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Siebtes Buch
Kronos und Rhea: Der Traum von der Zeit

XCVI

Spiel uns ein Lied auf einem unzerbrochnen Spinett, laß die Schellen, die Schellen erklingen! Spiel uns Musik nun, ein Lied auf einem unzerbrochnen Spinett! Hol nicht den Widerhall her aus verschollener Zeit, greif nicht Musik heraus auf vergilbten Tasten der alten, zerrütteten Klaviatur, ruf nicht Gespenster her aus verwehtem Geklingel, sondern spiel uns ein Lied auf einem unzerbrochnen Spinett, Musik so lebendig wie damals, als das Spinett neu war, laß uns Mozart sehn, wie er im kleinen Saal spielt, und laß uns die Stimmen der Damen vernehmen! Aber mehr noch als dies: weck auf den Lärm von vergessenen Straßen, laß uns die Laute wieder vernehmen, unversehrt und ungedämpft von der Zeit, wirf ein Mittwochsvormittagslicht auf den Dritten Kreuzzug und laß uns Athen sehn an einem alltäglichen Tag! Laß uns hellenische Laute hören aus nächster Näh', laß uns beobachten, ob sie alle weiß waren und schön um zehn Uhr morgens, die Griechen; laß uns sehn, ob ihre Glieder alle vollkommen waren und ihre Gebärden groß und ernst, laß uns ihre Speisen riechen, laß uns sie beobachten beim Mahl und hören – wenn auch für einmal nur – das Rädergerassel auf einer Gasse und erleben das Gewebe von bloß vier vergeßnen Momenten!

Gib uns die Laute Ägyptens an einem bestimmten Tag; laß uns die Stimme des Königs Menkaura vernehmen und ein paar Worte der Dame Sennuwy und auch die Stimmen der Baumwollbauern vom Nil; laß uns die weiten Laute vernehmen, die Zufallslaute des Lebens bei diesen alten Völkern; laß uns hören, was man sich zurief auf den Straßen der Städte, und gib uns die Stimmen der Hausfrauen und der Händler! Und aus dem sechzehnten Jahrhundert bring uns ein Frauenlachen zu Ohr!

Das Geheul des Wolfs wird wohl immer dasselbe sein, das Rädergerassel wird wohl immer dasselbe sein, und das Klappern des Pferdehufs wird wohl immer dasselbe sein auf den Straßen jeglicher Zeit und in allen Altern; aber spiel uns ein Lied auf einem unzerbrochnen Spinett, und laß uns die Stimmen der Ritter bei Tische vernehmen! Der Herr ruft seinen Hund, der Hund bellt, der Pflüger schreit seinem Pferd etwas zu, das Pferd wiehert, – das wird allzeit dasselbe sein und auch das Hussa der Jagd und das Rauschen der fließenden Wasser.

Bei den Wassern des Lebens, bei der Zeit, bei der Zeit, spiel uns ein Lied auf einem unzerbrochnen Spinett, und laß uns die wirklichen Stimmen von alten Jahrmärkten hören; laß uns zurückgehn durch unser Gedächtnis und durch das Gedächtnis der Rasse, laß uns die Millionen vergeßner Momente aus unseren Leben wiederleben und zeig uns arme Leute in ihren Hütten um fünfzehnhundertundneunzig und laß uns den reichen Mann sehn aus dem Mittelalter, wie er vor seinem Kamin steht und sich den Rücken wärmt, indes seine Gattin dabeisitzt an einem Tisch und strickt, und laß uns hören, was sie einander beiläufig sagen.

Laß uns die Männer sehn, die die Häuser Alt-Frankfurts bauten, laß uns sehn, wie sie schafften, laß uns sie sehn, die Maurer und Zimmerer, wie sie auf einem Bauholzstapel saßen und ihr Zehnuhrfrühstück verzehrten, laß uns ihre Worte hören, gib uns ihrer Stimmen Klang! Spul das Geweb der Zeit zurück aus unserm innern Gedenken, stelle sie wieder her, die Millionen Fäden und Fädchen tatsächlichen Seins, bis uns die Sekunden grau werden und hell und staubig im lebendigen Licht und wir die schlichten, von keiner Fabel verschönten Gesichter der Leute sehn; laß uns aufwachen und die Menschen auf den Straßen hören und laß uns Tobias Smollett sehn, der draußen vorm Fenster vorbeigeht!

