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LXXV

Sie hießen Octave Feuillet, Alfred Capus und Maurice Donnay; sie hießen Hermant, Courteline und René Bazin; sie hießen Jules Renard, Marcelle Tinayre und André Theuriet; Clarétie und Frapié und Tristan Bernard; de Régnier und Paul Reboux und Lavedan; Rosny, Gyp, Boylesve und Richepin; Bordeaux, Prévost, Margueritte und Duvernois, – und ihre Namen – Großer Gott! – ihre Namen waren zahlreich wie der Sand am Meer, – und letzten Endes waren ihre Namen bloß Namen und Namen und Namen und sonst nichts.

Oder aber: – falls diese Namen etwas mehr als Namen waren, falls sie sich in Eugens Bewußtsein zu Personen verdichteten, dann waren es blasse, anmutige, phantomische Personen, deren jede begabt und ihres Rufs sicher war, Personen, die alle einander eigenartig ähnlich sahen, Personen, deren jede gut und brav und liebenswürdig das Verfasserhandwerk betrieb wie einst die weniger bekannten Ritter von Arthurs Tafelrunde das ihre. Eugen wußte, daß wenige von diesen Verfassern zum Vortrupp des Jahrhunderts zählten und zu Helden ihrer Generation geworden waren, wußte, daß keiner von ihnen es Balzac gleichgetan, Stendhal übertroffen, Flaubert überboten habe, und aus diesem Grund kam ihm diese phantomische Gesellschaft noch fremder vor.

Ebensowohl wußte er, daß unter ihnen große Unterschiede der Begabung, große Unterschiede des Stils bestehen mußten. Seine Vernunft sagte ihm, daß es gute, angängige und ziemlich billige Schreiber unter ihnen gäbe, und selbst sein kärgliches Verständnis von ihrer Sprache ließ ihn erkennen, daß hier ganze Reihen von Darstellungsgegenständen auf alle möglichen Arten gesichtet und behandelt wurden; er erkannte die Unterschiede der Haltung in der Länge und Breite einer Klitterung, die von der graziös ironischen Gefühligkeit von ›Les Vacances d'un Jeune Homme Sage‹ bis zu dem strengen, erdhaft-bäuerischen, herben Ernst von ›Le Blé qui lève‹ ging, die vom Traumheimweh von ›Le Passé Vivant‹ bis zu der würzigen und kniffeligen Drolligkeit von ›Messieurs les Ronds-de-Cuir‹ oder von ›Le Train de 8 h 47‹ reichte.

Er wußte auch, daß wohl jeder dieser Verfasser seinen eignen Stil schrieb und sicher auch Besonderheiten habe, wie sie ein französischer Leser augenblicklich erkennen und schätzen würde, – er wußte, ein paar von ihnen hatten vom stillen Leben in den Provinzen geschrieben und andere wieder von den Ränken, den Liebeshändeln und dem Schliff der mondänen Pariser; er wußte, manche schrieben anmutig sentimental, andre delikat ironisch, andre derb komisch, andere wild satirisch und abermals andre grimmig tragisch.

Aber Eugen schien es, als wären alle diese Autoren Wesen desselben Ursprungs, als hätten sie alle die nämlichen Eigenschaften, als brächten sie alle den gleichen Duft des Lebens mit. Für ihn waren sie ungewisse, schattenhafte Gestalten in einem reizvollen, schönen, ganz legendären Leben, einem Leben freilich, das dadurch noch legendärer wurde, daß Eugen in wilder Fehde mit dieser Welt der Druckerschwärze lag. Er las, das Wörterbuch in der einen Hand und einen von diesen gewichtslosen, windigen Bänden in der andern, tappte dauernd im Halbverstandnen herum, füllte mit schmerzlich angestrengter Einfühlung die Lücken aus und schlug sich so verzweifelt mit dem qualhaften Hunger eines Gepeinigten und mit heftigem Kopfweh durch den Inhalt zahlloser Bände.

Vielleicht war es gerade sein Sich-herum-Balgen mit der anderen Sprache, war es sein täppisches, halb mit der Einfühlung geleistetes Verstehen, was diesen Büchern und den unmutigen Schattengestalten ihrer Urheber jene Eigenschaft des Legendären verlieh, die auch das ganze Erlebnis Paris für Eugen in den ersten Wochen hatte. Später war in der Tat in Eugens Bewußtsein das Legendäre dieser erkämpften Bücherwelt mit dem Legendären des Lebens, das ihn in jenen Wochen umgeben hatte, unentwirrbar vermischt. Vielleicht trugen die schnellhingeworfenen, anmutigen, faszinierenden Illustrationen, mit denen diese Bücher geschmückt waren, einigermaßen zu dieser Illusion bei. Diese kleinen Zeichnungen nämlich gaben den schwer zu verstehenden Romaninhalten ein Ansehen tatsächlicher Wirklichkeit, denn da konnte er tausend Dinge sehn und erkennen, die ihm bereits vertraut geworden waren, – die schmalen Bürgersteige und die hohen, alten Häuser im Quartier Latin, die Seinebrücken, Abteile in französischen Eisenbahnwagen, das große schmiedeeiserne Tor vor einem Château, Leute, die in Cafés und auf Terrassen an kleinen Tischen saßen, die Mauern, die Dächer und die Schornsteine von Paris, – lauter Dinge, die sich kaum änderten, während sonst so manches an der menschlichen Kostümierung, im Stil der Damenmoden, der Zylinderhüte, der Fräcke und der Barttrachten sinnfälligen Abwandlungen unterlag.

Die ausgefallenste und lebhafteste Vorstellung, der Eugen in seinem verzweifelten Bemühen, die zahllosen Hervorbringungen dieser Romanliteratur zu verstehen, gegenüberstand, war diese: – Obschon ihm sein Verstand sagte, alle diese Verfasser, diese Träger der phantomischen und heimsuchenden Namen – Feuillet, Capus, Donnay, Tinayre, Boylesve, Bazin, Theuriet und wie sie alle hießen – müßten wie jeder andre Künstler all den Schweiß und die ganzen Geistesnöte schwerer Arbeit, bestrebte Sorgfalt, unablässige Plackerei und die verzweifelte Geduld kennen, konnte Eugen sich nie der Vorstellung erwehren, die Werke dieser Kameradschaft anmutiger, seltener und glückseliger Skribenten wären geradezu mühelos, wären mit der allerüberlegensten Leichthändigkeit, mit der allergelassensten Beiläufigkeit niedergeschrieben worden. Und nicht nur lebte er dann in dem merkwürdigen Irrwahn, diese Leute wären samt und sonders gleichbegabt und könnten sich folglich in allen Schrifttumsformen gleich gut und gleich leicht ausdrücken, sondern ihn wollte auch bedünken, der Grund für solch wunderbar gnadenhafte Hexenmeisterei läge einfach darin, daß sie »Franzosen« wären. Eugen stellte sich vor, sie wären durch hohe Schicksalsgunst Künstler, die kraft dieses »Franzosentums« alles mutig, leicht und trefflich fertigbrächten und überhaupt nichts verpatzen könnten. Er sah sie als Leute, denen bereits bei der Geburt mit dem Blut und dem Temperament ihrer Rasse das große, erbtümliche Gnadengeschenk ihrer Sprache voll und ganz zuteil geworden war, sah sie als Kinder einer schönen, eigenartigen, legendären Kultur, deren Zunge schlechthin eine Bürgschaft für Stil, deren Tradition ohne weiteres eine Versicherung für Form bedeutete, sah sie als Männer der Feder, die einfach deshalb schlecht zu schreiben außerstande waren, weil das nicht im Blut und Wesen ihrer Rasse lag, und wähnte, sie müßten alles, was sie täten, anmutig, leichthändig und in tadellos vollendeter Form tun, weil ihnen Grazie, Ausdrucksgewandtheit und Formsinn eingeboren wären.

Zu dieser kuriosen Besessenheit gehörte schließlich auch noch der sehr außergewöhnliche Glaube, alle diese Werke wären nicht etwa in der strengen, klausnerischen Einsamkeit mitternächtiger Gelasse, sondern leicht und gefällig, gewissermaßen beiläufig und ganz so, wie man schnell einen unwichtigen Brief erledigt, an Kaffeehaustischen geschrieben worden.

Diese Zwangsvorstellung war so stark, daß Eugen sie so in einem Kaffeehaus sehen konnte – Feuillet, Capus, Donnay, Bazin und wie sie alle hießen –, da saßen sie nachmittags, ein jeder in seinem Stammcafé, ein jeder an seinem unverbrüchlich reservierten Tischchen, da hatte ein jeder eine Schreibunterlage und Schreibzeug und Tinte vor sich, und daneben stand ein halbgeleertes Glas boc oder Wein, und ein andächtig ergebner alter Ober hielt sich wachsam in der Nähe, ... da schrieb ein jeder andauernd, flink und graziös an einer neuen, fehllosen Erzählung, an einem glänzenden, vollkommnen Buch, schrieb die Sätze hin, Seite um Seite, schrieb mit feiner eleganter Handschrift sein Manuskript nieder, ein druckfertiges Manuskript, in dem nichts ausgestrichen, nichts eingeflickt war, hielt von Zeit zu Zeit einmal gedankenvoll inne, blickte träumerisch hinweg, fuhr sich über das lange, ein wenig wirre Haar, strich sich mit der schmalen, weißen Hand das elegante Franzosenbärtchen, und war sehr weit entfernt davon, daß ihn die Heiterkeit, der Lärm und das Geklapper des Kaffeehausbetriebs ringsum störte, ganz im Gegenteil, das erfrischte ihn, das regte ihn an, und wieder ging er daran, Seite um Seite niederzuschreiben.

