten Zuneigung, war seine Wahlheimat geworden.

Nun, grübelnd und in Gedanken verloren, saß dieser alte Mann da und starrte über seine verschränkten Hände hinweg. In einem Augenblick, der nur belanglos schien, in Wirklichkeit jedoch ein Stück Vergangenheit war, mit der er zusammenhing, ... in einem Augenblick, der in das dunkle Tempelinnerste der Seele reichte und von dorther ein Licht brachte, sagte Bascom: »Wer weiß, ob der Odem des Menschen aufwärts fahre und der Odem des Viehs unterwärts unter die Erde?«

Nach einer Weile gedankenvollen Schweigens fügte er traurig hinzu: »Ich bin ein alter Mann und habe lange gelebt. Ich habe so vieles gesehen. Und manchmal ist mir, als wäre alles so lange her«, und wandte den Blick zurück in die Wildnis, zur verlorenen Erde, zu den begrabenen Menschen.

Alsdann sagte er: »Ich hoffe, Du kommst am Sonntag heraus zu uns. Ja, auf alle Fälle! Auf alle Fälle! Deine Tante erwartet Dich, glaube ich. Ja, mir ist, als hätte sie mir so was gesagt. Aber vielleicht hat sie auch gesagt, daß sie eines von ihren Kindern besuchen möchte. Ich weiß es wirklich nicht. Oh!« heulte er, »ich habe nicht die entfernteste, nicht die blasseste Idee von dem, was sie vorhat ... Natürlich«, erklärte er ungeduldig-verächtlich, »natürlich habe ich nie irgendeine Vorstellung davon, was in ihrem Kopf vorgeht. Deswegen kann ich Dir's auch nicht sagen. Ich gebe einfach nicht mehr auf das acht, was sie redet.« Er machte eine großbogige Handbewegung. »Nein, nicht im geringsten!« versicherte er. Er stocherte dem Neffen mit steifem Finger das Knie, sah ihn grinsend und herausfordernd an, sein lidgelähmtes Auge glitzte. »Sag mal«, fragte er, »hast Du jemals eine Frau getroffen, mit der ein zusammenhängendes Gespräch möglich war? Hast Du jemals eine getroffen, die auf die Regungen der Vernunft und des geordneten Denkens reagierte? Mein lieber Junge!« rief er, »man kann nicht mit ihnen reden, ich versichere Dir, man kann es nicht! Genauso gut kannst Du in den Wind pfeifen oder an den Nil gehen und ins Wasser spucken. Wenn ein Mann jung ist, dann breitet er seine Geistesschätze vor ihnen aus, sein Wissen, seine Kenntnisse, seine Philosophie, ja, alle die reichen Akkumulationen seines Genius, – und das alles bloß, um sie seiner Gesellschaft würdig zu machen – und was findet er letzten Endes immer heraus? Nun«, sagte Bascom bitter, »er entdeckt, daß er sich abgemüht und seine Kräfte vergeudet hat, um einer Schwachsinnigen etwas beizubringen!« Er lachte gehässig durch die Nase, verzog das Gesicht und ahmte dann grotesk-geziert eine Frauenstimme nach: »Oh, mir ist ja sooo schlecht! O Lieber, ich glaub', meine Zeit kommt wieder! Oh, Du liebst mich nicht mehr! Oh, ich wünscht', ich war tot! Nein, heute kann ich nicht aufstehn! Oh, ich wünschte, Du brächtest mir etwas Nettes mit aus der Stadt! Oh, wenn Du mich noch lieb hättest, würdest Du mir einen neuen Hut kaufen. Ich hab' ja nichts anzuziehen! Ich schäme mich, mich auf der Straße unter den andern Frauen sehen zu lassen!« Bei den letzten Sätzen kam ein bitteres Gefauch in Bascoms Stimme.