Wohlan denn, spiel uns ein Lied auf einem unzerbrochenen Spinett, laß die Zeit sein wie die Landstraße nach London, auf der wir reisen, laß uns dort ankommen und herausfinden, was für ein Jahr man grad schreibt in der Mile End Road, laß es dunkel sein bei der Ankunft, laß uns die Stimmen von Leuten hören und zusehn, ob wir sie verstehn, was sie sagen, ja, laß uns herausfinden, was für ein Jahr man grad schreibt, laß uns Herberge suchen zur Nacht und zusehn, ob die Leute unser Geheimnis erkennen und vor uns zurückweichen!

Aber Zeiten gibt's, die noch seltsamer sind, Zeiten gibt's, die noch seltsamer sind als die jungen Ritter und ihre Rosse und der Lärm des Gelags aus den Tavernen. Fernzeit ist uns das Gestern, ist uns die Zeit des frühen Amerika, ist uns der Broadway mit den Stimmen der Leute von achtzehnhundertundvierzig, ist uns der Laut auf den Straßen von Des Moines von achtzehnhundertsiebenundachtzig, ist uns der Lärm der ersten Lokomotiven im Baltimore von achtzehnhundertunddreiundfünfzig, ist uns das amerikanische Siedlervolk der Grenzerzeit mit den Stimmen und den Gesichtern jener Leute, die die Wildnis aufgesogen hat, die uns verborgen sind, deren Wesen uns ein Geheimnis bleibt, deren Geschichte uns dunkler und seltsamer vorkommt als die Geschichte der schottischen Thane.

Die Zeit, die uns liebenswert dünkt, ist die Zeit der Feistheit und der prangenden Farben, ist die elfische Zeit der Kalender, ist die trauer- und geheimnisvolle Zeit der ersten Lichtbilder. Es ist die Zeit der ersten Lithographien, die Zeit, als die Welt grün war und rot und gelb. Es ist die Zeit der rotangestrichnen Scheuer, der Windmühle und des Hauses mit den siebentausend Giebeln, die Zeit des grünen Rasens, des Blauhimmels und des weißen Vergnügungsdampfers auf dem Strom und der Flaggen und der Banner und der lustigen weiß-braunen Wimpel, die Zeit der Blechmusiken und all der begeisterten Leute, die riefen: ›Hurray! Hurray!‹

Es ist die Zeit, als das Söhnchen seinen Reifen auf rosa bekiestem Pfad trieb, als Mama ein Bonnet trug, einen Muff und einen Cul-de-Paris und Papa einen steifen runden Hut; es ist die Zeit des Friedens und der Fülle, der hellbuntgestreiften Stoffe und der Gußeisenhirsche im Garten; es ist die Zeit, als der Handlungsreisende ›in‹ Blitzableitern ›auf Tour‹ ging, als der Stadtmensch als ›summer boarder‹ aufs Land kam, als man den Landwirt mit ›Farmer Heyseed‹ bezeichnete und ›Dusty Rhodes‹ schrieb für den Tramp von den ›dusty roads‹; es ist die Zeit, als die Buben bereits ›auf die schiefe Ebene‹ gerieten, wenn sie Zigaretten rauchten; es ist die Zeit, die uns liebenswert dünkt. Es ist die Zeit von der ›bösen Großstadt‹, – Fanggarn und Schlingen im ›schlimmen‹ New York und am ›Great White Way‹, wie der Broadway dann hieß –; die Zeit, wo es ›Fallgruben‹ gab für die ›Unschuld vom Land‹, die Maid mit dem Fischbeinkragen und der Wespentaille; es ist die Zeit der ›Paläste der Sünde‹, der ›Paläste des Teufels‹, und dort wohnte die ›gute‹ Gesellschaft; es ist die Zeit der ›Nester des Lasters‹ im ›Tenderloin‹-Distrikt, die Zeit der Vergnügungsfluchten mit Spiegeln und dickem Teppich und sehr viel Vergoldung, – Lokale, wo das Klavier sich von selber spielte, mechanisch, wo man für Champagner berappte, die Zeit der ›pikfeinen‹ Freudenhäuser, wo die ›Madam‹ kein ungentlemanhaftes Betragen duldete und die ›Mädchen‹ im Abendstaat waren und sich wie ›perfekte‹ Ladies benahmen.

