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LXXXIX

Am nächsten Morgen gegen zehn klopfte jemand an Eugens Tür, und Starwick trat ein. Sofort, ohne die vorhergehende Nacht zu erwähnen, sagte er auf seine beiläufig erwähnende, unvermittelte Art:

»Hör mal! Elinor und Ann sind hier. Sie sind heut früh angekommen.«

»Wo?« Erregung, scharf und jäh wie ein elektrischer Schlag, durchfuhr Eugen. »Hier? Drunten im Haus?«

»Nein. Sie machen Einkäufe. Ich treffe sie bei Prunier zum Mittagessen. Ann sagte, sie käme vielleicht nachher bei Dir vorbei.«

»Vor dem Mittagessen?«

»Ace«, bejahte Starwick. »Hör mal!« begann er wieder in seinem manierierten beiläufigen Ton. »Ich nehm nicht an, daß Du Dir was draus machst, mit uns zu Mittag zu essen?«

»Danke«, sagte Eugen steif. »Ich kann nicht. Hab 'ne andre Verabredung.«

Starwick war dunkelrot im Gesicht geworden vor peinlicher Scheu und Verlegenheit. Die Frage hatte ihn Anstrengung gekostet. Er stützte sich auf seinen Stock und blickte zum Fenster hinaus, als er wieder sprach.

»Dann hör mal«, sagte er. »Ich soll Dir die besten Wünsche von Elinor bestellen.« Er schwieg eine Weile, dann fuhr er peinlich-schwierig fort: »Wir gehn nach Tisch in den Louvre. Ich möchte den Cimabue noch mal sehn, eh wir abreisen.«

»Wann fahrt Ihr denn?«

»Morgen«, sagte Starwick. »– Hör mal!« Er sprach bedachtsam, blickte zum Fenster hinaus. »Wir gehn um vier aus dem Louvre fort ... Ich dachte ... wenn Du zufällig dort in der Nähe wärst ... Ich weiß, daß Elinor Dich gern noch mal sehen möchte ... Wir werden zum Hauptportal 'rauskommen.« Es war ihm anzumerken, welche Anstrengung es ihn gekostet hatte, diese Worte hervorzubringen. Er stand da, auf seinen Stock gestützt, sah zum Fenster hinaus ins Leere, und auf einen Nu verzog sich sein rötliches Gesicht vor wortloser Qual zu jener alten Tiergrimasse, die Eugen vor Jahren in Cambridge zum erstenmal an ihm beobachtet hatte. Dann ging Starwick, ohne Eugen anzusehn, zur Tür, wo er einen Augenblick stehenblieb, den Rücken gegen das Zimmer gewandt, und schlacksig mit dem Spazierstock gegen die Wand täpperte.

»Es wäre schön, wenn Du uns dort treffen wolltest. Falls nicht – –«

Er drehte sich um, und zum letztenmal blickten die beiden jungen Menschen einander voll ins Gesicht, ließen sie einer den andern ohne Ausflüchte und Verhaltenheiten das wahre Bild ihrer Seelen schauen. Von nun an sollten sie nur dann und wann einmal einen Flimmerschatten vom Dasein des anderen auffangen; ihre Schicksale sollten sich zwar merkwürdig verspinnen im Weben dunklen Zufalls und tragischer Umstände, aber von Angesicht zu Angesicht sollten sie sich nie wiedersehn.

Starwick sah, ehe er sprach, Eugen fest an, und die tiefe Überzeugtheit seines Geists, der wahre Ausdruck seines Wesens erschien auf seinem Antlitz, in seinen Augen, lag in seinem Ton und seinem Gebaren. Er sagte:

»Wenn ich Dich nicht wiederseh, dann: Leb wohl, Eugen.« Er schwieg eine Weile. Von der Tiefe und dem Ernst seines Fühlens flammte sein Gesicht auf. Dann sagte er ruhig: »Es war gut, Dich zu kennen. Ich werde Dich nie vergessen.«

»Ich Dich auch nicht, Frank«, sagte Eugen. »Was auch immer geschah, wie wir auch immer nun zueinander stehn, Du hattest einen Platz in meinem Leben, den sonst keiner hatte.«

»Und welcher war das?« fragte Starwick.

»Ich glaub', es war dies, daß Du jung – gleichaltrig – und daß Du mein Freund warst. Gestern nacht nach – nach diesem Vorfall«, fuhr Eugen fort und spürte, wie er bei der peinlichen Erinnerung tief errötete, »habe ich über die Zeit unsrer Bekanntschaft nachgedacht. Und da wurde mir zum erstenmal klar, daß Du der erste und einzige gleichaltrige Mensch warst, den ich als meinen Freund bezeichnen konnte. Du warst mein einziger, wahrer Freund, der, zu dem ich mich stets wandte, der, an den ich mit der Ergebenheit, die nie fragt, glaubte. Du warst der einzige wirkliche Freund, den ich je hatte. Und nun ist etwas geschehn. Du hast mir etwas genommen, das ich haben wollte, Du hast es genommen, ohne zu wissen, daß Du es nahmst, und so wird es immer sein. Du warst mein Bruder und mein Freund –«

»Und nun?« fragte Starwick ruhig.