Er hielt einen Augenblick brütend inne, dann wandte er sich unvermittelt wieder an den Neffen, stocherte ihm das Knie und fragte: »Nicht wahr? ›Das gegebene Studium der Menschheit‹, hat der Dichter gesagt, ›sei der Mensch‹ ... Na, sag' mal, hat er damit die Frau gemeint?« Er schnitt eine entsetzliche Fratze und zischelte: »Das frag' ich Dich jetzt: hat er die Frau gemeint?« Und dann heulte er laut: »Im Leben nicht! Er meint den Mann, den Mann, niemanden sonst als den Mann!!«

Er schwieg wiederum eine Weile und fuhr dann mit übertrieben betontem Spott fort: »Also Deine Tante liebt Musik. Du hast wohl beobachtet, daß Deine Tante sich sehr viel aus Musik macht ...« Das stimmte. Musik war in der Tat ihr Daseinstrost; auf einem kleinen Grammophon, das ihr eine ihrer Töchter geschenkt hatte, spielte sie ständig Schallplatten von den Werken der großen Tondichter. »Also kurz und gut: Deine Tante liebt Musik«, wiederholte Bascom entschieden. »Nun, wenn Du vielleicht gewähnt, gemeint oder geschlossen haben solltest, daß die Musik eine patentierte Erfindung deiner Tante sei, dann würdest Du schwer geirrt haben, mein Junge.« Er heulte plötzlich auf. »Oh, ja, ja, schwer geirrt hättest Du Dich alsdann!« Seine Augen glitzten bösartig, in seiner Stimme war eine beherrschte Ironie. »Sag' selbst, hat eine Frau die Fünfte Symphonie geschrieben? War Richard Wagner, dieser Gegenstand der Verehrung Deiner Tante, etwa weiblichen Geschlechts? Nein!« fauchte er gereizt. »Keineswegs! Wo sind denn ihre großen Werke, ihre mächtigen Symphonien, ihre großen Malereien, ihre epischen Dichtungen? Und ist die ›Kritik der reinen Vernunft‹ vielleicht in einem Weiberschädel entstanden? Ist das Riesenwerk an der Decke der Sixtinischen Kapelle die Hervorbringung eines weiblichen Genius? – ja, und sag': hast Du je von einer Lady namens William Shakespeare gehört? War's wohl eine Dame, die den ›King Lear‹ schrieb? Und bist Du etwa vertraut mit den Werken einer reizenden jungen Miß namens John Milton, was? Und kennst Du das süße deutsche Mädchen Fräulein Goethe, gelt?« Er höhnte: »Und die Schriften der Mademoiselle Voltaire und der Miß Jonathan Swift haben Dich auch wohl ergötzt? Puhl Puh! Puh! Puh! Puh!« Er rümpfte die Nase.

Er hielt inne, starrte über seine Hände hinweg, sagte dann, langsam und deutlich zitierend: »›Das Weib gab mir von dem Baum, und ich aß.‹ Siehst Du, da hast Du's ja, mein Junge. Da hast Du's! In einer Nußschale. Das ist die Arbeit, zu der sie am besten taugen ...« Er wandte sich plötzlich dem Neffen zu, seine Stimme war heiser und zitterte vor leidenschaftlicher Erregung. »Die Versucherin! Die Bringerin der verbotnen Frucht! Die Gesandtin des Teufels! Seit Beginn aller Zeiten ist es ihr Amt gewesen, das Hirn des Mannes mit Wahnsinn zu zerrütten, den Geist des Mannes von seinen hohen Zielen abzulenken, ihn zu verderben, ihn zu zerstören! Zu kriechen und zu krauchen, sich in den Herzen und Hirnen der Männer einzunisten, dort wo sie einsam sind, sich einzuwinden ins Kerngehäuse geheimsten Lebens, so wie sich ein Wurm in eine gesunde Frucht einfrißt ... und dieses Werk mit Schlangenschläue und Fuchsenlist zu vollbringen ... das, mein Junge, das ist, wozu das Weib da ist! Und das wird sich nie ändern.« Seine Stimme wurde geheimnisleis, ahnungsvoll, flüsternd. Er warnte: »Sei auf der Hut! Sei auf der Hut und laß Dir nichts vormachen!«