Und Eugen konnte sehen, wie sie sich nachmittags trafen, Bohémiens der Unsterblichkeit und schicksalsbegünstigte Zünftlinge der Kunst, die nichts verpatzen konnten, wie sie sich in irgendeinem Café auf den Boulevards trafen oder in irgendeinem netten, stillen, alten Ausschank, den ihre Stammkundschaft sichtbar beglänzt hatte, – im Quartier Latin etwa, oder auf dem Montparnasse, oder am Boul St. Mich, oder auf dem Montmartre.

Er sah die ganze Szene mit wahrbildhafter Grelle und so genau bis ins kleinste, als wäre er selber dabeigewesen und hätte mit eignen Augen gesehen, mit eignen Ohren gehört. Er konnte das geistvolle, gewandte Hin und Her ihrer Gespräche vernehmen, – Unterhaltungen, die selbstverständlich graziös waren, makellos und voller Lebensleichte, – konnte sehen, wie sie aufstanden, um berühmte Freunde zu begrüßen, – wer sie auch sein mochten, Feuillet, Capus, Donnay oder wie sie alle hießen – wie sie sich schnell und fest zum Gruße die Hand drückten, so anmutig, so weitläufig und so französisch, – konnte hören, wie sie sprachen:

»Ah, mon cher Maurice, comment ça va? Aber ich sehe, daß ich Dich störe. Pardon, mon ami. Ich sehe, daß Du mit einer neuen, admirablen Erzählung beschäftigt bist. Ah, mon vieux, nicht um alles in der Welt möchte ich Dich unterbrechen, wenn Dein so bewundernswertes Genie sich ergießt! Parbleu! Mich verlangt nicht danach, daß mein Name vor aller Nachwelt verrufen und verrucht sei! Ah, le diable, non! Des Grabes finsterste Vergessenheit wär besser! Eh bien, mon cher Maurice, auf morgen denn ... dann hoffe ich ...«

»Ah, mais non, mais non, mais non, mais non, mais non! Mon cher Octave, bitte bleib! Die paar Seiten da ... pouf, ce n'est rien! Ich bin gleich fertig! Attend!« Schnell schreibt er noch ein oder zwei Zeilen hin, dann kommt es triumphierend: »Voilà, c'est fini, vieux coq! Eine Bagatelle, die ich fertigmachen mußte für diesen Schurken von meinem Verleger, der sie morgen haben möchte ... Aber nun sag mir mal, mein Lieber, was zum Teufel Dich so lang in der Provinz festgehalten hat, so lange fern von diesem lieben Paris? Ah, wie Du uns gefehlt hast, mon cher, Paris ist einfach wirklich nicht dieselbe Stadt, wenn Deine Anmut fehlt. Tiens! Tiens! Der arme Courteline ist ja ganz inconsolable gewesen! Capus schwor täglich abzureisen, um Dich zurückzuholen! Tinayre brummte wie ein Bär. Mein Lieber, wir haben alle um Dich geklagt! De Régnier war sicher, daß Du Dir eine neue Maitresse zugelegt hättest! Boylesve bestand drauf, sie wäre mindestens eine Herzogin. Bazin sagte, ein Milchmädchen ...«

»Und Du, was hast Du gesagt, mon vieux?«

»Moi! Mon cher ami ... ich wußte, daß es entweder Windpocken oder Masern wären. Oder glaubst Du, ich glaubte, Du müßtest auch nur einen Fuß aus Paris setzen, um Dir ein Mädchen zu finden?«

»Nun aber sag' mir, Octave, wie geht's den Freunden? Ich bin ganz ausgehungert nach Neuigkeiten. Ich habe nichts gelesen. D'abord – René?«

»Hat ein neues, admirables Werk 'rausgebracht – eine ausgezeichnete Studie aus dem Leben in der Provinz.«

»Ah, bon. Et Duvernois?«

»Sein letztes Lustspiel wurde uraufgeführt. Un succès fou. Ganz charmantes Ding, witzig, ein bißchen ungezogen, ganz in seiner besten Ader.«

»Renard?«

»Eine Komödie, ein Novellenband, ein Roman. Alle ausgezeichnet, alle gut aufgenommen.«

»Et Courteline?«

»Une chose incomparable, mon vieux. Ein Band Dialoge in seiner drolligsten Manier, das Publikum wälzt sich vor Lachen; die Polizei tobt vor haushoher Wut über ›Le Gendarme est sans pitié‹ ...«

»Und Abel?«

»Un livre formidable, mon ami. Genau, was man von ihm erwartet. Eine starke Tragödie, exakte Psychologie, brillant, sag' ich Dir ... Aber, ah, da kommt er ja, lächelt übers ganze Gesicht. Ah–h! Hab' ich mir's nicht gedacht! Eben sieht er Dich ... Mon cher Abel, willkommen; sieh an, der verlorne Sohn ist wieder zu Hause ...« – –

Ja, so also ward das getan, ohne Geistesnöte, ohne Irrungen, ohne seelische Raserei.

Und weit, weit weg von all dieser selbstsicheren Anmut, diesem eingebornen Formsinn, dieser natürlichen Ausdruckssicherheit, – da lag Amerika mit all dem stummen Hunger seiner hundert Millionen Zungen, mit seiner ungefundenen Form, seiner ungeborenen Kunst. Weit, weit weg von diesem zaubrischen legendären Paris – da lag Amerika mit der brutalen Betäubung seiner tausendmal tausend Straßen, seinem unruhigen Herzen, seiner weiträumigen Unsicherheit und der ungeheuren, wahllos hingeworfenen Verschwommenheit seines Lebens – mit seinen formlosen und unbegrenzbaren Entfernungen.

Großer Gott! Großer Gott! Und dieses Amerika war weiter weg und seltsamer als ein Traum – und Eugen merkte wohl, wie dieses Amerika war, bemerkte die Grausamkeit, die Rohheit, das Gräßliche, die Lebensvergeudung, das Verlorensein, die mörderische Kriminalität, die heuchlerische Tugendmaske, die Lügen, die abscheuliche Falschheit – und Eugen wußte auch, daß dort jede Zunge, die davon spricht, zum Verstummen gebracht wird – und – Großer Gott! Großer Gott! – mit jedem Puls und jeder Faser seines Lebens, mit jedem Schlag seines bedrängten Herzens, mit dem ungeheuren, krankhaften Weh einer unerträglichen Heimatlosigkeit sehnte er sich einzig und allein danach, zurückzukehren!

 

Tag um Tag, Stund um Stunde, Minute um Minute riß der blinde Hunger an ihm, riß an ihm, wie ein Geier mit dem Schnabel an bloßgelegten Eingeweiden reißt. Eugen strich auf den Straßen von Paris umher wie ein wahnsinniges Tier, er warf sich in die proteische Verworrenheit dieses millionenfüßigen Lebens, wie ein Soldat sich ins Schlachtgetümmel wirft; er war bestürzt, krank vor Verzweiflung, ausgewrungen, bebend, entleert, schließlich erschöpft, war der Gefangene jenes unersättlichen Verlangens, jenes furchtbaren, schlingenden Heißhungers, der ständig mit der Speise wuchs und ihn, Eugen, blindlings in die Raserei trieb. Das Aussichtslose und Unergiebige des faustischen Lebenskampfs war ihm nie so offenbar geworden wie nun, – die Vergeblichkeit seiner irrsinnigen Bemühungen, sich jeden Bau- und Pflasterstein von Paris für die Erinnerung anzueignen, mit brennendem Blick durch Wände und Mauern stracks ins Leben und ins Herz von Millionen Leuten zu blicken, alle Bücher zu lesen, von allen Speisen zu kosten, von allen Weinen zu zechen, das ganze Riesenpanorama des Universums mit dem Gedächtnis zu umfassen, irgendwie »einen kleinen Globus aus all seinem Wesen« zu machen, die angehäuften Erfahrungen der Ewigkeit ins winzige Prisma des eignen Fleischs, ins kleine Gehaus des eignen Hirns zu bannen, und irgendwie das alles dann zu verwenden zu einem endgültigen, vollkommenen, alles einschließenden Werk, – dem Zweck seines Lebens, dem letzten Schlag und der letzten Not seines Herzens, seiner Seele Begehr.