»Bist Du mein Todfeind. Leb wohl.«

»Leb wohl, Eugen«, sagte Starwick traurig. »Aber laß mich Dir vorm Weggehn sagen: – Was es auch war, das ich Dir nahm, es war etwas, das ich nicht haben wollte und Dir nicht wegzunehmen wünschte. Und ich würde Dir's wiedergeben, wenn es in meiner Macht stünde.«

»Oh, glücklicher und begünstigter Starwick!« höhnte Eugen. »So reich zu sein, solche Gaben zu haben und nicht zu wissen, daß man sie hat – auf immerdar Sieger und dabei so demütig und mild zu sein!«

»Und ich will Dir auch noch etwas sagen«, fuhr Starwick fort. »Was für Nöte und Leiden Dir Dein wahnsinniger Lebenshunger, Dein Verlangen nach dem Unmöglichen verursacht haben mag, und für wie glücklich und begünstigt Du mich auch halten magst, ich würde mein ganzes Leben dafür hergeben, wenn ich auf eine Stunde mit Dir tauschen könnte – wenn ich nur auf eine Stunde den kleinsten Teil Deiner Drangsal, Deines Hungers und Deines Hoffens verspüren dürfte ... Oh, so fühlen, so leiden, so leben können wie Du, – ganz gleich, wie sehr Du im Leben irren magst! ... Nicht wie ich stillgeboren aus der Mutter Schoß gekommen sein! ... Nie das tote Herz und die leidenschaftslose Passion spüren, das kalte Hirn, die eisige Aussichtslosigkeit im Hoffen! ... Wild, rasend wütig und mit Qualen leben, aber den Glauben besitzen, die Seelennot verspüren und zu leben statt zu sterben ...« Er kehrte sich um und machte die Tür auf. »Ich gäbe alles, was ich habe, und alles, was ich Deinem Vermeinen nach habe, wenn das auf bloß eine Stunde mein sein könnte. Du nennst mich glücklich und begünstigt. Und Du bist der begünstigtste und glücklichste Mensch, den ich je kannte. Leb wohl, Eugen.«

»Leb wohl, Frank. Leb wohl, mein Feind.«

»Und Leb wohl, mein Freund«, sagte Starwick. Er ging hinaus und schloß die Tür hinter sich.

Um vier Uhr an jenem Nachmittag wartete Eugen vor dem Louvre. Als er die drei die Treppe am Hauptportal herunterkommen sah, verspürte er jäh und blindlings eine drängerische Zuneigung für sie alle, und er erkannte, daß sie alle drei feine Menschen waren. Elinor kam sofort auf ihn zu und sprach zu ihm; sie sprach warm und gütig und aufrichtig, ohne eine Spur von Künstelei, Geziertheit oder versteckter Gereiztheit. Starwick stand ruhig dabei, und Ann blickte düster und dumpf drein; sie hatte die Hände in die Taschen ihrer Pelzjacke geschoben. Im trüben Graulicht standen sie da und sahen wie schöne, wohlgeratene, von der Menschenwürde durchdrungene Wesen aus, wie Leute, an denen nichts kleinlich und gemein, mit denen nur ein weiträumiges, hochgestimmtes und großherziges Leben möglich ist. Im Vergleich zu ihnen sahen die Franzosen, die aus dem Museum herauskamen und vorübergingen, schnuddelig und provinziell aus, und andre Amerikaner und sonstige Ausländer wirkten schäbig, langweilig und minderwertig neben diesen dreien. Auf einen Augenblick drang das leidenschaftliche und bittre Rätsel des Daseins verzweiflungsvoll und hoffnungswild in Eugen ein. Was war da verkehrt im Leben? Was war es, das über Menschen wie diese kommen konnte, um sie an ihren wesentlichsten Eigenschaften zu beflecken, um den echten, höheren Sinn ihres Seins zu verzerren, zu verrenken, zu verkrüppeln? Wer waren diese widrigen Dämonen der Grausamkeit und des Zerstörerischen, der Lebensangst, des Irrens und der Verwirrung, die in solche Menschen fahren und sie anscheinend mit verruchter, verderblicher Störrischkeit dazu trieben, vorsätzlich Dinge zu tun, die sie nicht tun wollten, eben jene Dinge, die ihres wahren Wesens so unwürdig, vor ihrem wirklichen Wollen so schändlich waren?

Es war zum Rasendwerden, weil es so verderblich, so vergeuderisch, so sinnlos war, und auch weil es so unerklärlich blieb. Als diese drei wunderbaren, seltenen und sogar schönen Menschen nun bei ihm standen, um ihm Lebewohl zu sagen, war jedes Wort, das sie äußerten, beredt vom stillen, aber leidenschaftlichen und unerschütterlich überzeugten Glauben ans Menschentum. Ihre ruhigen, ernsten, zuneigungsvollen Augen, ihr Gebaren, ihre schlichte, klare und doch gemüthaft bewegte Art zu sprechen und selbst jene geschöpfliche Zärtlichkeit, die sie füreinander empfanden, die sie zu einer lebenswarmen Einheit zusammenzuschließen schien, und die sich nun einfach darin bezeigte, wie sie dastanden, einander schnell anblickten oder flüchtig innige Gebärden machten, – dies alles schien mit strahlend klarer, nackter Lieblichkeit aus ihnen zu sprechen und in unmißverständlichen Worten zu sagen:

»Immer kommt ein Augenblick wie dieser, in dem wir am Rand des wütig verzwisteten Geschehens ruhig stehen und schauen; der Nebelschleier über dem fiebrigen Sumpf verzieht sich, die Wahnbilder zergehn wie bunter Rauch, und wir stehen beieinander, Freund, unsre Augen sehn wieder klar, unsre Seelen sind still und unsre Herzen stet, – und wir haben, was wir haben, wir wissen, was wir wissen, wir sind, was wir sind.«