Nach einer Weile bemerkte er dann in einem ruhig-beiläufigen, ein wenig wegwerfenden Ton: »Deine Tante freilich war eine Frau von beträchtlichem Verstand, soweit eben ein Weiberverstand beträchtlich sein kann. Das ist aber nun nicht mehr so, wie es einst war. Die Kräfte sind zurückgegangen. Deswegen«, setzte er gleichgültig hinzu, »unterhalte ich mich auch nicht mehr mit ihr. Ich hör' einfach nicht zu. Mir ist aber nun so, als hätte sie was davon gesagt, daß Du am Sonntag zu uns herauskommen möchtest. Aber ich weiß es eben nicht, ich könnte Dir mit dem besten Willen nicht sagen, was sie vorhat. Ich hab' meine eignen Interessen, und ich nehme an. daß sie die ihren hat. Nun freilich, sie hat ihre Musik ... ja, bestimmt, sie hat immer ihre Musik ...« Er sagte das gleichgültig, beinah verachtungsvoll, er fing wieder an, über seine verschränkten Hände hinwegzustarren, er dachte nicht mehr an sie.

Dennoch, er war jung gewesen und voller Schmerzen und Wahnsinn. Eine Zeitlang hatte er alle die Qualen gekannt, die ein Liebhaber erfahren kann. Soviel hatte Louise dem Neffen erzählt, und Bascom hatte es durchaus nicht bestritten. »Ja, jetzt bin ich ihm gleichgültig, das ist wohl wahr«, hatte sie heftig getuschelt, »aber seinerzeit, kann ich Dir sagen, oh, seinerzeit war er wie verrückt hinter mir her. Er war wahnsinnig meinetwegen, sag' ich Dir ... Ach, der alte Narr!« gackelte sie, mit scheinbarer Gleichgültigkeit lachend. Sie hatte so getan, als ob Bascom überhaupt nicht anwesend wäre. Und dann hatte sie wieder heftig getuschelt: »Ja! Wahnsinnig war er! Wahnsinnig. Oh!« rief sie aus, »das kann er nicht leugnen. Er konnte ja damals seine Augen nicht eine Minute lang von mir lassen. Und wurde verrückt, wenn ein andrer Mann nur so tat, als sähe er mich an.«

»Durchaus wahr, meine Liebe. Ja, die volle und ganze Wahrheit«, hatte Bascom gesagt, und in seiner Stimme war keine Spur von Ärger gewesen. Anstatt in seinen gewöhnlichen Zustand der Reizbarkeit, in dem er alles abzustreiten pflegte, zu geraten, war er plötzlich in eine zärtlich-gönnerische Laune geglitten. »O ja«, hatte er, nachdenklich über den Gipfelbogen seiner großen gefalteten Hände hinwegstarrend, wiederholt, »durchaus wahr, jedes Wort, das sie gesagt hat, entspricht voll und ganz der Wahrheit. Durchaus wahr, ich hatte es vergessen, aber es ist durchaus wahr.« Er schüttelte sanft den Kopf, schloß die Augen und lachte leis durch die Nase, belustigt durch dieses Erinnertwerden an Dinge, die ihn jetzt nicht mehr betrafen.

In den ersten zwei Jahren nach seiner Verheiratung – so hatte Louise erzählt – hatte die finstere Eifersucht ihn beinah in den Wahnsinn getrieben. Die Eifersucht hatte sich auf sein Gemüt geschlagen wie eine erstickende Pestwolke, sie war ihm wie schwarze Giftzungen ins Blut gedrungen, war ihm über die Blutbahnen ins Herz geraten, hatte ihm übel im Herzen geglost und hatte ihm das Hirn so sehr mit Gehässigkeit und Argwohn durchsetzt, daß er verrückt und rasend geworden und außer Rand und Band geraten war. Seine dürre Gestalt war damals bis auf Haut und Knochen verschrumpft, Eifersucht und Angst hatten wie Geier an ihm gerissen, und seine heftige Lebenskraft hatte sich glosend in diesem gefährlichen Brand verzehrt. Und dann, als er nahe daran war, seine Gesundheit, seine Laufbahn und seinen Verstand einzubüßen, hatte ihn die Besessenheit so plötzlich verlassen, wie sie gekommen war. Sein Leben hatte sich wieder um ihn selbst gedreht, um seinen innenwüchsigen, egoistischen Kern; er war seiner Gattin müde geworden, hatte gleichgültig ihrer gedacht, hatte sie vergessen.