Dieser drangsälige und schmerzliche Kampf brachte es mit sich, daß Eugen nun anfing, mit einem kleinen Taschennotizbuch herumzugehn, in das er mit einem abgenutzten, angekauten Bleistiftstummel Einträge machte. Und weil alles in das irre Gemisch dieser Notizen aufgenommen wurde, weil in all diesen hingekritzelten Sätzen und zusammenhanglosen Einzelworten und dazu in Tausenden von ungelenken, schnellhingestrichenen Zeichnungen, die Eugen machte, um so die Beschaffenheit einer Mauer, die Anlage einer Tür, die Form eines Tischs, sogar die Säbelnarben auf einem Männergesicht für sich zu bewahren ..., weil in diesen Splittern und Hülsen aus der Werkstatt eines gequälten, unbehaglichen Hirns das furchtbare Fieber des gefolterten Geistes sichtbar wird, deswegen geben die flüchtig niedergekritzelten und hingekratzten Aufzeichnungen das denkbar beste Bild von Eugens Leben, dem Leben eines jungen Mannes in jener Zeitspanne, dem Leben eines modernen Menschen in der faustischen Schlangenverstrickung des modernen Lebens.

Hier folge nun, aufs Geratewohl herausgegriffen aus dem Gärbottich, aus zehntausend Seiten und einer Million Worten, ganz so hingesetzt, wie es niedergeschrieben wurde, nämlich in Bruchstücken, Schnellfassungen, Blitzsplittern, ohne Ordnung und Zusammengehörigkeit, – folge in all seiner Eitelkeit, seinem Glauben, seiner Verzweiflung, seiner Freude, seiner Not, mit all seiner Falschheit, seinem Irren, seiner Vorgeblichkeit und in all seiner desperaten Aufrichtigkeit, seinem unglaublichen Hoffen, seinem wahnwitzigen Begehren dieses Konterfei von eines Menschen Herz und Seele, dieses Merkbild seiner wütigen Gier, – folge es, heiß und augenblicklich aufgenommen, gleichsam noch flammend herausgerissen aus der Schmiedesse seiner Seelenqual.

Montag, 27. Nov. 1924. Bis jetzt, 9 Uhr 40, fünf Stunden geschafft. Zigaretten und Kaffee. Sehr müd.

 

Dienstag. Gestern vier Stunden geschafft. Sehr müd. Heut nur eine Stunde. Heut abend mehr.

 

Mittwoch. Tüchtig geschafft letzte Woche. Vier bis fünf Stunden tatsächliche Arbeit täglich. Vielleicht erreich' ich's schließlich, weil mich das, was ich hinbring, nicht befriedigt.

Ich bin 1900 geboren und nun 24. Die Spitzenleistung des Schrifttums englischer Sprache aus dieser Zeitspanne ist meines Erachtens der Ulysses von James Joyce. Für die beste Ballade halte ich Lepanto von G. K. Chesterton. Den besten getragnen Erzählvers schrieb John Masefield, besonders in The Dauber, The River und The Widow in The Bye Street. Der beste von den Vielschreibern: Arnold Bennett. Der beste Essayist: Hilaire Belloc. Der gigantischste, gründlichste Realist: Theodore Dreiser. Sparsamste Auswahl und unfehlbarste Kompetenz bei Galsworthy. Das dichterischste Schauspiel: The Playboy of the Western World von John Synge. Der beste Tagesschreiber: Sinclair Lewis.

Der Kritiker mit der größten Subtilität: T. S. Eliot. Der Kritiker mit der größten Reichweite und der größten Kraft: H. L. Mencken. Die beste von den schreibenden Frauen: May Sinclair. Die nächstbeste: Virginia Woolf. Die nächstbeste: Willa Cather.

 

Mittwoch, 26. Nov. 1924, nachts. Aß mitternachts im Chez Marianne. – Seit 14 Tagen der erste Tag, an dem ich nichts geschafft habe. Um ½1 aufgestanden, fühlte mich nicht wohl nach gestern nacht. Ging zur Bank, fand keine Post vor, schrieb und schickte Briefe ab an Mama und die Universität. Kam auf der Bank mit einem jungen Mann in ein Gespräch über die Schweiz. Aß zu mittag in der Taverne Royale. Nahm Taxi zu der Place des Vosges. Ging ins Victor-Hugo-Museum. Spazierte um den Platz rum. Dann zum Musée Carnavalet, dann ins National-Archiv. Die engen Gassen, die schmalen Bürgersteige, die großen Busse, die Taxis, Autos, Fahrräder, Lastwagen, die katzenhaften Menschen mit ihrem Geplapper und Geschrei, das alles war mir gräßlich. Guckte mir bei einem Buchhändler ganze Drangsalstonnen von Büchern an, kaufte zwei, ging sehr bedrückt weiter. Nahm Taxi in der Rue du Temple, fuhr heim durch die Fahrverkehrsmarmelade in der Rue de Rivoli. Vorm Warenhaus Samaritaine Stände mit billigen Kurzwaren; Frauen dort, die das Geweb mit der Hand prüften. Badete im Hotel, ging aus. Zwei Apéritifs im Deux Magots; dann Apollo Revue. Nicht so schlecht wie manche. Ein oder zwei gute Songs. Aber im ganzen freilich recht dumm.

 

Donnerstag, 27. Nov. 1924. Um ein Uhr, nachdem ich allerdings nachts bis um fünf gearbeitet habe. Diniere bei Drouant. Sehr reiches, rotausgeschlagenes Restaurant, voll von Geschäftsleuten, die daherreden von Les Anglais, Les Américains et cinq cent mille francs. Hatte eine kalte consommé, ein rumpsteak grille avec des pommes soufflées, ein fond d'artichaut mornay (eine Käse- und Sahnetunke auf Artischockenböden, – köstlich), einen Kaffee und eine halbe Flasche Nuit St. Georges. Couvert: 4 fr. Totale: 44 frs.

An einem Tisch vier Franzosen. Drei davon fünfzig oder mehr. Der vierte vierzig. Einer davon: Schwarzer, kohlschwarzer Bart, sauber gestutzt, Wangen ausrasiert. Ein andrer: stattlicher, vornehmer Mann, grauer, geschniegelter, dichter Vollbart. Hochrote Gesichtshaut. Graue Augen, rotdurchschossen. Weiße, nervöse Hände. Trommelt ständig mit den Fingerspitzen, während das Gesicht lächelt. Höfliche Sprechweise. Der dritte: rotes, knorriges, satanisches Gesicht, feurig von schwerem Essen und schweren Weinen. Glattrasiert. Der jüngste: ein ruhig lächelnder, fleischiger Typus. Hochrot, schwerrot im Gesicht. Ein satanisches, aber doch nicht unangenehmes Gesicht. Gestutzter brauner Schnurrbart. Dichtes, hochschopfig zurückgekämmtes, bräunliches Haar.

Später: – Sitze vor dem Café, das dem Magazin du Louvre und dem Palais Royale gegenüberliegt. Hörte ein hohes, gleichmäßiges Monoton, das das Ohr kitzelte wie ein Dynamo. Mußte an Lokomotiven im Eisenbahnschuppen in Altamont denken, an das hohe, leise, ohrenkitzelnde Geräusch, das sie machen, wenn der Dampf (vielleicht) abgesperrt ist.

 

Dienstag, 2. Dez. 1924.

FABRIZIERTE LITERATUR-ANEKDOTEN

Manierierte Stimme eines jungen Harvard-Johnny: »Oh, einfach unbezahlbar! Ist das nicht li-i-ieblich?! Wundervoll!« usw., als er erzählte, was Oscar zu Whistler sagte, und was James dem Wilde antwortete.

Menschen von einer gewissen Mentalität sammeln dieses fade, fahle, wurzellose, gekünstelte, hoffnungslose, verlorne Zeug. Aber auch Joel Pierce erzählte solche Anekdoten weiter. Als ich dergleichen zum erstenmal hörte – in Harvard –, hielt ich die Erzähler für ungemein geschliffne Raconteurs. Gott! wie grün ich damals war! »Du wirst, Oscar, Du wirst!« und die übrigen Mätzchen. Heut, vor der Taverne Royale auf der Terrasse, machte ich selber vier. Da sind sie. –

Eines Tags, als Whistler vor einem Schaufenster in der St. James Street stand und ein paar Drucke von der Battersea Bridge betrachtete, kam Oscar aus der entgegengesetzten Richtung auf ihn zu und sprach ihn an. »Du wirst, James, Du wirst!« sagte Wilde mit großherziger Impulsivität.

»Gad!« bemerkte der unnachahmliche James, während er unerschütterlich sein Einglas zurechtrückte. »Ich wollte, ich hätte das gesagt!«

Eines Junitags speiste Anatole France in Rodins Atelier zu Mittag. Nachdem man sich über archäische griechische Bildwerke unterhalten hatte, bemerkte Rodin:

»Manche Schriftsteller haben viel zu sagen, aber einen schauderhaften Stil. Sie jedoch, cher maître, schreiben einen köstlichen Stil.«

»Und Sie, Meister«, erkundigte France sich ironisch und erlaubte seinen Augen, sich auf dem Torso ›Der Denker‹ auszuruhn, »seit wann sind Sie denn Kritiker geworden?«

Im schallenden Gelächter, das auf diese treffsichere Bemerkung hin losbrach, mußte sich Rodin als ein einziges Mal geschlagen erkennen. –

Ein junger Schauspieler, der – sei's gestanden – mehr Ehrgeiz als Talent besaß, rannte eines Tags während einer Hamlet-Probe erregt zu Sir Henry Irving:

»Mir scheint, Sir«, platzte er ohne Einleitung heraus, »daß manche Schauspieler ihre Rollen ruinieren, indem sie sie überspielen.«

»Und manche«, bemerkte Sir Henry nach einer bedrohlichen Pause, »tun es nicht.« –

Sir James Barry entdeckte eines Tags Bernard Shaw im Athenaeum. Shaw saß beim Mittagessen und starrte ein wenig trostlos auf das würzlose Gemüsegericht, das seinen Teller zierte.