Es war Eugen nun, als sei ein solcher Augenblick der Besonnenheit für diese drei Menschen gekommen, als wohne dieses klare Wissen in ihren Herzen und spräche ihn friedlich an; ihm war nun, als wäre sein ganzes Leben in den letzten Jahren – seit er nach dem dunklen Norden gereist war und in Großstädten gelebt hatte, seit seiner ersten Bekanntschaft mit Starwick – nichts als ein phantomischer Alptraum gewesen, ein Kaleidoskop von blinden, wütigen Tagen und betrunknen, vergnügungssüchtigen Nächten, ein Geschehnis in den maßlosen Meerestiefen des unberechenbaren Gedenkens, das Dasein eines verlornen Atoms, das in einer Welt voll ungeheurer Schemen umhergetrieben wird, betäubt von sinnlosem Widerstreit, bestürzender Bewegung und blinder Wut. Und ihm war nun, jetzt wäre zum erstenmal für ihn – und für die andern – der Augenblick der Klarheit und Ruhe gekommen, jetzt sähen ihre Herzen zum erstenmal die Wahrheit, die in allen Menschen begraben liegt, um die alle Menschen wissen, und die Herzen sprächen diese Wahrheit aus.

Elinor hatte ihn bei der Hand genommen und sagte ruhig: »Mir tut's leid, daß Du nicht mit uns fährst, Eugen. Unser Zusammenleben ist seltsam hart und verzweifelt gewesen, aber diese Tage sind nun herum. Wir haben uns manches Weh angetan und uns Schwierigkeiten gemacht, und was wir getan haben, tut uns allen leid. Ich möchte Dich gern wissen lassen, daß wir alle Dich lieben und immer mit Freundschaft an Dich als an unsern Freund denken werden, und wir werden auch stets auf Dein Glück hoffen, und Dein Erfolg im Leben wird uns freun, als wäre er unser eigner ... Und nun, leb wohl, mein Lieber, und versuch' immer so von uns zu denken wie wir von Dir, in Liebe und Güte. Vergiß uns nicht; vergiß uns nicht, sondern erinnre Dich unser im guten Gedenken, so, wie wir uns Deiner erinnern werden ... Vielleicht –«, ein heiter-reuiges Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, – »vielleicht, wenn ich mal 'ne alte Bostoner Lady bin mit 'ner Katze, 'nem Papagei und 'nem Kanarienvogel, kommst Du und besuchst mich mal. Ich werde dann 'ne nette alte Lady sein, aber immerhin auch eine Geächtete, denn vergessen wird einem nichts – sein Lebtag nichts und in Boston schon gar nicht –, und diesmal, Lieberchen, bin ich zu weit gegangen. Und so werde ich dann wenig Besuch haben, und auch ich werde die Leute in Frieden lassen, und falls Du bis dahin nicht zu reich, zu berühmt oder zu korrekt geworden bist, kommst Du vielleicht mal und guckst nach mir ... Nun denn, leb wohl.«

»Leb wohl, Elinor«, sagte Eugen. »Und noch viel Glück wünsch' ich Dir.«

»Hör mal«, sagte Starwick ruhig. »Wir gehn jetzt, Elinor und ich ... – Ich dachte, falls Du sonst nichts vorhättest ... könnten Du und Ann vielleicht zusammen zu Nacht essen.«

»Ich hab' nichts – ich hab' nichts vor«, stammelte Eugen. Er sah Ann an. »Aber vielleicht hast Du ...?«

»Nein«, murmelte Ann und blickte mürrisch und geelendet zu Boden. »Ich auch nicht.«

»So sehn wir Dich also später, Ann«, sagte Starwick. »... Und leb wohl, Eugen.«

»Leb wohl, Frank.«

Sie reichten sich ein letztes Mal die Hand, und Starwick kehrte sich um und ging mit Elinor weg. So schieden die beiden voneinander. So, mit solch kurzen, beiläufigen Worten wurde das Band der Freundschaft – wurde das gläubig leidenschaftliche Gelübde der Jugend auf immer gelöst. Nach diesem Abschied sah Eugen Starwick nur noch einmal; durch Zufall sollten sich die Lebensbahnen der beiden sonderbar kreuzen, aber sie sprachen nie wieder miteinander.

 

Eugen und Ann warteten in unbeholfnem Schweigen, bis sie Starwick und Elinor in ein Taxi steigen und wegfahren sahen. Dann gingen sie über den großen viereckigen Hof des Louvre. Ein weicher, bläulicher Dunsthauch, rauchig wie ein Schleier, hing über den Tuilerien und der Place de la Concorde. Kleine Taxis surrten auf der großen Durchfahrt vor den Flügeln des Louvrebaus vorbei, sie erfüllten die Luft mit wespenhaftem Geschwirr, mit ihrer Drohung und den erregenden, schrillen Horntönen tutender Hupen. Und wie weither durch den bläulichen Dunst drang die raunende, geheimnisvolle Stimme der Stadt Paris an Anns und Eugens Ohr; es war ein Laut, unermeßlich und murmelnd wie die Zeit, in dem sich der gelle Lärm, den vier Millionen Menschen machen, gesammelt, aber auch ungemein gedämpft hatte, und der mit Leben und Tod geladen, verführerisch, sinnbetörend, grausam und erregend dröhnte. Der mysteriöse Duft des Pariser Lebens mit dem starken Rausch seiner Magie erfüllte Eugen. Er atmete die kräftige, rauchherbe Luft in seine Lungen, und ihm war, als wäre sie mit dem feinen Weihrauch der Hoffnungen und Wünsche befrachtet, die die Großstadt erweckt, mit Kummer, Freud und Schrecken, mit wildem, namenlosem Hunger, mit unerträglicher Begier. Er spürte das in seinen Eingeweiden und Lenden wie eine von sinnlichen Ahnungen bewirkte Benommenheit, es machte, daß ihm das Herz heller und schneller schlug, daß ihm der Atem geschwinder ging, er spürte, daß es ihm ins pulsierende Blut gemischt war und dem Kummer, der Freude und dem Leid, der wild-verworrnen Drangsal seines Herzschlags seinen einzigartigen Zauber, seine unfaßbare Lust mitteilte.