Es ist die Zeit, als man Opern- und Theater-›Partien‹ gab, als die Saison anfing mit der Horse Show im Herbst, als man in Speisezimmern mit Walnußmöbeln zu später Stunde und aufgeräumt wahrhaftig nachtmahlte, die Zeit der eleganten Damen, die zur ärmellosen Toilette die ganz langen Handschuhe trugen, die Zeit, als man ›Welsh Rarebit‹ (Butter und Toast und Käse und Ei und die Würzen!) im Spiegelpfännchen auf schwerversilberten Spiritusbrennern servierte, die Zeit der plutokratischen Vierhundert und der großen Millionärsnamen Vanderbilt, Astor und Gould, die Zeit der mit Puderperücken geputzten Livreelakaien, die Zeit, als das ›Präsent‹, das man beim Kotillon den Wahldamen gab, zwanzig Dollars kostete, die Zeit, als Newport zum Sommerwohnort der Reichsten ward, die Zeit, als die großen ›Mansen‹ in der Fifth Avenue standen, – rote Teppichläufer quer übern Bürgersteig bis an den Rinnstein und darüber die Baldachine, und die Eintrittshalle war marmorn und prunkvoll von sehr viel Vergoldung und Plüsch, – die Zeit, als die Mitgiftjäger erschienen aus dem Adel des Auslands.

Es ist die Zeit des weibischen Zierbengels und des lispelnden Laffen (Oh, Percy, ich s'lag Dir aufs Pfötchen, Du ruppiger, rüder Mensch Du!); es ist die Zeit des verdammten Stutzers, der englische Anzüge trägt und umgeschlagene Hosen (Hey, Mister! Regnet's in London?) ... und so'n Kerl hat sein Lebtag nichts weiter getan als das Geld seiner Alten verjuxt, keine Hand hat er gerührt zu ehrlicher Arbeit, den Schuß Pulver ist er nicht wert, und wenn so ein Hundsfott einer von meinen Schwestern den Hof macht, schlag ich ihn zu Brei.

Als die Lieder, die man sang, alt waren und süß, als die Lieder, die man sang, so eigen waren wie ›Schönheit von fern‹, und als um die Dämmerstunde die Leute auf den Veranden hören konnten, wie süß und leis das Männerquartett an der Ecke »Sweet Adeline« sang; und als »Daisy, Daisy, give me your answer true« ein vielgesungenes Lied ... war.

Es ist die Zeit der Werften und verworrenen Kauffahrtei; auf den Docks stehn gestapelt die Fässer und Fäßchen mit Melasse und Rum, und die Rollwagen fahren mit schweren Gäulen. Da ist ein vergessenes Gekräusel aus hellem Rauch über Manhattan: – wo sind die verlornen Gesichter derer, die uns entgegenkamen auf der Brooklyn Bridge, wo Kielspur und Wellenbruch der stolzen vergeßnen Schiffe?