Und sie, Louise, die arme Seele, sie war wie ein Häslein gewesen, das ein kauernder Tiger im gelbwilden Starrblick seiner hypnotischen Augen festhält, unwissend, ob er nun anspringt und mit der Tatze zuschlägt, oder ob er gleichgültig weggehen wird. Sie war bestürzt und gebannt gewesen von der Heftigkeit seiner ersten Leidenschaft, der vernunftlosen Raserei seiner Eifersucht, – und dann in den folgenden Jahren hatte sie seine unvermittelt plötzliche Gleichgültigkeit verwirrt, zornig und schließlich bitter gemacht. Seine Gleichgültigkeit war nun oft so groß, daß er ihr Dasein tagelang vergaß, daß er mit ihr in dem kleinen Haus wohnen konnte und ihre Gegenwart kaum zu merken schien. In völliger Selbstversunkenheit stapfte er herum, murmelte Verwünschungen vor sich hin, schmiß die offenen Türen am Heizofen zu, bereitete sich mit der Rohkostraffel phantastische Speisenzusammenstellungen, und wenn sie ihn anredete, antwortete er ungeduldig und verachtungsvoll: »Was hast Du gesagt? Wovon sprichst Du da?«, ging weg und verlor sich wieder geheimnisvoll in seine eigenen Angelegenheiten. Und manchmal, wenn sich das Weltall gegen ihn verschworen hatte, wälzte er sich auf dem Boden, trat mit den Stiefelabsätzen gegen die Wand und schleuderte heulend seine Flüche gegen den vergeßlichen Himmel.

Nun, seitdem ihre Kinder aus dem Elternhaus fort waren, spielte Louise Wagner auf dem Grammophon, hielt ihr kleines Haus in Ordnung und übte sich in der Kunst, lebhafte und umständliche Gespräche mit sich selber zu führen. Sie sprach auch mit ihren Töpfen und Pfannen, wenn sie in der Küche stand und scheuerte und spülte. Fiel ein Topf hin, hob sie ihn auf, gab ihm ein paar Klapse hintendrauf und sagte: »Daß Du mir das ja nicht wieder tust, Du böses, Du ungezogenes Ding, Du!« Oftmals, wenn Bascom im Haus herumstapfte, fing sie mitten in ihren einsamen Gesprächen zu lachen an. Auch sie lachte durch die Nase, ein ganz weiches Lachen, ein langer Gurrton, der sich auf der Tonhöhe leicht brach: »Wu-u-uh!« Alsdann pflegte sie mitleidig den Kopf zu schütteln und sich schnell mit etwas zu beschäftigen. Worüber sie gelacht hatte, hätte sie nicht sagen können.

Eines Abends jedoch hatte sie eine von Bascoms Stampf- und Heultiraden unterbrochen. Sie hatte auf ihrem kleinen Grammophon den Walkürenritt, gespielt von dem Philadelphia-Symphonie-Orchester, erschallen lassen. Bascom, zunächst stumm vor Überraschung, war aufgesprungen, wütend auf das beleidigende Instrument losstürzend, das es gewagt hatte, ihm in so musisch-mächtiger Weise Konkurrenz zu machen. Und dann war er wie angewurzelt stehengeblieben. Er hatte Louise bemerkt. Sie hatte neben dem Grammophon gestanden, listig mit den Augen gefunkelt, durch die Nase gelacht und war in ein hohes, durchdringliches »Wu-u-uh!« ausgebrochen, als er sich nahte. Außerdem hatte Bascom das große Tranchiermesser in Louisens Hand gesehen. Mit einem gellenden Entsetzenslaut hatte er sich umgedreht, war auf sein Zimmer gestürzt, hatte die Tür hinter sich abgeschlossen und hatte laut geschrien: »O Mama, Mama, rette mich!«

Dies alles hatte Louise ungemein belustigt. Sie spielte die Schallplatte immer wieder, gurrte leis dazu und brach plötzlich in ihr »Wu-u-uh!« aus. Sie bog sich vor Lachen.