Die beiden schritten langsam durch den weiträumigen Hof des Louvre und unter dem gigantischen Mauerwerk des Einfahrtsbogens hindurch auf die Rue de Rivoli. Die Straße war überschwärmt vom dichten Durcheinandergeschiebe der Nachmittagsmenge. Leben und Verkehr waren sinnverwirrend schwierig vor der ungeheuren Wabe der Geschäftigkeit und des Verlangens, der Fahrdamm war überfüllt mit glänzenden Wagen, mit dem Fauchen, Rufen, Tuten und Schreien und der Drohung keuchender Maschinerie, und auf der andern Seite der Straße, unter den Bogen der Kolonnade, strömte die Menschenmenge in unendlichem Fluß vorbei.

Sie kreuzten die Straße und machten ihren Weg durch das wirre Gedräng nach der Place de la Comédie Française, wo sie auf der Terrasse der Régence ein freies Tischchen fanden. Das angenehme alte Café war voll von Leben und dem heiteren Schwatz nachmittaglicher Besucher, und doch, nach dem großen Tosen und Wüten der Straße, herrschte hier eine eigenartige, wohltuend entrückte Ruhe. Die kleinen, abgeteilten Veranden der Terrasse, die Tische, die alten Sitzbänke und Wände verliehen dem Café etwas unglaublich Familiäres und Intimes, ganz so, als säße man in einem netten Ausschaukästen, in der Loge eines alten Theaters, auf dessen Bühne sich das Leben selber abspielte.

Auf einer der freundlichen, logenartigen Verandanischen dieses angenehmen alten Cafés fanden sie ein freies Ecktischchen mit zwei gegen die Wand gerückten Stühlen. Sie setzten sich und bestellten, der Kellner kam zurück, und dann saßen sie eine Weile und schlürften ihren Brandy und blickten hinaus auf das blitzende, pulsierende Leben auf der Straße und schwiegen.

Alsdann, ganz unvermittelt und ohne Eugen anzusehn, fragte Ann in ihrer gleichmütigen, schroffen und beinah ingrimmig tonlosen Sprechweise:

»Was haben Du und Frank gestern nacht angefangen?«

Die Erregung packte ihn, sein Puls ging schneller, er sah sie geschwind an und sagte:

»Oh, nichts. Wir gingen aus essen – trieben uns dann noch ein bißchen herum – das war alles.«

»Die ganze Nacht?« fragte sie kurzangebunden.

»Nein. Ich bin früh schlafen gegangen. War um zwölf schon zu Haus.«

»Was ist dem Frank geschehn?«

Er sah sie scharf und verdutzt an. »Geschehn? Was willst Du damit sagen?«

»Was hat er getan, als Du heimgingst?«

»Wie soll ich das wissen? Ich nehme an, er ist heimgegangen aufs Atelier. Warum möchtest Du das wissen?«

Ann schwieg eine Weile und blickte düster auf die Straße hinaus. Dann, als sie wieder sprach, sah sie Eugen nicht an. Ihre Stimme war gleichmäßig, hart und kalt, von einer ruhigen, ingrimmigen Unbeschwingtheit.

»Hältst Du es für sehr männlich, wenn so ein ungeschlachter, vierschrötiger Bengel wie Du einen Jungen von Franks Größe anfällt?«

Die heiße Wut würgte ihn, schoß ihm wie eine erblindende Welle in die Augen. Er knirschte mit den Zähnen, schaukelte langsam mit dem Stuhl hin und zurück und sagte kleinlaut mit behinderter Stimme:

»Oh, so, er hat Dir's gesagt, nicht? Er ist flennend damit zu Dir gekommen, nicht? Der verdammte kleine ...!«

»Nichts hat er gesagt!« erklärte Ann schroff. »Von dieser Sorte ist Frank nicht; er flennt nicht. Wir konnten bloß nicht umhin, zu bemerken, daß er am Hinterkopf 'nen Knüppel hat, groß wie ein Gänseei. Dann habe ich nicht viel Zeit gebraucht, um mir das übrige zu denken.« Sie wandte sich, sah Eugen stracks mit einem unnachgiebig starren Blick an und fragte harsch:

»Es war wunderbar, so was zu tun, nicht wahr? Ich nehme an, Du bildest Dir ein, daß somit alles erledigt ist. Und jetzt kannst Du stolz auf Dich sein, gelt?«

Grausame Eifersucht stieß ihm jäh die dünne, feine Klinge ins Herz, stocherte ihm darin herum, und in einer Stimme, die von der glosenden Gewissensnot seiner Niederlage bebte, aus bedrängtem, überladnem Herzen, höhnte er geringschätzig in erbitterter Parodie:

»Komm, so komm, komm doch, Fränkchen liebes! Hat böser ungesogener Mann an Klein-Fränkchen sei'n kostbaren Köpfchen Weh-Weh demacht? ... Heile, heile, mein Liebling! Mama küßt es und da ist's wieder heile-heile! Und die große liebe Amme-bamme küßt es und dann ist alles wieder gut. Nächstemal, wenn Fränkepänkchen dadageht, da geht die große Amme Ann aus Boston mit'em, – newwah, Schätzchen? – und gibt fein acht, daß der böse, ungesogene Mann dem armen kleinen Fränkchen ja nicks tut.«