»Ich höre, daß Sie an einem neuen Stück arbeiten«, bemerkte Barry und warf einen lustig-launischen Blick auf das Gemüsegericht.

Und G B S hatte dieses eine Mal keine Erwiderung bereit.

Warum sollten's diese Anekdötchen nicht tun? –

Vorlage für einen jungen Amerikaner, der Buchbesprechungen für die New York Times in der klassisch-schlichten göttergleichen Manier des Anatole France schreibt:

»Das neue Buch von Mr. Henry Spriggins, das vor mir auf dem Schreibtisch liegt, erfüllt mich mit banger Befürchtung. Der Verfasser ist jung und kann Schlichtes nicht leiden. Er ist zwar sehr talentiert, aber stolz, und sein Herz ist nicht schlicht. Wie schade!« (usw.)

 

Mittwoch, 3. Dez. 1924. Abends in der Comédie Française. Les Plaideurs und Phèdre. Mein Respekt für die Dichtung wuchs, während der für die Schauspieler dauernd abnahm. Die Franzosen applaudierten laut, als Madame Weber eine lange Deklamation mit einem schrillen Gekreisch abschloß.

Später – in der Régence und zu Harry's. – Erstand heut ein paar Bücher. Traf im Hotel Mrs. Martin, die mir erzählte, wie sie bestohlen ward. – Die Bildergalerien der Kunsthändler und die Antiquitätenladen in der Rue des Saints Pères.

 

Samstag, 6. Dez.

Der junge Ikarus liegt ertrunken, Gott weiß wo.

Oxford-Man hinter einer Frau her. Eine der trübseligsten Schaustellungen, zu der einen Gott zulassen kann.

Nachmittags bei Buol.

Törichte Frage: Warum behaupten die Tories so hitzig, die Demokratie habe versagt?

Haar wie eine Kupferwolke. Feder und Flamme sind wiedergekommen.

Klebrige Pflaumen von Bienenstacheln gehöhlt.

Der vergiftete Zoll rings ums Herz. Der krebsartige Zoll. Der brennende Zoll Zunge.

Das haarige Gras. Die langen Meereslocken. Die mähnigen Meere.

Das andere Tor aus Elfenbein.

Ida – Kadmus – stumpfes Getrommel hölzern mit stumpfen Fingern. Sir Leoline, der Baron ist und reich. Der donnerpuffende Zeus. Erasmus, von faulen Eiern ernährt, welch ein Geruch aus dem Hals! Hat eine engelhafte, örtliche Bewegtheit oder den »gänsedaunigen Schnee«.

Federschnee. Steppdeckendaunenschnee.

Sommersprossige Augen.

Die wilde Ceres wogt durch den Weizen.

Der Tänzer langsamen Tanz.

Möwen wie Hoffnung meerwärts schweifend. September voll von Abschiedslaub und -schwingen.

Er saß allein viertausend Meilen weit von Zuhause. Der Meere einsames Sterben im Frühlicht.

Die anständigen, reinen Augen, die den verspritzten Tod sehn. Ich selbst, von alten Schlachten träumend. Ein Kind denkt, so ein Speer geht glatt durch. Die klingenden Hörner rufen, und die Schlacht bricht herein mit Gepresch. – Phantasie vom blutigen Tod: die gespaltne Hirnpfanne. –

Die eine verlorne Sekunde, nah genug, um ans Sein der Brudersekunde zu rühren und doch unendlich fern.

Die windverwehten Lichter der Stadt.

Ein Zweig Sterne.

Ein Huhn und ein Schwein.

Gesäusel – Gekräusel.

Kot – Vogelfedern.

Das weithin verraunte Stammeln der Nacht.

Am Rain – die Gänse watscheln auf den Jahrmarkt.

Im feinsten Sirren surren Fliegen sich zu Tod.

»Old England wird sich durchwursteln, Jungs!«

Gewurstelt hat es, unten ›durch‹ ist es auch, es ist noch nicht durch mit dem Wursteln.

Möwenschrei und Möwe sind fort.

Schatten und Falk sind fort.

Schatten und Falk sind fort.

Schatten und Falk sind –

 

Freitag, 12. Dez. 1924, nachts. Die Brüder Fratellini. Wie ich ihn sah, den jüngeren Bruder, in seiner reichen Robe. Er wartete auf den Akt. Das Warten ist 'rum. Der burleske musikalische Akt. Sie waren groß, traurig, episch. Was Clowns sein sollten.

 

Salle Rubens mit all dem Schlachtfleisch. Alle Welt steht dort 'rum. Doof.

Mona häßlich Lisa.

Die Jungfrau mit der Hl. Anna. Großes Bild.

Guido Reni. Die zuckerheiligen Angesichter.

Die Italiener. Veronese. Hochzeit zu Kana. Die riesigen dreistöckigen Leinwände. Zurberan, Goya. Und der Grey. Bildnis eines Kavaliers zu Pferde. Nicolas Maes. Rembrandt: Bildnis seines Bruders.

Sam's dann. Der Mann aus San Francisco mit dem lauten, dunklen, versoffnen und verhurten Gesicht. Baßstimme: »Wir hatten Schinken-und-Eier zum Lunch, Ann. Drüben über der Straße bei Ciro's.« Die beiden Barkeepers in Harry's heißen ›Chip‹ und ›Bob‹. Namen für Pferde und Hunde.

 

Velasquez im Louvre.

 

Vetzel's wieder um 12½. Apéritif (X 365). An der Kolonnade des Opernhauses, die ich nie zuvor betrachtet habe, sitzen die Dinge so – (Hier folgt eine Zeichnung.)

Faust in der Opéra nicht vergessen.

Die Promenoirs. Die Riesenbühne. Klick-Klack der Füße zur Musik.

Erwachte diesen Morgen wie ans Kreuz geschlagen vor Furcht und Nervosität. Wie, wenn sie nicht geschrieben hätten? Was, was, was dann?

Agonie, als ich hinkam. Mein Mißtrauen vor Paris in Notfällen. Stadt der leichten Treulosigkeiten. Die Sonne scheint (für mich) hier nie länger als zwei Tage hintereinander. Ging auf die American Expreß Company. Harry's Bar. Diese Männer in Vetzel's beim Essen.

Die Franzosen sind nicht schlimm, sondern Kinder. Greise, zu weise und zu gütig, um zu hassen. Aber französisch, französisch, französisch und argwöhnisch.

Wie schön die Fratellini sind! Wie fein ein französischer Zirkus ist! Ihr ungeheures Interesse an Kindern. Dieser Akt mit den zahmen Löwen. Bei weitem der beste und feinste Dompteurakt, den ich je sah. Mir taten die Löwen leid. Da hat Savoir recht.

 

Montag, 15. Dez. 1924. Lerne neuerlich, mich ein wenig beherrschen, denn Millionen Bücher belästigen mich nicht mehr so sehr. Ging nach dem Louvre heut an der Seine entlang. Das meiste an den Bücherständen ist alter, wertloser Plunder. Muß anfangen, meine Zäune zu setzen. Kann schließlich nicht die Welt oder diese Stadt im Reisegepäck mitschleifen.

Was ich mir in Paris sofort ansehen muß: – Père Lachaise. Ebenfalls mal nachsehen, was in dem alten Viertel hinter der Place des Vosges los ist. Morgen als erstes dorthingehn. Und noch mal ins Cluny-Museum. Und die Rue de la Seine 'rauf und 'runter. Auch die Isle St. Louis.

Bücher die ich möchte: Julien Benda. Das neue von Soupault (?) Charles Derennes. L'Education Sexuelle. Eine von den Vatel-Schriften lesen.

Zum Ansehn und aufs Geratewohl – Bibl. Nationale: – Le Petit Livre – Mon Livre Favori – Livre Epatant. In den Hof vom Palais Nationale gehn, dort investigieren – –

Heut im Louvre. Mantegna: das Gemälde: der Hl. Sebastian. Giotto: großes Bild: Der Hl. Franz empfängt die Stigmata. – Die Bilder von Napoleon aus den Kriegen. Das eine, – von dem Haus der Aussätzigen in Jaffa. Gut. Der große, nackte Aussätzige kniet. Verteilung des Körpergewichts.

Bücher, die ich möchte: – an den Bücherständen am Seineufer nachsehen wegen Büchern über Paris vor zwanzig oder dreißig Jahren; mit unzüchtigen Bildern.

 

Dienstag, 16. Dez. 1924. Wieder an der Seine lang. Sah Tausende von Büchern. Kaufte eins. Eine Kritik über Julien Benda. Meilen und Meilen von Büchern, und auch meilen- und meilenweit dasselbe.

Die Bilder: Kavaliere, die hübsche Damen verführen. Eins von einer halbnackten Frau, die ein Kissen umarmt, heißt Le Rêve. Figuren aus alten franz. Lustspielen. Und dann die tausend Bände: La Chimie, La Physique, La Géologie, L'Algèbre, Le Géometrie. – –

Briefsammlungen. Morceaux Choisis du XVIII Siècle. Lauter Verfasser, von denen ich nie gehört habe. Aber zu Haus ist das genauso.