Und nun, als der junge Mensch den Alten anblickte, war ihm, als bestünde eine Beziehung zur Vergangenheit. Ihn dünkte, wenn der Alte nur sprechen wolle, dann würde die lebendige Vergangenheit offenbar werden, und er, Eugen, könne dann die Stimmen der verlornen Menschen hören, und Schmerz und Stolz, Wahnsinn und Verzweiflung, die Millionen Vorfälle und die tausendmal tausend Gesichter des begrabenen Lebens sehen und verstehn. Und dies alles würde ihm geschenkt werden wie ein Schatz, für den es keinen Preis gibt, würde ihm überliefert werden als ein Erbe, wie es die Alten den Jungen schuldig wären, ein Erbe, köstlich und allen Dichtens und Trachtens Ziel: – – die Kunde von allem, was ein alter Mensch je erfuhr. Eugens Lebenshunger war eine Art von Gedächtnis: wenn Bascom spräche, dachte Eugen, dann würde dieser Hunger gestillt.

Und dann schien es ihm für einen Augenblick, als sähe er die Antlitze der Zeit, der dunklen Zeit, als sprängen die tausendmal tausend Riegel des Menschengedenkens auf, und die Gesichter der verlornen Amerikaner und all die Millionen Zufallsaugenblicke ihrer Leben stünden vor ihm. Und Bascom immer mitten im Bild: Bascom feurig redend von einem Dutzend Kanzeln; Bascom, von Liebe und Wahnsinn gefoltert, im Volksgewimmel der Straßen; Bascom auf ausgefahrenen Wegen im Dunkel, die Hände in den Magen gekrallt, vor sich hin murmelnd, eine hagere, grimme Gestalt, über den Kontinent hintaumelnd unter ungeheuren und grausamen Himmeln, aus denen Licht auf sein Gesicht grellte, Schatten auf sein Gesicht fiel. Er stieg auf aus der Wildnis, er stieg auf aus einer Menge von Männern, die harte, runde Hüte, und Frauen, die Tournüren trugen, er stieg auf aus üppigbraunen Erinnerungen, und er stieg auf aus der Zeit, der dunklen Zeit, – aus einer Zeit, die von alters her war, älter als die sächsischen Thane, älter als alle Ritter, Speere und Rosse.

War all dies verloren?

 

»Es war so lange her«, sagte der alte Mann.

Bitteres Boston, bitter und abermals bitter: der Wind enttrug das Blatt, die Wolke zerriß: – war denn da keine Liebe, die in der Wildnis schrie?

»– so lange her«, sagte der alte Mann heiser. »Ich hab so lang gelebt. Ich hab so viel gesehn. Ich könnte Dir so viel sagen.« Seine Stimme war müd und teilnahmslos. Seine Augen waren ohne Glanz und erstorben. Er sah alt und sehr müde aus.