Ann war rot geworden vor Ärger und sagte:

»Niemand versucht auch nur, Franks Kindermädchen zu spielen. Er braucht keins und will keins. Nur: – ich halt es für eine verruchte Schande, daß so ein vierschrötiger, ungeschlachter Knoten wie Du nicht mehr Anstand hat und auf so 'nen feinen Menschen wie den Frank losdrischt. Du solltest Dich schämen. Das war einfach eine Gemeinheit.«

»Ei Du Hündin!« sagte er leis aus geschnürter Kehle. »Du feiner, reiner, achtzehnkarätiger Edelstein von einer snobistischen Bostoner Petze! Geh doch hin, wo Du hergekommen bist!« fauchte er. »Da gehörst Du hin, nach Boston, das ist alles, wozu Du taugst ... So, ich bin also ein vierschrötiger, ungeschlachter Knoten, nicht? Und dieser verdammte, affektierte Schöngeist ist der feinste Mensch, dem Du im Leben begegnet bist! Ei, Gott soll Dich und Deinesgleichen verdammen als die billigen, verlogenen, falschen Bostoner Petzen, die Ihr seid! Mit Euerm Gewäsch: ›Er ist eine großartige Person, wirklich, das ist er, weißt Du‹, mit Euerm: ›Oh, groß, o tollschön, o fein‹«, höhnte er sinnlos weiter. »Ei, verdammt sollst Du sein, was bildest Du Dir denn überhaupt ein, daß Du wärst? Glaubst Du, ich laß mir dieses snobistische Bostoner Gerede noch länger gefallen?! – So, ich bin also ein vierschrötiger, ungeschlachter Knoten, nicht wahr?« Der Ausdruck hatte ihn bitter verletzt, er wurmte ihn, er wußte, er würde ihn nie vergessen. »Und der liebe holde Francis ist zu fein, viel zu fein, ach gottogottchen ja denn, viel zu fein, als daß einer von meiner Sorte ihn mit dem kostbaren Köpfchen wider eine Wand stoßen dürfte ... Ei verdammtnochmal, Ann«, knirschte er, »was bist Du denn anders als ein verdammter, doofer Lummerochs von einem Bostoner Gör? Wie zum Teufel kommst Du denn dazu, Dir einzubilden, daß ich mich hierhersetze, um Dein snobistisches Gewäsch hinzunehmen und die zweite Geige zu spielen, während zwei billige Bostoner Weiber den ganzen Tag Starwick himmelhoch preisen und mir erzählen, was für ein großer Genius er wäre und wie viel feiner als irgendein Mensch, der je gelebt hat? Bei Gott! Es ist zum Lachen!« tobte er sinnlos, blind vor Schmerz und Leidenschaft, sich in seiner Äußerung ständig selber behindernd durch törichte Worte verletzten Stolzes. »– Mitansehn müssen, wie diesem verdammten, affektierten Ästheten alles zuerkannt wird! Du bist es nicht wert! Du bist es nicht wert!« rief er erbittert aus. »Da nennst Du mich einen vierschrötigen, ungeschlachten Knoten, und dabei fühle ich mehr, weiß ich mehr, seh' ich mehr, hab' ich in einer Minute mehr Leben, Macht und Verständnis in mir, als Ihr alle drei zusammen jemals haben werdet! Ei – ich bin so viel besser als Ihr andern, daß – daß – daß –«, er fand keine Worte und beendete den Satz lahm, »– daß es überhaupt kein Vergleich ist«, und schloß: »Oh, Ihr seid es ja einfach nicht wert! Du bist es nicht wert, Ann! Warum sollte ich vor Dir in die Knie brechen und Dich anbeten und Dich um nur ein einziges Wort der Liebe und des Mitleids anbetteln, wenn Du mich einen vierschrötigen, ungeschlachten Knoten nennst und selber weiter nichts als eine reiche, langweilige, snobistische Bostonerin und es überhaupt nicht wert bist?« rief er verzweifelt aus. »Warum muß es denn so mit mir stehn, wenn Du es nicht wert bist, Ann?«

Sie errötete. Sie lachte ihr kurzes, erzürntes Lachen und sagte einen Augenblick später:

»Gott! Ich sehe bereits, was das für ein angenehmer Abend wird, wenn Du schon jetzt loslegst wie ein Tobsüchtiger und mich mit Deinen Komplimenten überhäufst.« Sie sah ihn erbittert an und bemerkte sarkastisch: »Du sagst den Leuten immer so nette Sachen, nicht wahr? Oh, reizend! Reizend! Einfach entzückend!« Wieder lachte sie ihr plötzliches, erzürntes Lachen. »Gott, ein paar von den Liebenswürdigkeiten, die Du mir gesagt hast, werde ich nie vergessen!«

Und Eugen, nun schon von Reue und Scham gequält und dem ungeheuren, unerklärlichen Glosen seiner Herzensnot preisgegeben, griff nach ihrer Hand und flehte sie elend und demütig an:

»Oh, ich weiß! Ich weiß schon! Es tut mir so leid, Ann, und ich verspreche Dir, mich besser zu benehmen! So wahr mir Gott helfe, ich will's wirklich tun.«

»Warum mußt Du denn überhaupt so loszetern«, fragte sie, »mich verfluchen und beschimpfen und solche Sachen gegen Francis sagen, der einer der feinsten Menschen ist, die je gelebt haben, und der noch nie ein Wort gegen Dich gesagt hat?«

»Oh, ich weiß!« stöhnte er elend auf und schlug sich vor die Stirn. »– Ich will das doch gar nicht sagen! Es ist einfach so, daß es mich übermannt. Ann, Ann, ich lieb Dich so!«

»Ja«, murmelte sie. »Das muß 'ne komische Art Liebe sein, wenn Du mir solche Sachen sagen kannst!«

»Und wenn ich dann Deine Lobesreden auf Starwick anhören muß, dann begehrt alles wieder in mir auf. Herrgott! Herrgott! Warum hat es so kommen müssen! Warum mußte es Starwick sein, den Du – –«

Sie stand auf; ihr Gesicht war jäh errötet vor Ärger und Groll.