 

Mittwoch, 17. Dez. 1924. Kaufte Bücher heute. Buchhändler in der Rue St. Honoré. Stock's.

Kaufte Benda dort. Dann am Ufer lang. Tonnen von Plunder. L'Univers. Das Wunder Frankreich. Vier Monate in den Vereinigten Staaten usw. usw. Ausgaben: Cicéron, Ovide, Sénèque usw.

Kaufte die Konfessionen von Alfred Musset. Der Stand am Pont Neuf mit Schweinebüchern. Journal d'une Masseuse. Sadie Blackeyes. Lovers of the Whip. The Pleasures of Married Life. The Galleries of The Palais Royale. Wo die Buchläden sind. Ganze Serien herausgegeben von Guillaume Apollinaire.

Bilder, Drucke, Münzen. Daumier-ähnliche Lithographie von einem Mann, der sich einen Zahn reißen läßt. Dann diese halbschweinischen Bilder von Damen mit Silberflügeln. Silhouettenartig. Dann die, die beinah wie 18. Jhdt. sind.

Alte Bücher. Von denen scheint es Millionen zu geben. Essais de L'Abbé Chose sur la Morale usw.

Die faustische Hölle wieder!

 

A la Régence, Semaine de Noël 1924:

Die Leute, die da sagen, ›Lies nichts, außer dem Besten‹, sind nicht, wie manche meinen, Snobs. Sie sind Narren. Die Schlacht des Geists geht nicht darum, das Beste zu lesen und zu kennen, sondern darum, das Beste zu finden. Dieses Fahnden, das mir so viel Schererei und Beschwer bereitet hat, kam aus meinem tiefeingewurzelten Mißtrauen vor aller kultivierten Autorität. Mich hungert nach Schätzen, die – so bilde ich mir ein – in einer Million vergessener Bücher vergraben liegen, und doch sagt mir meine Vernunft, daß diese Schatzgräberei nicht der Mühe wert ist.

Und doch: beinah alles, was in der Welt der Bücher am tiefsten an mein Wesen gerührt hat, ist mir von Seiten der Autorität zugestoßen. Ich habe der Autorität nicht immer darin beigepflichtet, daß alle von ihr als groß bezeichneten Bücher auch wirklich groß sind, aber beinah alle Bücher, die mich groß dünkten, sind solche, die die Autorität zu den großen zählt.

Auf meiner Suche habe ich keinen obskuren Schreiber entdeckt, der so ein großer Romanschriftsteller wie Dostojewski wäre, noch auch einen obskuren Poeten ausfindig gemacht, der einen Genius wie Samuel Taylor Coleridge gehabt hätte.

Aber da habe ich gerade Coleridge erwähnt. Wenn auch bei seiner Erwähnung – glaube ich – kein Protest erhoben werden würde, so mag sein Name vielleicht doch überraschend klingen. Warum nicht Shelley, oder Spenser, oder Milton? – Nun, gerade an diesem Punkt beginnt mein Streitfall mit der Autorität, der ich alles verdanke.

In der Welt meines geistigen Erkennens gibt es gewisse Gestalten, die – obschon groß auch in der Welt der Autorität, dennoch überschattet sind und mancherorts sogar als ungeheure Halbgespenster erscheinen, die in dem verwölkten Grenzbezirk zwischen Obskurität und lebendigem Bewahrtwerden schwanken.

So eine Gestalt ist Samuel Taylor Coleridge. Für mich ist er nicht bloß einer der großen englischen Dichter. Er ist DER Dichter. Für mich ist es so, daß er es nicht nötig hat, seinen Kratzfuß vorm Throne irgendeines andern Monarchen zu machen. Er steht da neben Shakespeare, Milton, Spenser.

 

A la Régence. Mir fällt die Hure mit den verfaulten Zähnen ein, mit der ich gestern nacht auf der Rue Lafayette sprach.

Mein Dreck ist nicht so dreckig wie Dein Dreck.

Wenn ich ein Loch im Socken hab', so ist das putzig.

Wenn Du ein Loch im Strumpf hast, dann fliegt die Lieb zum Fenster 'naus. Warum wir nun so sind?

Langeweile ist die Bettgenossin der romanischen Völker. Die Engländer, trotz der Redensart »gelangweilter Engländer« sind gar nicht gelangweilt.

Die Deutschen ereifern sich laut für alles, von dem ihnen gesagt wird, sie sollten sich dafür interessieren.

Die Amerikaner interessieren sich für alles und jedes eine Woche lang, außer der Sensation: dafür interessieren sie sich die ganze Zeit.

Hab' so viel von »lächelnden Lateinern«, »heiteren Lateinern« usw. gehört, aber wenig Anzeichen für diese »lateinische Heiterkeit« beobachten können. Die neo-lateinischen Völker sind düster und leidenschaftlich. Das (unerregte) Italienergesicht ist beinahe mürrisch.

In New York sind die Möglichkeit, was zu lernen, die Gelegenheiten, sich eine Kultur zu erwerben, wie sie sich nicht von Ruinen herleitet, größer als sonstwo in der Welt.

Das kommt daher, daß Amerika jung und reich ist und verhältnismäßig wenig schlechten Plunder herumliegen hat.

Die Überlieferung, die in Europa das Gute und Große bewahrt, rettet auch das Armselige vorm Untergang, und so muß man meilenweit durch Trödelkram waten, bis man auf etwas Gutes stößt.

Bücher gibt's haufenweis in New York. Sie sind einem leicht zugängig. Musik und Theater dort sind die besten der Welt.

Der große Kummer aber ist der: – man kommt sich in New York so unbehaglich vor, wenn man diese Dinge genießt. Tagsüber sollte der Mann Geld verdienen. Abends, eh man in die Falle geht, dann ist die rechte Zeit zum Lesen. Abends ist auch die Zeit, sich Musik anzuhören oder ins Theater zu gehn. Und die rechte Zeit, sich ein Bild anzugucken, ist am Sonntag.

 

Ein anderer Fehler kommt von unserm Mangel an Unabhängigkeit. Ich bin sicher, ein paar von den kunstverständigsten Leuten in der Welt sitzen in Amerika. Ich kann Monats- oder Wochenschriften wie The Dial oder The Nation und The New Republic nicht lesen, ohne daß mir angst wird. Da schrieb einer ein Buch, das heißt ›Studies in Ten Literatures‹, und das freilich ist albern. Wir wollen in zehn Literaturen studienhalber Bescheid wissen, weil wir nicht genug Zutrauen zu unsrer eignen haben.

Seit dreihundert Jahren leben Niggers in unsern Staaten. Und so haben wir denn über diese Schwarzen weiter nichts wie Minstrel-Shows und Coon-Stories geschrieben, bis vor zwei oder drei Jahren die Franzosen an unsrer Statt entdeckten, wie interessant unsre Niggers sind. Wir haben gewartet, bis Paul Morand und Soupault und jener Mann, der ›Batouala‹ schrieb, sahen, was los war. Und dann legten wir uns ins Zeug und schrieben Geschichten von Harlem usw.

Anstatt zu flennen, daß wir keine Tradition haben, oder uns drüber zu zanken, ob wir nun ständig in Fühlung mit Europa und seinen Modell-Lieferanten bleiben sollten oder nicht, sollten wir uns hinsetzen und ein paar von den Geschichten über Amerika schreiben, die nie geschrieben worden sind.

Ein Buch wie ›Main Street‹, das so viel von sich reden machte, ist freilich wie Main Street. Es ist wie die »Ich-kenne-ganz-Europa«-Touristen, die in jedem Land zwei Tage in einem Rundfahrt-Autobus zugebracht haben.

Selbst in einer Monatsrundschau wie dem ›American Mercury‹ hauen die Kurzgeschichten zu sehr in dieselbe Kerbe. Sie handeln fast alle davon, wie der »Diakonus die Methodistenpredigersgattin verlötete« oder wie die »Kleinstadtprostituierte ins Gefängnis kam, weil sie sonntags zur Kirche ging und sich unter die Ehrbaren mischte«.

Wenn die Leute über ›Babbitt‹ sagen, das wär nicht die ganze Geschichte, dann pflichtest Du ihnen bei. Wenn sie dann anfangen, vom »andern Gesichtspunkt« zu reden, dann verlierst Du die Hoffnung. Mit dem andern Gesichtspunkt meinen sie nämlich den, von dem aus Dr. Crane und Booth Tarkington die Sache betrachten.

Dieser Mildlings- und Schönfärber-Gesichtspunkt ist weit davon entfernt, DER andre Gesichtspunkt zu sein; es gibt nämlich eine Million andrer Gesichtspunkte. Und Babbitt ist so weit davon entfernt zu kraß zu sein, daß die Geschichten, die über Amerika geschrieben werden könnten, den Babbitt geradezu zu einem Buch für unschuldige Kinderchen machen würden, einem Buch, das bei den Schulfeiern an Weihnachten zusammen mit dem ›Christmas Carol‹ und ›Excelsior‹ vorgelesen werden dürfte. Der Mann, der den Abwechslungsreichtum und die Seltsamkeit des Daseins in dem besagten äußeren Lebensrahmen am deutlichsten vorbringt, ist Sherwood Anderson. Oder: er war es. Er ist, deucht mich, seit er, ›Winesburg, Ohio‹ schrieb, ein bißchen zu sehr zum Grillenfänger geworden.