Auf einmal schaute der junge Mensch nun ein fremdartiges und bestürzendes Wahrbild, das in den folgenden Jahren dann oftmals wieder in ihm erstand. Was er sah, war dies: Eine Gesellschaft von alten Männern und Frauen saß an gastlicher Tafel versammelt. Diese Leute waren alle sehr alt, viel älter als sein Onkel. Die Gesichter dieser Greise und Greisinnen waren zerbrechlich und spröd und leicht angegilbt wie altes feines Porzellan; in ihrer Hinfälligkeit und in ihrer Geschlechtlosigkeit waren sich diese Gesichter alle ähnlich. Diese Leute hatten sich in ihrer Jugend gekannt. Die Männer hatten gesoffen, gerauft, gehurt, sie hatten einander gehaßt und die Frauen geliebt. An manchem von ihnen hatte etwas gezehrt, was Männern in der Jugend oft zusetzt: unfruchtbarer Neid und verderbte Angst. Im geheimen hatten sie die Lippen verzogen, waren sie erbleicht, war ihnen bitter ums Herz geworden – sie hatten einen andern Mann gehaßt, hatten seinen Erfolg befürchtet, hatten sich diebisch über seinen Mißerfolg gefreut, hatten jubeltrunken gelacht, wenn sie erfuhren, daß jener andere einen Verlust, eine Niederlage, eine Demütigung erlitten hatte. Sie hatten jedoch nie eingestanden, was in ihren Herzen war, aus Angst, ihre Kameraden möchten sie verspotten. Sobald sie mit diesen Kameraden zusammenkamen, waren ihre Worte vorsichtig, auf den Eindruck berechnet und abfällig gewesen. Sie hatten dann gesagt, Leidenschaft und Glaube seien Schwindel; sie hatten viele solcher Dinge gesagt, von denen sie wußten, sie wären unwahr. Aber nachts dann, wenn sie allein waren, hatten sie die großen übermütigen Bockschreie ihrer Mannesmacht und Manneslust in die heulenden Winde und ins Dunkel geschrien, hatten sie in der lauernden Luft das Schneewetter gespürt, und dann auf den Schnee gewartet. Und der Schnee hatte leise an die Fensterscheiben gespuckt, hatte die Laute der Erde verstummen lassen, hatte sanft und stumm herunterrieselnd das Herz dieser Männer mit dunkler, stolzer Verzücktheit und das Innerste dieser Männer mit dem Gefühl naher Glücksverheißung erfüllt. Jeder von ihnen hatte tausend dunkle Wünsche und Träume in sich getragen, hatte Reichtum, Macht, Ruhm und Liebe begehrt; hatte sich selber als groß, gut und begabt empfunden und hatte seine Rivalen im Berufsleben und in der Liebe gehaßt. In Gesellschaft waren sie einander mit harten, feindseligen Augen begegnet, sie hatten sich gebrüstet wie Hähne und hatten ihre Frauen eifersüchtig bewacht – sie hatten es gespürt, wenn Blicke sie im Rücken trafen und Seitenblicke ihre Schultern streiften – und die weißen, wollüstigen Nacken, das liebesholde Haar und die anmaßend-unverschämten Gesichter der Weiberhelden hatten sie heimlich rasend gemacht.

So waren sie einst gewesen, jung und voller Schmerzen und kämpferisch, und nun war dies alles in ihnen erloschen: sie lächelten mild, gemüdet und leise, sie sprachen mit dünnen Stimmchen und sahen einander an aus Augen, die für Begehren, Feindseligkeit und Leidenschaft tot waren.

Auch die angegilbten und verknöcherten Greisinnen, die dabeisaßen, waren längst jenseits der schmerzlichen Verzücktheiten, der wahnseligen Hoffnungen und der hellen Wünsche des qualhaften Bluts. Sie waren jenseits der Jugend, jenseits der Pein und der Angst, jenseits aller Dinge außer dem Alter und dem Tod. Da saß eine treue Ehegattin und fruchtbare Mutter. Und dort saß eine wollüstige Ehebrecherin, die mit einem Dutzend Männern ihren Gatten zum Hahnrei gemacht hatte. Und dort saß dieser Hahnreigatte, der damals wie ein gepeinigtes Tier aufschrie, als er sie zum erstenmal mit einem andern im Bett antraf. Und jener andere, der Liebhaber von damals, saß nun dort, und gleich neben ihm saß wieder ein anderer Mann, und in diesem Menschen hatte die Untreue seiner Gattin lediglich eine heimliche, verderbte Freude erweckt. Es hatte ihm Spaß gemacht, daß sie ihn betrog; er hatte ihr Liebhaber um Liebhaber aufgedrängt, er hatte gierig nach dem Schmerz, den sie ihm so bereitete, gelechzt.