»Komm!« sagte sie barsch. »Wenn Du Dich nicht benehmen kannst und gar mit dieser Sache anfängst, kann ich nicht bleiben.«

»Geh' nicht! Bitte, geh' nicht!« wisperte er, griff nach ihrer Hand und hielt sie in seiner dumpfen Herzensnot fest. »Du hast gesagt, Du würdest den Abend mit mir verbringen. Es ist ja doch nur auf ein paar Stunden. Ach, geh' doch nicht, laß mich doch nicht allein, Ann! Es tut mir so leid! Ich versprech Dir, mich besser zu benehmen. Es ist doch bloß, wenn ich daran denken muß, – oh, geh' nicht, Ann! Bitte, geh' nicht! Ich geb' mir doch alle Müh, nicht davon zu reden, aber es ist einfach so, daß es mich überfällt und niederzwingt. Ich werde mich von nun an schon richtig benehmen, ich verspreche Dir, nicht mehr davon zu reden, wenn Du nicht weggehst! Wenn Du nur ein kleines bißchen noch dableibst, wirst Du sehn, daß es schon recht ist. Ich schwör Dir's, alles wird schon recht werden, wenn Du nicht gehst.«

Sie stand starr und gereckt da, die Ellenbogen an die Seite gepreßt, die Hände zu Fäusten verkrampft; Tränen des Zorns und der Bestürztheit standen in ihren Augen. Sie machte eine jähenttäuschte Gebärde, eine Gebärde der Verzweiflung und Vereitelung, und rief erbittert aus:

»Gott! Worum dreht sich denn alles? Warum können denn Menschen nicht glücklich sein?«

 

Sie machten eine wütige Runde durch die Nachtbetriebe, suchten alle die alten Stätten auf, wo sie mit Starwick und Elinor gewesen waren: – Le Rat Mort und Le Moulin Rouge, Le Bai Tabarin, La Bolée, Le Jockey Club, Le Coq et L'Ane, das Café du Dôme und die Rotonde, sogar den Bai Bullier. Sie gingen in die großen Vergnügungszufluchten und in die kleinen, in große Cafés und kleine Bars, in Keller und Kneipen und Beizen und Buden, in Lokale, wo ausschließlich reiche und modische Leute verkehren – Ausländer, wohlhabende Franzosen, Reisende, Expatriaten –, und in Lokale, wo die reichen und modischen Leute nur hingehen, um einmal in den Hexenkessel zu gucken, um sich jene Geschöpfe anzusehn, die im großen Sumpf der Unterwelt leben, die Diebe, die Huren, die Gauner, die Zuhälter, die Lesbierinnen, die Päderasten, den Abschaum der Menschheit, das schlimmste Gelichter, das aus dunklen Rattenlöchern gekrochen kommt, auf eine Weile in der bleichen Grelle des Nachtlebens sein Wesen treibt und dann wieder verschwunden ist, weggewischt, zerschmolzen, verweht, wie von argem Zauber zurückgetrieben in das spurenlose Labyrinth, aus dem es hervorgekommen ist.

Aber jene Welt, die die beiden vor gerade sechs Wochen in all ihrer nächtlich-unheiligen Magie erlebt hatten, schien ihnen nun fremder und weiter weg zu sein als ein Traum. Wohin war sie entschwunden? Es war unmöglich, zu glauben, daß diese verlotterten Lokale mit ihrem garstigen Licht, ihrem glanzlosen Flittergold und ihren trüben Flimmerspiegeln jene selben Stätten wären, die vor sechs Wochen geglänzt hatten, geglüht hatten, von heißem, schwülem Parfüm geglost hatten, gebrannt hatten auf den Bahnen der Nacht wie schlimme, geheime, unheilige Tempel der Lust. Alles war nun schäbig geworden, war billig wie Coney Island, verkommen und angedreckt wie Zirkusattrappen vom Vorjahr, kläglich aufgedonnert und schwiemelig wie ein geschminktes Hurengesicht am hellen Mittag. All das Unheimliche, Berauschende und Zauberhafte war öd, trübselig, erbärmlich geworden; – die Menschen wirkten pathetisch, die Musik war leblos, und das Ganze taugte nur dazu, einem die glanzvolle Verworfenheit, die faszinierenden Leute und die heimsucherische Musik ins Gedächtnis zurückzurufen, die man vor sechs Wochen an diesen Orten erlebt, gesehen, gehört hatte.

Eugen und Ann merkten nun, daß sie die Dinge so sahen, wie sie waren, so, wie sie immer gewesen waren. Die Stätten, die Menschen, die Musik nämlich waren sich gleichgeblieben, und sie beide, Ann und Eugen, waren es, die sich verwandelt hatten. Die ganze Nacht hindurch zogen sie von einem Lokal ins andre, sie tranken, beobachteten das Leben, tanzten, unterhielten sich ganz so, wie sie es zuvor wochenlang getan hatten. Aber unterhaltend war es nicht, – alles war schal geworden, es würde nie wieder unterhaltend sein. Sie saßen düster da, so wie Leute herumsitzen, wenn der Karnevalstrubel herum ist, und die Gespenster von Gedenken und Abschied suchten sie heim. Das Gedenken an Elinor und Starwick war es, – besonders aber das an Starwick; es erschien in jedem Lokal wie ein Totenkopf auf einem Fest. Und wiederum kam über Eugen der alte, würgende Ärger, die aufbegehrende Wut des Geprellten, das Gefühl der unabwendbaren, endgültigen Niederlage. Der abwesende Starwick war noch sieghafter am Leben, als es der anwesende hätte sein können, denn er allein hatte kraft seines sonderbaren und seltnen Wesens diesem trübseligen Taumelgedränge das Zaubrische mitzuteilen vermocht, und nun, nachdem er nicht da war, war auch das Zaubrische weg.