Bei den Wassern des Lebens, eh wir noch wußten, daß wir sterben müssen, eh wir noch unsres Vaters Gesicht gesehn hatten, eh wir noch ausgingen, die Spur seiner Füße zu suchen ... bei den Wassern der Zeit, bei der Gezeiten-Zeit, Ebbe und Flut, eh wir noch die Schatten in den heimsucherischen Wäldern gesehn hatten, eh noch die verlornen Augenblicke wieder zu leben begannen, eh noch aus Schatten Fleisch ward ...: Wer sind wir, die wir folgen müssen in den Fußtapfen des Königs? Wer sind wir, die keinen König hatten, um ihm zu folgen? Wir sind die Menschen ohne König. Sind unsre Schatten auf vergessenen Wänden geblieben? Haben wir einen Fluß überquert und sieben zeitlose Jahre mit der Zauberin gelebt, und werden wir unsern Sohn finden, und wird unser Sohn, der wir selbst sind, uns kennen?

Werden Eure Stimmen das Tor meines Hirnes erschließen? Werde ich Dich kennen, obschon ich Dein Antlitz nie sah? Wirst Du mich kennen, und wirst Du mich »Sohn« nennen? Vater, ich weiß, daß Du lebst, obschon ich Dich niemals fand.

In der alten Stadt Tours fand der junge Mensch schnell Unterkunft in einer altertümlichen Hoteltaverne; es war kein Einzelbau, sondern eine Gruppe alter, weißgetünchter Häuser, deren jedes seinen eignen Eingang hatte; die Häuser standen um einen gepflasterten Hof herum, durch dessen Tor wohl früher Reisekutschen mit wegmüden Insassen hereingerasselt waren. In einem dieser Häuser, in einem kleinen, kalten Zimmer, das auf den Hof hinausging, richtete sich der junge Mensch ein wenig ein, und dort begann für ihn eines der außergewöhnlichsten und phantastischsten Zeiterlebnisses seines Lebens. Der Tag ging ein in die Nacht, die Nacht wieder ging ein in den Tag, und es war wie das ununterbrochne Weben eines magischen Gespinsts, und der junge Mensch blieb Woche um Woche wohnen, gefangen in einem seltsamen und legendären Zauberbann der Zeit, die ihm aufgehoben schien, abgelöst von der Welt meßbarer Ereignisse, festgehalten in unbeweglicher Bewegung, unstiller Stille, wandellosem Wandel.

Später schien ihm, diese sonderbare Versonnenheit, dieser Traum von der Zeit, in dem sein Dasein damals eingesponnen war, wäre durch eine Kette von Gründen herbeigeführt worden, durch eine beinah logische Abfolge von Ursachen, die, im Licht der Erfahrung betrachtet, durchaus verständlich wäre. Vor fünf Monaten hatte er Amerika verlassen, und seitdem hatten ihn eine neue Welt und ein neues Leben auf vielfältige, zufällige und unerwartete Weise mit Eindrücken und Ereignissen gepackt und überwältigt. Da waren nacheinander gewesen: – das Schiff, die Reise über See, die ungeheure Einsamkeit des Meeres und das völlige Abgelöstsein von der Erde, also etwas, das schon in sich selber eine Welt, ein Universum an neuem Erlebnis ist, – dann die Wochen in England, die unheimlich große Wabe London, kurze, aber scharf und grell erlebte Tage in Bristol, Bath und Devonshire, die flüchtigen Einblicke in ein Dasein, das ihn so vertraut, so nah und doch so unfaßbar dünkte, daß ihm war, als blickte er durch ein erleuchtetes Schaufenster auf ein Leben, das er zwar von jeher gekannt hätte, aber nie zu seinem eignen machen könne, – dann Paris: Wochen einer bestürzten, verzweifelten, atomischen, sprachlosen Einsamkeit in einer neuen, feindseligen Welt, einer Einsamkeit, die ihn mit Schrecken schlug und ihm die Zunge lähmte, während er in der Flut fremder, dunkler Franzosengesichter beinah zu ertrinken glaubte, Wochen der Verwirrung, des Irrtums und des Kummers, erfüllt von dem Kaleidoskop des Nachtlebens, Cafés und Bordellen, Weibern und Alkohol, erfüllt vom Wahnwitz seines Taglebens, diesem ständigen Suchen in Museen, an Bücherständen und im Gedräng der Straßen, den tausend Denkmalen einer fremden Kultur, den Millionen Gesichtern einer fremden Rasse, einem Suchen, das ihn rasend machte, ihn krank machte mit dem Gefühl des Verlusts und der Hoffnungslosigkeit, das ihn zitternd beließ vor Erschöpfung, so, daß ihm die letzte Faser wie ausgewrungen war, – und nach diesem Monat des schreckhaften Überpralltseins von der Sturzwoge eines fremden Daseins war die Begegnung mit Starwick, Elinor und Ann gekommen, kurze, schicksälige, wütige Wochen freundlicher Beziehung, und dann der bittre Schmerz, die Vergeudung und der giftige Stachel des Trennungswehs, und dann die glosende, unheilbare Pein, die blinde, ziellose Getriebenheit der Wanderschaft, die Zufallsbegegnung mit der Gräfin, das kurze Zwischenspiel der Selbstvergessenheit in Orléans – und nun wiederum dieses leere, stille Alleinsein, das blinde Spiel aus Zufall und Gegebenheit, der willkürliche Aufenthalt in Tours, wo er sich in der Verzweiflung des Geists selber vergraben hatte.