Und nun waren sie alle alt und mager, verschrumpft und verdorrt, und sahen spröd aus wie angegilbtes Porzellan. Sie lachten dünn, sie lächelten mild, in ihren Blicken war weder Haß noch Liebe, weder Begierde noch Leidenschaft, und in ihren Erinnerungen gab es nichts als Kleinigkeiten. Diese Männer wollten nun nicht mehr glänzen und die ersten sein; nichts mehr machte sie rasend und eifersüchtig; sie begehrten nicht länger Ruhm; es gab keine Rivalen mehr, die sie haßten; sie wollten nichts mehr erarbeiten und nichts mehr schaffen, und das Trunkensein von Hoffnung geschah nicht mehr an ihnen. Und es geschah auch nicht mehr, daß sie nachts gingen und sich die Handknöchel an den Mauern blutig schlugen, daß sie sich vor Scham auf ihrem Lager wandten und ihre Niederlage und ihre Verödung verfluchten und mit krampfigen Fingern ihre Bettlaken zerfetzten vor Wut. Konnten sie nicht sprechen? Hatten sie vergessen?

Warum konnten die alten Männer nicht sprechen? Sie hatten den Schmerz und das Sterben und den Wahnsinn gekannt, – ihre Worte jedoch waren schal und rostig. Sie hatten die Wildnis gekannt und die Ödlande; sie hatten das Blut der Ermordeten in die Erde rinnen sehn, die es lautlos trank; sie hatten dies Blut gesehen, sie hatten es selber vergossen, und die Erde hatte nichts dazu gesagt. Wo waren die Leidenschaft, der Stolz und die Pein, wo die Millionen lebendiger Augenblicke aus ihrem Leben? War das alles verloren? Waren sie alle verstummt? Es schien, als wäre da etwas Schlaues und Schlimmes in ihren Blicken, sie saßen da so verstohlen beisammen, und es sah aus, als hüteten sie einen Wissenshort, als hätten sie ein gerissenes und bösartiges Heilmittel für den Kummer und die Irrtümer des Daseins und hatten sich darüber zu schweigen entschlossen. Oder waren sie einfach aller Dinge satt, aller Dinge verdrossen, aller Dinge leid? Weigerten sie sich, davon zu reden, weil sie es nicht mehr vermochten, weil sogar ihr Gedächtnis leblos geworden war?

Ja. Es war ein Widerhall von Worten in ihrem Bewußtsein, aber sie hatten die Sprache nicht mehr. Für sie war die Vergangenheit tot: – sie schütteten dem Frager eine Handvoll trocknen Staub und Asche in die Hand.

 

Das dürre Gebein, der bittere Staub? Die lebendige Wildnis, die stumme Wüste, das ungerodete Land?

Haben denn keine Lippen in der Wildnis gebebt? Keine Augen von den Klippen aufs Meer gespäht nach den Heimkehrern? Keine Pulse vor Lieb' oder Haß schneller geschlagen am Ufer der Flüsse? Oder dort, wo das alte Rad und verrostetes Gerät in den Sandwächten der Wüste liegen, neben den gebleichten Schädeln eines Pferdes und einer Frau? Keine Liebe?

Keine Liebe und kein einsamer Hall von Tritten auf tausendmal tausend Straßen: Kein blutend Herz, das rasend aufschrie gegen den Stahl und den Stein ... kein Hirn, das vom ehernen Ring umspannt schmerzte, wenn der ungewisse Weg durch die labyrinthischen Schlüfte ging? War denn in diesem ungeheuren und einsamen Land nichts als unaufhörliches Wachstum, Reifwerden und Besamung ... nichts außer der Öde der Wälder und Wüsten, außer dem herzleeren, metallharten Stimmengewirr von Millionen Zungen, die den Schrei des Bauchs schrien, das Gebrüll nach Brot und das Panthergefauch nach Fleisch und Honig? War das denn alles, alles? Geburt und zwanzigtausend Tage voll Wirrsal und Gefauch – und keine Liebe, keine Liebe? Schrie da keine Liebe in der Wildnis?