 

Man stelle sich einen französischen Schriftsteller vor, der da sagen würde, im Leben der Franzosen gäbe es keine wirkliche Vielfalt, weil sie alle zum Essen Rotwein trinken, schwatzend an kleinen Kaffeehaustischen sitzen und sich Maitressen halten. Man würde diesen Mann einen Narren nennen. Ein Amerikaner jedoch findet das Leben in seinem Lande ›standardisiert‹ und belegt diesen kritischen Befund mit Gründen, die keineswegs schlagkräftiger sind, also zum Beispiel damit, daß die Mehrzahl seiner Landsleute der methodistischen oder der baptistischen Sekte, der republikanischen oder der demokratischen Partei, dem Rotary- oder dem Kiwani-Klub angehören.

Babbitt ist ein sehr interessantes Buch. Ich würde es aber für möglich halten, daß ein deutscher Schriftsteller von ähnlicher Begabung wie Sinclair Lewis ein Buch schriebe mit dem Titel Schmidt oder Bauer, das ein ebenso hinreißendes Lebensbildnis enthielte.

Wenn Sie wissen wollen, wie jener Biedermann aussieht, nun, – er ist viel leichter zu beschreiben als Babbitt.

 

Dienstag, 23. Dez. 1924. Das Rätsel ist gelöst! Heute in der American Library erhielt ich Bescheid:

»Zeit – jene Dimension der Welt, von der wir mit den Ausdrücken Vorher und Nachher reden. Der zeitliche Ablauf durchdringt Geist und Stoff gleichermaßen.«

Zeit die Form des einwärtigen Sinnes, Raum die Form des auswärtigen Sinnes.

Relativitätstheorie. Die Zeiteinheiten der Zeit sowohl wie des Raums sind weder Punkte noch Momente, sie sind vielmehr Momente in der Geschichte eines Punkts.

William James. Innerhalb einer endlich begrenzten Beraumtheit der Dauer, die als die Oberflächengegenwart bezeichnet wird, besteht eine unmittelbare Wahrnehmung der zeitlichen Beziehungen.

Nachdem ein Ereignis die Oberflächengegenwart durchlaufen hat, kann es nur kraft des nachschöpferischen Gedächtnisses wieder ins Bewußtsein treten.

James sagt auch: »Das Objekt des Gedächtnisses ist lediglich ein für vergangen gehaltenes Objekt, dem die Gemütsbewegtheit des Glaubens anhängt.«

Das Zeiterlebnis vollzieht sich in drei qualitativ verschiedenen Beraumtheiten, nämlich: erinnerte Vergangenheit, wahrgenommene Oberflächengegenwart und vorweggenommene Zukunft. Mittels dieser Dreiteilung sind wir imstande, unser gegenwärtiges Selbst in den Zeitstrom unsrer eigenen Erlebnisse einzuschalten.

Indem wir die Zeitordnungen der Vergangenheit mit den Zeitordnungen der Zukunft ins Gerück bringen, können wir die Zeitordnung unsrer Oberflächengegenwart und deren Inhalte aufbauen.

So hat denn die Zeit ihre Wurzeln im Erlebnis, und doch erscheint sie als eine Dimension, in der Erlebnisse und Erlebnisinhalte ins Gerück gebracht werden.

So hat das Zeug, aus dem Zeit gemacht ist, die Natur erlebter Gegebenheiten.

Die Paradoxe des Zeno: Achilles kann nie das Beinahe-Hier einholen, es sei denn, er könnte eine Unendlichkeit von Standorten innehaben.

Ein fliegender Pfeil kann nicht bleiben, wo er ist, noch auch sein, wo er nicht ist.

Diese Dinge beziehen sich nicht auf Zeit und Raum, sondern auf die Eigenschaften unendlicher Zusammenfügungen und dichter Reihen. (Americana.)

 

Weber's um Mitternacht. In einer Gruppe stehn die Kellner in ihren schwarzen Fräcken mit den weißen, steifen Vorhemden.

Und die großen Spiegel ringsum spiegeln die Gruppe wider. Im Augenblick war das ein fremdes Bild. Ich dachte an ZEIT.

Diese grauenhafte Eintönigkeit der Franzosen. Weber's um Mitternacht. Ein paar Franzosen im Abendanzug. Die schweren Lider. Die baumelnden Beine. Das ausgezuckelte Aussehen.

Dann kommen ein paar ›Parisiennes‹ 'rein. Gottogott! Alle Formen und Größen, und alle sind sich so gleich. Taugen zu sonst nichts auf der Welt, und taugen auch nicht zu dem, wofür sie angeblich gut sind. Das Gewebe der emaillierten, angemalten Gesichtshaut, die scharfen, geizigen Nasen, der Schick ihrer Jacken, ihrer Haartracht, ihrer Augenbrauen usw.

Die große Mythe, daß die Romanen romantisch wären. Die Romanen haben Eigenschaften und Standards, denen wir – weil wir sie nicht besitzen – einen zu großen Wert beimessen.

Es gibt mehrere Städte in der Welt, wo das Leben eine größere Vielfalt erreicht, mehr Tiefgang hat und Interessanteres bietet als in Paris. (Da wären zu nennen: New York, London, Wien, München.) Trotzdem gründen sehr viele Amerikaner sich ein Heim in Paris, weil sie sicher sind, Paris wäre – seinem Ruf nach – das intellektuelle und kulturelle Zentrum der Welt.

In Frankreich bringt es ein Schriftsteller leichter zu Ansehen als in anderen Ländern. In Frankreich werden viele Schriftsteller für hochanständig gehalten, die man in andern Ländern glatt auslachen würde. Ein Beispiel bietet Henri Bordeaux. Viele Amerikaner, die französische Literatur studieren, halten ihn für einen vorzüglichen Schriftsteller. Er hat so ein guten Ruf, der Name klingt so zuverlässig und gediegen, und unter dem Namen steht auf dem Buchdeckel gedruckt, daß der Verfasser der Académie Française angehört. In Amerika wäre es kaum möglich, einen Intellektuellen zu finden, der ein gutes Wort für Harold Bell Wright sagte. Harold Bell Wright aber ist – wie armselig er auch immer sein mag – ein besserer Schriftsteller als Henri Bordeaux. Wer's nicht glaubt, möge die beiden lesen. Amerikaner sind hierin sehr unfair.

 

Wie das Leben so abläuft. Um sechs Uhr zehn in der Früh gehn die Straßenlampen in Paris aus. Ich sitze in einem kleinen Nachtcafé auf dem Grand Boulevard gegenüber der Rue Faubourg de Montmartre und beobachte, wie das Licht am Himmel hinterm Montmartre zunimmt. Zunächst ein breiter Streif Blaugrau, darüber ein Streif Violett. Klar und deutlich sind die beiden Streifen voneinander getrennt. Die Lastautos der Zeitungsverlage (Hachette, Le Petit Parisien usw.) fahren vorüber.

Auf dem Bartisch das Scheppern der bleiernen, durchlöcherten Münzen. Fünf-, Zehn- und Fünfundzwanzig-Centimes-Stücke. Taxifahrer trinken café rhum. Debattieren laut mit heiseren Sanguinikerstimmen. An der Bar eine Hure, blondes Altertum aller Nächte, eine Strichgängerin aus dem Quartier. Sie trinkt dicke, heiße Schokolade, und krustige croissants krachen dazu. Veteranin, die einmillionmal geliebt hat, die einem wohlbekannt ist, auf die man wohlwollend heruntersieht. Sie ist heiser von Unzucht und Weisheit. Die Lustseuche ist an Dir, Marianne, Du hast Monsieur le Président très triste gemacht; das Mittelbein der Fremdenlegion wird Deinethalben in der Schlinge getragen!

Ein schwarzäugiger Kerl, ölig und amourös, leckt süß mit seiner Schleckzunge das mit Rouge gefirnißte Gesicht seiner Hure; mit ersticktem, heimlichem Lachen und mit küssigem, schleckrigem Gered geilt er sich an; sie erwidert seine Schmeichelei mit dunklem, keuchendem Gewisper, plötzlich quietscht sie schrill auf mit ihrem kreischenden Hurenlachen.

Morgengeräusche. Müll- und Ascheneimer rasseln auf dem Asphalt. Mit großem Klingelklangel und hohlem Klipperklapper fährt ein Pariser Milchwagen vorüber. Plötzlich das Quieken von Automobilbremsen; überall ringsum nun das stöhnende Gequiek von Bremsen und das Surren angekurbelter Motoren.

 

Drüben über der Straße, im mattgraublauem Licht, wird der Zeitungsstand aufgemacht.