Die Nacht verging, ein Kaleidoskop, in vereitelter Wut, wahnwitzigem Suchen, enttäuschtem Verlangen; die beiden sausten hin und her zwischen den grellen Polen Montmartre und Montparnasse. Später erinnerte sich Eugen an alles, sah es, geborstne Bruchstücke aus einem Alptraum, in Bildfetzen wie: – dunkelstumme Straßen, Häuser mit geschlossenen Läden, die abschüssige Fahrbahn jäh vom Montmartre hinab, grelle Bogenlampen an den Kreuzungen, auf den Boulevards, auf den Avenüen, in Cafés, Nachtklubs, Bars, das Wiedereintauchen in die schreckhaft kühle Luft dunkler Straßen, die schrille Dudelhupe des Taxi um freie Bahn, leere, verwegen genommene Straßenecken, die Stengelpflanzen der Laternen jenseits der Seine, die Brücken und die dröhnenden Bogendurchfahrten, abermals dunkle Straßen, die steile Anfahrt auf den Hügel, die bleiche Nachtgrelle und all die nachtnarbigen Gesichter wiederum.

Sie wußten nicht, warum sie es nicht aufgaben, warum sie durchhielten, warum sie so grimmig fortfuhren auf dieser schnöden Hatz, aber irgend etwas schien sie zusammenzuhalten: sie konnten einander nicht Lebewohl sagen und sich trennen. Ann hielt mürrisch und zürnend und in störrischer Einsilbigkeit durch; sie sprach sehr wenig, bestellte Brandy in den Bars und Cafés und Champagner in den eleganten Lokalen, sie selber trank kaum etwas, sie saß mürrisch und zürnend dabei, während Eugen trank.

Er war wie ein irrsinniges Tier; er tobte, stürmte, schrie, fluchte, bettelte, flehte, beschimpfte sie und machte ihr gleichzeitig Liebeserklärungen, – in dem, was er sagte, war weder Sinn noch Vernunft noch irgendein Zusammenhang; in qualhaften Stößen und Schüben kam es aus ihm heraus, aus dem vereitelten Drang, aus dem geprellten Trieb, aus diesem Konflikt zwischen blinder Liebe und Haß, aus der sprachlosen Sterbensangst seines gefolterten Geistes:

»Oh, Ann ... Du schöne Petze! ... Du große, dunkle, dumme, liebe, düstre Bostoner Petze! ... Ach, Du Mensch, Du Metze!« stöhnte er, ergriff ihre Hand, drückte sie und sagte verzweifelt: »Ann, Ann, ich lieb Dich! ... Du bist das größte, herrlichste, beste, schönste Mädchen, das je gelebt hat ... Ann! Schau mich an, Du großes, ochsendumpfes Vieh, oh! Du Petze, Du Bostoner Petze! ... Wird es denn nie aus Dir heraustreten? ... Willst Du es nie zum Vorschein kommen lassen? ... Kann es nicht aufgetaut, geschmolzen, losgerüttelt werden? ... Oh, Du dumpfe, dunkle, düstre, schöne Petze ... Steckt denn nichts in Dir drin? ... Ist das alles, was Du bist? ... Oh, Ann, Du süßes, dumpfes Mensch, wenn Du nur wüßtest, wie sehr ich Dich liebe – –«

»Gott!« rief sie und lachte das schnelle, kurze, zürnende Lachen, das ihrem Antlitz die jähe, strahlende Zärtlichkeit, die unbeschreibliche Lieblichkeit und Reinheit verlieh. »Gott! Aber Du bist mir ein galanter Liebhaber, nicht wahr? Erst liebst Du mich, dann hassest Du mich, dann bin ich eine dumpfe, düstre Bostoner Petze, dann ein Mensch, eine Metze, dann das großartigste und schönste Mädchen auf Erden! Gott, Du bist wundervoll, tatsächlich!« Sie lachte erbittert. »Du sagst so reizende Sachen!«

»O Du Petze!« stöhnte er elend. »Du große, süße, dumpfe und schöne Petze! – Ach Ann, Ann, sprich doch mit mir, sag' doch was zu mir!« Er ergriff ihre Hand und schüttelte sie wie besessen. »Sag' mir doch bloß ein Wörtchen, um mir zu zeigen, daß Du lebendig bist, daß Du ein, bloß ein einziges Atom von Leben und Liebe und Schönheit in Dir hast! Ann, Ann, schau mich an! In Gottes Namen, sag' mir, wer Du bist, was Du bist! Ist denn nichts da? Hast Du nichts in Dir? Herrgott, bemüh Dich doch und sag ein einziges Lebenswörtchen, ... um Christi willen, versuch doch, mir zu zeigen, daß Du es wert bist, daß Du nicht ganz aus Leiche und Kabeljau und Boston und Back Bay und kaltem Fischblut gemacht bist! –«, tobte er sinnlos.

»Hör auf mit Boston und kaltem Fischblut!« murmelte sie, ärgerlich errötend.