Es war nicht wahr. Die Liebenden lagen unterm Fliederstrauch; das Lorbeerlaub bebte im Wald.

Plötzlich war's dem jungen Menschen, als solle er seinen Onkel anfassen, als solle er seine Finger in den dürren, flechsigen Arm krallen. Dann würde – deuchte ihm – seine Jugendkraft in den Alten hinüberströmen, das Gedächtnis des Alten würde wie eine lebendige Flamme gefacht werden und entbrennen, und das alte Herz würde auf eine Stunde heftig und heiß vor Lebenslust und Jugendfreude schlagen. So – deuchte ihm – könne er den Alten zum Reden bringen.

Eugen begehrte so mit ihm zu reden, wie Leute nie miteinander zu reden pflegen; er wollte von Dingen reden und reden hören, von denen man nie redet und reden hört. Er wollte fragen, was der Alte in seiner Jugend außer dem grimmigen Grauwetter der Armut, des Alleinseins und der Verzweiflung erfahren habe. Sein Onkel war über zehn Jahre alt gewesen, als der Bürgerkrieg endete. Er hatte es miterlebt, wie die müden, staubbedeckten Krieger heimkehrten, und hatte in Zimmern deren Stimmen gehört, als sie ganz beiläufige Sachen sagten. Er hatte die Luft entschwundener Sommer geatmet, hatte Wolkenschatten über die Grünmassen der Wildnis wandern sehn, hatte das letzte, einsamwelke Blatt an einem Zweig gesehen. Er hatte Stimmen gehört, trostlos-traurige, in den Südstaaten vor langlanger Zeit ... und Stimmen, ruhig-erörternde, von nun längst verlorenen Menschen ... und den Hall von Tritten, nun längst verhallten, auf den Straßen des Lebens. Und er hatte die Jahre der Bräune gekannt, der dunkelüppigen Bräune, die verlorenen und heuchlerischen Jahre, Donner von Rädern und Hufen auf dem Pflaster, die Farbe des hellen Bluts – die Wüstheit, den Hunger und die Furcht.

War das Gedenken an all dies verloren?

Der junge Mensch rührte den Alten an, er legte ihm die Hand auf die Schulter. Der Alte rührte sich nicht. Versunken in einer verlorenen Welt, begraben in einer stummgewordenen, nicht mitteilbaren Vergangenheit, sprach er: »– so lange her ...«

Da stand der junge Mensch auf und verließ den Alten und ging hinaus auf die Straßen, in die singende und lyrische Luft, in den millionenfüßigen Menschenschwarm, der das Straßengesträhn durchwimmelte, unter die herrlichen Frauen und Mädchen, deren wesenhaftes Vorüberwandeln ihm zu einer Musik aus Brüsten und Schößen und Schenkeln ward, zum Meer, zu der Erde, zu der stolzen, mächtigen, lärmenden Großstadt, zu all den Stimmen der Zeit, die ihm zu einer einzigen Stimme wurden, die gleichsam ein Sang, ein Wahrzeichen und ein Schrei war. Sieghaft setzte er dem Zweifel den Fuß in den Nacken und zertrat ihn, wie man eine Schlange zertritt. Er war mit der Erde verbunden, war ein Teil der Erde, besaß die Erde, das wußte er. Er würde verzehrt und verbraucht und ewig wieder neu und erfüllt werden; er würde unaufhörlich das Ebben und Fluten und Wiederverebben und Zurückfluten des Lebens und des dunklen Vergessens spüren; er würde sich ohne Verdruß ausleben, und die Daseinslust würde immerdar ihn wieder kraftvoll verjüngen. Er hatte eine Zunge für die Qual, eine Speise für den Hunger, eine Tür für die Verbannung und Fülle für seine unersättliche Begier: – eine übermütige Gewißheit wallte in ihm hoch; er dachte, er könne alles besitzen, und er schrie: »Ja, es wird mein sein.«


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