»Est-ce que vous avez Le New York Herald?«

»Non, monsieur. Ce n'est pas encore arrivé.«

»Et Le Chicago Tribune?«

»Ça pas plus, monsieur. C'est aussi en retard ce matin.«

»Merci. Alors: Le Matin.«

»Bien, monsieur.«

Bleierne Sous gehn von einer Hand in eine andre. Der Geruch von frischbedrucktem Zeitungspapier, überall auf der Welt ist er dem Morgen hold. Ein großes Lastauto von Hachette kommt um die Kurve. Stoppt scharf. Das flache, schwere Aufplatschen eines frisch mit Kordel verschnürten, noch von Druckerschwärze warmen Zeitungspackens. Ein heisrer Zuruf. Mit Radau fährt der Wagen weiter.

Ça aussi, monsieur. Sing ye bi-i-irds, sing! Erheb Dein Herz, o Menschenskind!

Süß ist der Atem des Morgens, süß ist der Aufgang des Lichts mit den Zauberlauten der Frühvögel.

Dinge gibt's, die werden sich nie ändern, Dinge gibt's, die werden immer dieselben sein. Bruder, wir können nicht sterben, wir müssen errettet werden, wir sind Geeinte am Herzen der Nacht und des Morgens.

Eine gute Zeit ist das nun knapp vorm Tagwerden und vorm Morgen. Übersättigt mit unfruchtbaren Reichtümern, den Ernten schaler, gekaufter Liebe, dem Ausgebrannten-Kerzenstummel-End der Nacht, dem blassen, kranken Schein von rotem Licht hinter geschloss'nen Läden, der benommenen, trübseligen Lust. Welche also, welche?

Die Huren bei Tagesanbruch, der tote Glanz ihres elektrischen Lächelns.

Müd, müd, müd.

 

Dienstag. Die Frau, die heut abend im Concert Mayol sang. Sie war beinah fünfzig. Ausgezeichnetes Gebiß. So gut, daß mir unbehaglich wurde. Wie kamen solche Zähne in so einen Mund? Wie also? Sie pflegen sie so. Das erhält sie. Stell mir das so vor, daß sie ihre ganze Zeit dranhängen, um nach ihren Zähnen zu schauen. An dieser Sache ist irgendwas faul.

Auf den Boulevards. 3 h. 20 du matin. Las den Sourire wegen Bordellanzeigen. Möchte mir einen Ballon de Champagne finden. Das zunächst Wichtigste: préservatif. Grade rechts um die Ecke der Rue Faubourg de Montmartre in der Nachtapotheke.

Nachmittags an den Bücherständen am Uferstaden. Der Krempel machte mir angst. Kaufte mir etwa ein Dutzend Bücher. Aber keine Stiche oder Drucke. Zahllose altmodische Drucke, Bilder von Versailles, vom Palais Royale, aus der Revolution, sentimentales und billiges Zeug, auch gewürzte Sachen, »La Courtisane Passionée« usw. Postkutschenbilder usw. Die Werke von Eugène Scribe. Die kleinen dünnen Bücher sind stoßweise zusammengebunden, so kann man nicht reingucken. Nichts drin. Vie à la Campagne. Zahllose billige Flugschriften und Bücher. Ah, aber ich hab' ein bißchen von alle dem! – Straßburg.

 

Weihnachtswoche. Kolmar im Elsaß. Auf der Stelle aufgeschrieben.

Der Isenheimer Altar des Matthias Grünewald im Museum. Kloster Unterlinden in Kolmar.

Dem kommt nichts auf der Welt gleich. Ich hab' doch mehr als vier Monate gebraucht, um herzukommen, aber es ist noch toller, als man sich's vorstellt.

Der Altar steht nicht geschlossen, sondern dreiteilig nebeneinander im offnen Raum aufgebaut. Großer Saal mit geripptem Deckengebälk, wie ein Saal in einem Dominikanerkloster.

Die ersten beiden Altarflügel. Alles verzogen und außer Perspektive. Die Heilandsgestalt doppelt so groß wie die andern Gestalten. Der Zeigefinger des Hl. Antonius ist viel zu groß für die Gestalt, aber alles an der Gestalt deutet in einer einzigen Bewegung, die über Achsel und Ellenbogen verläuft und im Zeigefinger endigt.

Das Lamm auf seinen graden, flinken Füßen. Das zarte rechte Vorderbein fein aufs Kreuz gelegt. Das rote Blut springt aus dem unerschütterlichen Herzen in einen Kelch aus prangendem Gold. Ein Meisterstück von sinnbildhafter Gemütsbewegtheit, wie es einen weit jenseits der Vernunft packt.

Unbeschreiblich der Leib des Gekreuzigten und dessen Agonie. Hände und Füße sind vergrößert, um der Agonie einen vollen, gegenständigen Ausdruck zu geben. Die Hände sind Sehnenstränge der Agonie, die Füße – bis auf die gekrümmten, gebrochenen, blutenden Zehen – sind keine Füße mehr, sondern verzerrte Sehnenstränge, durch die ein Eisenbolzen getrieben worden ist. Auf die ungeheure, verzerrte Leibeslänge fällt ein übernatürliches Licht, grauweißgrün, und doch ist es ein vollkommen gediegenes Licht. Man kann die Rippen zählen und die Muskeln. Der Kopf fällt nach rechts. Voll von brutaler Agonie. Gekrönt von langen Dornen. Blutrünstig. Der Kopf neigt sich, ist zu groß und schwer, der Heiland ist tot.

Die große aufrechte Frauengestalt in Weiß bricht nach rückwärts zusammen und fällt in die rotgewandeten Arme des mitleidigen Heiligen. Die Finger der Magdalena in beredtem Flehen gekrümmt.

Die Schwärze der Höllennacht dahinter. Das unirdische grünliche, übernatürliche Licht auf den Gestalten, – auf dem toten, flechsigen, verrenkten, angenagelten, riesigen Christuskörper und auf dem lebendigen Fleisch der anderen Gestalten.

Das listige Gesicht der Jungfrau in dem Flügel von der Verkündigung. Die Augen schräg unter den herabgezognen Lidern mit einem schlauen, schiefen Blick. Der dicke, entspannte, sinnliche Mund, halb offen, so daß man die Zunge sieht. Ein listig unzüchtiger Ausdruck auf dem ganzen Gesicht.

Eine ungeheure dämonische Intelligenz illuminiert die jubilierenden Engel in dem Teilbild von der Verklärung der Maria. Ein unheimliches goldnes Licht auf den Gesichtern, eine fast unheilige Fröhlichkeit. Man kann wahnsinnige himmlische Musik hören. Bei den Italienern ist das nicht so; da wird so etwas zu Sirup und Zucker.

Das ist das größte und außerdem das »modernste« Bild, das ich je gesehn habe.

 

Weihnachtswoche 1924. Rückfahrt von Straßburg nach Paris. Die Anfahrt durchs Marnetal. Winter. Ein ungemein herrlicher Regenbogen. Der Zug schaukelt und macht Klacketiklack.

Die Vorstädte von Paris. Dunkel. Die kleinen Vorstadtzüge, – die Wagen sind zweistöckig, – rattern vorbei, voll mit Menschen. Die trübseligen Umgelände der großen Städte. Endlose Wiederholung, eintönige Endlosigkeit. Man wird traurig, wenn man in erleuchteten Zügen oder Untergrundbahnen Leute an sich vorbeifahren sieht. Warum?

 

Paris. Es gibt nichts in Paris, das ich nicht kenne. Das klingt freilich wie eine alberne Prahlerei, aber es ist wahr. Ich sitze auf der Terrasse der Taverne Royale in der Rue Royale, es ist kalt, es ist Winter, aber es ist das alte Bild – auf der einen Seite die Madeleine – auf der andern die Place de la Concorde – rechts die Champs Elysées – der Arc – der Bois – die eleganten Viertel – die Hurenhäuser in jenem Stadtteil – die Rue – der Troc – der Eiffelturm – die Champs de Mars – das Montparnasseviertel – das Quartier Latin – die Bücherläden – die Cafés – die Ecole – das Institute – der St. Mich – die Isle – Notre Dame – die alten Häuser – die Rue de Rivoli – Tour St. Jacques – das Carnavalet – das Victor-Hugo-Museum – die Place des Vosges – die Bastille – Gare de Lyon – De L'Est – Du Nord – der Montmartre – die Butte – die Cafés – Häuser – die Rue Lepic – die Porte Clignancourt – La Vilette – der Parc Monceau – der Bois –. Großer Kreis, endloses Universum des Lebens, ungeheure Legende der dunklen Zeit.

Ungekühlt doch von Wassern schlüpften die hageren Tage in die Grotten der Zeit.

 

Paris, Samstag nacht. Hatte einen gräßlichen Tag. Schlief letzte Nacht einen elenden, unruhigen Schlaf, die schlimmste Sorte Schlaf des Amerikaners in Europa. War zuvor bei Mrs. Morton gewesen. Ich war krank wegen meines Verlusts, – des Verlusts von einem Bild und ein paar Briefen, die mir Helene schickte, – und beim Aufstehn war mir übel, und ich zitterte. Ging zur Abiga Bar, in die American Expreß Company, zu Wepler's auf dem Montmartre. Überall, ich wußte es ja im voraus, antwortete man mir mit gemeinem, servilem, hohnverschnittnem Bedauern, es täte einem leid, leid, leid.