Und nun, nach dem wüsten Erlebnistummel dieser Monate der Hoffnung, des Kummers und der Verzücktheit, des Alleinseins und der Verzweiflung, des Leidens, des rasenden Hungers und des wütigen Verlangens, nach all diesem rastlosen und unersättlichen Suchen seiner gestachelten, ruhlos getriebenen Seele, war er schließlich an einen Ort der Ruhe und des Innehaltens gelangt, und plötzlich war ihm zumute wie einem Verzweifelten und Bestürzten, der vor den wütigen Straßen des Lebens in der tauben Stille einer Gruft Zuflucht und Rast sucht.

Tag und Nacht nun, vom Morgenzwielicht bis zur Abenddämmerung, vom Einschlafen bis zum Wiederaufwachen, festgehalten von jenem magischen Bann der Zeit und der Stille, der weder Traum, noch Schlaf, noch wahre Wahrschau war, sondern ein Bezauberungszustand, in dem diese drei Dinge alle enthalten waren, besessen wie ein Vertriebener, Verbannter oder Verurteilter, den das Schicksal auf eine öde Insel verschlagen hat, von der es keine Möglichkeit der Flucht und der Rückkehr gibt, ... Tag und Nacht nun dachte er heim.

In diesem Zauberbann der Zeit und Stille, so, wie ein Mensch in Visionen über dampfende endlose Meere hinstarrt, mit der furchtbaren Heimatlosigkeit dessen, für den es keine Heimkehr gibt, mit der furchtbaren Heimatlosigkeit dessen, der sich heimsehnt und kein Heim hat, – mit dem unmöglichen, hoffnungslosen, unheilbaren und unaussprechlichen Heimweh des Amerikaners, den die Sehnsucht zurückzukehren rasend macht, der aber nicht weiß, wohin er zurückkehren kann, dessen Hirn sich Tag und Nacht an verrückten Hoffnungen entzündet, dessen Herz Tag und Nacht schmerzt vom brennenden, heillosen Weh des hauslosen, heimlosen, verlassenen Erdkinds, dessen Hunger kein Ziel und kein Ende hat, dessen Begehren keinen endgültigen Wohnort hat, ... so dachte er heim.

Was es war? Es war das wütige, nicht zu lindernde, ungestillte Verlangen des verlassenen Wandrers, – des verlornen Amerikaners, der sich immerdar zurückzukehren sehnt, und der keine Tür hat, durch die er eintreten könnte, der keine Stube hat, in der er wohnen könnte, der auf dem wilden, unbehausten Raum des Kontinents keine Handbreit sicherer und geweihter Erde hat, zu der er zurückkehren könnte.