»Ei Du? Was bist Du denn?« höhnte er. »Was für eine Art Frau bist Du denn? Ich hab' Dich nie etwas sagen hören, was nicht ein zehnjähriges Kind genauso hätte sagen können. Ich hab' Dich nie ein Wort sagen hören, das man nicht vergessen sollte. Alles, was ich von Dir weiß, ist dies: – Du bist eine Jungfer aus Boston – dreißig – nicht mehr sehr jung – schon vereinzelte graue Haare auf dem Kopf – behaglich sichergestellt mit festen Kapitalsanlagen – hier hüben in Europa auf 'ner Spritztour – zwar fern von Vater und Mutter und dem ›Boston Evening Transcript‹, aber doch nicht so fern, als daß Du sie je aus dem Sinn verlieren könntest, weil Du Dir immer bewußt bleibst, daß Du zu ihnen zurückkehren wirst. In Gottes Namen, Ann, ist das alles, was Du bist?«

Sie lachte ihr plötzliches, kurzes, erzürntes Lachen, und doch war kein Groll darin.

»Das ist, was Frank eine kurze, aber meisterhafte Beschreibung nennen würde, nicht wahr? Ich nehme an, ich sollte Dir dafür erkenntlich sein.« Sie sah Eugen ruhig an und erklärte schlicht: »Was sagt das schon? Selbst wenn es wahr sein sollte, was sagt es schon? Ganz wie Du festgestellt hast, – ich bin durchaus ein langweiliger, gewöhnlicher Durchschnittsmensch, und ehe Du und Francis auftauchten, hat mich niemand für etwas anderes gehalten, und auch niemand hat deswegen weniger von mir gehalten. Hör mal zu!« Ihre Stimme war hart, strack und mürrisch. »Was für Ansprüche stellst Du eigentlich an einen Menschen? Was soll denn, Deiner Erwartung nach, ein Mensch überhaupt sein? Hältst Du's etwa für richtig und anständig, darüber zu reden, wie schön ich wäre, wenn ich doch nicht schön bin, und nachher eine Wendung zu machen und mich zu verfluchen, weil ich einfach ein Durchschnittsmensch bin?« Sie schwieg einen Augenblick, wurde rot, fuhr dann fort: »Was meinen Verstand anbetrifft, nun, ich habe in Bryn Mawr studiert und mein Abgangsexamen ohne in einem Fach zu schmeißen mit der Durchschnittsnote C gemacht. Das sagt ungefähr, was für ein Hirn ich im Kopf habe.« Sie hatte gradaus gesehn, nun blickte sie ihm fest ins Gesicht. Ihre Augen waren zornig und ein wenig feucht.

»Also, was sagt das schon?« fragte sie. »Du behauptest, daß ich langweilig und dumpf und unbedeutend bin, – nun ja, ich habe nie so getan, als wär ich es nicht. Du weißt doch wohl, wir können nicht alle so große Genies sein wie Du und Francis«, sagte sie, und plötzlich schwammen ihre Augen, und Tränen stürzten über ihre erröteten Wangen. »– Ich bin eben, was ich bin, ich hab' nie so getan, als wär ich anders, und wenn Du mich auch für langweilig und dumpf und unbedeutend hältst, hast Du immer noch kein Recht, mich zu beleidigen. – Komm jetzt, ich gehe heim.«

Sie wollte aufstehn, er packte sie und zog sie zu sich.

»Oh, Du Petze! ... Du große, dumpfe, liebliche Petze! ... O Ann, Ann, Du süßes Mensch, wie lieb ich Dich hab! Ich kann Dich nie gehn lassen, oh, Gott soll Dich verdammen, Ann – – –«

Es endete schließlich um Tagesanbruch in einem Bistro in der Nähe der Großmarkthallen, wo die beiden oft in der Früh mit Starwick und Elinor hingegangen waren, um Schokolade oder Kaffee zu trinken und Brötchen dazu zu essen. Sie konnten draußen das nächtliche Gerumpel und Gerassel des Markts hören und das Geschrei der Verkauf er; dort waren all die süßen Gerüche von Erde und Morgen, war das erste Licht, waren Gesundheit und Frohsinn und der beginnende Tag.

Als sie das Bistro verließen, war es schon ganz hell geworden. Und nun endlich schwiegen sie beide. Sie waren sich klar darüber, daß es zwecklos, hoffnungslos und unmöglich war, daß nichts gesagt werden konnte.

Er brachte sie zur Haustür. Sie drückte auf die Schwelle, das Tor ging auf und im letzten Augenblick, eh sie ihn verließ, stand sie da und sah ihn mit errötetem, zornigem Gesicht an, mit feuchten, zornigen Augen. Es war ein Blick des dumpfen, düstren Elends, ein Blick, der an seinem Herzen riß, für den er keine Worte hatte.

»Leb wohl«, sagte sie, »wenn ich Dich nicht wiederseh –« Sie hielt an sich, ballte die Fäuste, schloß die Augen, Tränen stürzten über ihr Gesicht, und mit erstickter Stimme rief sie aus:

»Oh, das wird ja fein für mich werden! Diese Reise ist einfach herrlich gewesen! Gott, mir tut's leid, daß ich irgendeins von Euch je zu Gesicht gekriegt hab! – –«

»Ann! Ann!«

»Falls Du Geld brauchen solltest – falls Du abgebrannt bist – –«

»Ann!«

»Gott!« rief sie wiederum aus. »Warum bin ich nur gekommen!« Sie weinte bitterlich, und blindlings, mit einer wütenden Bewegung trat sie rasch durch das Tor und schlug es hinter sich zu.


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