Und nun geschah etwas Erstaunliches, etwas beinah Unglaubliches. Der junge Mensch war nach Tours gekommen und hatte sich gesagt, daß er nun endlich – daß er endlich nun – sich hinsetzen und schreiben wolle. Er hatte sich vorgenommen, seine Reise durch hohe, schöpferische Arbeit zu rechtfertigen. Er trug sich mit einem Schwarm von Plänen. Verschiedenartiges schwebte ihm vor, er hatte wolkige, vage, grandiose Konzeptionen von Schauspielen, Büchern, Erzählungen, Aufsätzen, die er unbedingt schreiben müsse. Verzweifelt entschlossen setzte er sich hin und schickte sich grimmig an, seine großen Pläne mit dem strengen und plagsamen Maurerhandwerk der Worte gestaltig wahrzumachen. Ein paar ungeduldige, fragmentartige Anfänge – die Eingangsseiten einer Erzählung, die ersten Auftritte zu einem Schauspiel – alle zusammengekrumpelt zu einem Bausch Papier und ungeduldig weggeschmissen – das war das Endergebnis dieser ehrgeizigen Zielstrebigkeit.

Und doch, er schrieb. Zwecklos, bruchstückhaft, beginnerisch, wie diese ersten, abtreiberischen Versuche waren, nun fing er an, wie ein Verrückter zu schreiben – zu schreiben, wie nur ein Verrückter schreiben kann – und schrieb, getrieben von einem Wahnsinn des Verstandes, der Seele und des Gefühls, den er nicht länger bemeistern und zügeln konnte, in der Trance einer Schicksalshypnose, in der er von einer unersättlichen Macht, die nichts nach seinem Willen fragte, zum Schreiben genötigt und gezwungen war. Vor diesem unbezähmbaren Verlangen fielen alle ordentlichen Pläne, zusammenhängenden Anlagen und vorgefaßten Absichten unter den Tisch, sie verbrannten in dieser Flamme unstillbarer Leidenschaft wie eine Handvoll trocknes Stroh. Er saß am Tisch in dem kalten, kleinen Zimmer, das auf den alten, gepflasterten Hof des Hotels hinausging, und schrieb unausgesetzt, schrieb vom Morgen bis zum Abend und manchmal noch weiter, vom Abend bis zum nächsten Morgen, und warf sich nur manchmal aufs Bett um zu träumen, in einem Zustand schlafsüchtiger Wachheit, mit seltsamen, halbwach, halbschlafend geschauten Visionen, Traumgesichten so verrückt und schreckhaft wie die blindmachenden Wahrbilder, die ihm nun ständig feuergrell im Bewußtsein brannten.

Die Worte wurden ihm abgerungen, und es war, als schwitze er Blut, die Worte schütteten sich ihm aus den Fingerspitzen, sie spuckten sich ihm wie zuckende Nattern aus der fauchenden Kehle; er schrieb die Worte mit seinem Herzen, seinem Hirn, seinem Schweiß, seinen Eingeweiden; er schrieb sie mit seinem Blut, seinem Geist; sie wurden ihm aus dem letzten geheimen Quellort, dem letzten geheimen Gehalt seines Wesens herausgerissen.

Und in diese Worte ward das ganze Wahrbild seiner bitteren Heimatlosigkeit gepackt, sein unerträgliches Verlangen und seine rasende Sehnsucht zurückzukehren. In diese wilden und gebrochnen Sätze ward die ganze bittre Bürde seines ausgehungerten, getriebnen, überlasteten Geistes gepackt, – all die Sehnsucht des Wandrers, all das unmögliche und unaussprechliche Heimweh, so, wie es ein Amerikaner oder sonst ein Mensch auf Erden an sich erfahren kann.

All diese Sehnsucht, all dieses Heimweh war da, war ohne Zusammenhang, Schema oder Sinn da, war aufs Papier geworfen mit Zeichen, die gleichsam vom Blitzstrahl des Geists getroffen waren, und in diesen Zeichen war die ungeheure Chronik der Billionen Formen, der Millionen Namen, die ungeheure, einzige und unvergleichliche Substanz Amerikas.


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