Der Tag war von der gräßlichsten europäischen Sorte. Etwas, das über jeden Begriff hinausgeht. Diese schwere, feuchte Luft, die einem die Seele ertötet, einem wie ein unverdaulicher Bleiklumpen auf dem Sonnengeflecht liegt, einem das Fleisch schwer und schlaff macht, bis man sich schließlich bleiern durch die dicke feuchte, dampfende Luft schleppt mit einer Grauensangst, einer hoffnungslosen Erregtheit, so daß man nur noch mit weiterer Kummerpost, neuen Schreckensnachrichten, mit Versagen, Demütigung und Qual rechnen kann. Dabei schleicht einem eine Mattigkeit in die Züge und Falten des Hirns, die einen auf ein besseres, arbeitsameres Morgen hoffen macht, aber auch diese Hoffnung ist des Glaubens und der Überzeugung bar.

Das Graue, Bedrückende der nassen Häuser, diese schauderhafte, nervöse Kleinlichkeit der Franzosen, das Geschwärm, das Gehupe, das Getute in den engen Straßen und auf den zwei Fuß breiten Bürgersteigen, wo die schweren Busse wie Käfer an einem vorbeisausen ...

Ein Kapitel »Paris« oder »So, Sie gehn nach ›Paris‹?« (Vielleicht ein Stück drin, das sich in einer Zeitschrift veröffentlichen läßt.)

Die Angst, die man ständig vor den Straßenecken hat, – man denkt, man träte ins Freie und dort wartete etwas auf einen, das einen anrammen wird; die großen, knirschenden Autobusse, die irritierenden Hupen usw.

 

Ein Kapitel mit dem Titel: »Die Arithmetik der Seele«.

 

Die Musik ward tiefer. Wie eine Leidenschaft.

All unsre Herzen sind von Dir erfüllt, all unsre Seelen werden warm von Dir, all unser Wesen gibt seinen letzten Atemzug hin für Dich, und in fremder Fühlung pocht unser Blut durch die Pulse für Dich, unsterbliches und endloses Leben.

 

Sonntag. – Um 12 Uhr mittags aufgestanden, gebadet usw. Mittag gegessen bei Casenave. Ging in den Louvre zu den Delacroix-Bildern. Etwas zu Üppiges, zu Blutiges dran. Die Franzosen, scheint es, malen Blut gern. (Delacroix.) Dann an der Seine lang bei den Bücherständen. Fand nur Plunder. Dann zu Lipp's auf Bier und Cervelas. Dann zurück ins Hotel, wo ich von 7 bis ½11 arbeitete. Dann ausgegangen, in der Taverne Royale zu Nacht gegessen. Dann heimgegangen über die Place Vendôme und die Rue St. Honoré. Las ein wenig und arbeitete dann von 1 bis 3. Im ganzen 6 Stunden heut.

 

Sonntag nacht. Bin heut abend wieder bedrückt, wieder so mutlos vor der Masse der Dinge. Ich muß etwas Entscheidendes tun. Diese neuen Straßenfluchten hinter dem Café du Dome haben mich schwer verstimmt.

Man wird gemütskrank, wenn man sich mit so einem Problem wie dem meinen herumschlägt, weil man ständig wieder in seine eignen Tapfen tritt und immer um denselben Zylinder tastend herumläuft, eine Bewegung, der man scheinbar nicht entraten kann. Ich habe das Gefühl, daß es gegenwärtig keine Ausflucht für mich gibt.

Die Europäer haben – das gehört zu ihrem Wesen – das Sichbescheiden gelernt, will sagen – die Gleichgültigkeit. – Jedermann schreibt hier sein eignes Buch, ohne sich drum zu scheren, was ein anderer geschrieben hat; er liest wenig, und selbst wenn er viel liest, dann ist's bloß ein Löffel voll aus dem Ozean des Gedruckten, der alles überschwemmt. Man stelle sich Anatole France vor, der im Geruch stand, beinah alles zu wissen, stelle sich vor, wie er an den Bücherständen an der Seine hie und da stehnbleibt und sich mit feinem Finger ein Buch herauszieht. Dort vorbeizugehn erfüllt mich mit Grauen und Verdruß – – es geht mir da, wie es Paul Valéry geht – aber mir fehlt die Kraft zu widerstehen. Ich muß dort vorbeigehn, und selbst wenn ich es wieder und wieder tue, ich kann nicht von den Ständen wegbleiben.

 

Mehr und mehr bin ich davon überzeugt, daß ein großer Schriftsteller irgend etwas von einem Esel an sich haben muß. Ich las von Tolstoi, daß er keine Zeitungen las, daß er davonging und einmal volle sieben Jahre unter Bauern lebte, und daß er einmal in sechs Jahren kein Buch, außer den Romanen von Dumas, in die Hand nahm. Trotzdem aber konnte so ein Mann große Bücher schreiben. Ich glaube beinah, es ist deswegen, daß er es konnte.

 

Bernard Shaw, einer unsrer zeitgenössischen Propheten, wird bis zur Übervergötzung verehrt von vielen Leuten, die dafürhalten, daß er alles, oder wenigstens sozusagen alles, weiß.

Soweit ich imstand war, es bei der Lektüre seiner Schriften zu entdecken, kann ich mit Sicherheit behaupten, daß er gelesen hat: – Shakespeare, nicht sehr gründlich, – Ibsen, sehr gründlich, – ein Buch von Karl Marx, das ihm einen tiefen Eindruck machte, – die Traktate der Fabian Society und die Schriften von Mr. und Mrs. Sidney Webb.

 

Immer gibt es den Augenblick, wenn wir zu schreiben anfangen müssen. Immer gibt es die hundert- und tausendfachen Dinge, gegen die wir anzukämpfen haben, gibt es das Aufstehn, das Auf- und Abgehn im Zimmer, das Sich-Hinsetzen, die mühselige, ungleichmäßige Leistung. Während der Zeit, in der wir tatsächlich schaffen, was kann uns dann helfen außer uns selbst? Können wir dann die Inhalte von 20 000 Büchern uns zu Gebote halten? Können wir uns dann überhaupt auf irgend etwas verlassen außer auf uns selbst?

 

A la Régence:

Wie gewisse triviale Worte und Phrasen das Hirn heimsuchen, einfach nicht vergessen werden können, selbst nach Jahren wiederkommen. Heute hörte ich alte Stimmen, alte Lieder, vergessene, flüchtige Worte, die vor zwanzig Jahren gesprochen wurden. Meiner Mutter Stimme, meines Vaters Stimme, die Stimmen von Boardinghousegästen, die im Sommer auf den Veranden saßen. Am deutlichsten hörte ich die Stimme von Dinwood Bland, ganz wie damals, als er im hübschen Hintergarten eines Hauses in Norfolk, einen Whisky in der Hand, dasaß, – mit blinden Augen blind auf die sprühenden, blinkenden Wasser der Hampton Roads, blind auf ein weißes vorüberfahrendes Schiff starrte und – das schmale, greisenhafte, schlimme, merkwürdig anziehende Gesicht plötzlich vor Bitterkeit, Widerwillen und Lebensverdruß verziehend – sagte:

»Mein Vater war ein Bummelant mit Bildung.«

Und seitdem, unausgesetzt, hallt und echot mir dieser Satz die ganze Zeit im Bewußtsein, so daß ich sonst überhaupt nichts hören kann. Und nun sitze ich hier und komme mir vor wie Coleridge, als ihm der Rhyme for Youth and Age einfiel. (Am 10. Sept. 1823. Er sagt, die Sprechmelodie war ihm wie eine Brummhummel dia engkefalou – geradewegs über den Hirndurchmesser hin – gesaust usw.)

Genauso ist's mir den ganzen Nachmittag gegangen. Und aus Dinwood Blands mich heimsuchender Redensart ist nun geworden:

»Mein Vater war ein Bummelant mit Bildung,
Die Mutter soff, vielleicht tat sie's aus Gram,
Meine Schwester war leiblich zwar lieblich weiblich
Jedoch ein Aas, Cornelia war ihr Nam.
Heinz ging zur See und Peter ging zur Bühne,
Und unsre kleine Schwester Ann fiel glatt
Mal auf das Näschen, mal auf das Gesäßchen,
Denn, ach, so geht's, wenn Papa Bildung hat« ... usw.

Obskur, lächerlich, aber – mit alten Worten, einstgehörten Phrasen und vergessenen Redensarten hat es etwas auf sich – warum fallen sie uns wieder ein, um uns im Wissentlichen heimzusuchen?

 

A la Régence. Über Zitate.

Im 19. Jahrhundert pflegten »gute« Schriftsteller ihre Aufsätze mit einer netten Zitätchenauswahl zu zieren. Die Gepflogenheit hat sich bis auf den heutigen Tag erhalten; – man braucht ja bloß die Essays und Leitartikel anzugucken, die in Zeitschriften wie dem Atlantic Monthly, dem Spectator, in Harpers, im Century, im London Mercury usw. stehen; – sie scheint gewissermaßen zur korrekten Schriftstellerei zu gehören. Im allgemeinen ist die Zitiererei eine lästerliche Angewohnheit; oft zitieren wir nicht einmal in anständiger Absicht, nämlich um uns bei Größeren, Stärkeren eine Ausdruckskraft und -klarheit zu borgen, die wir selber nicht besitzen; wir tun es vielmehr, um mit unsrer »Kultur« aufzuwarten, einer Kultur, die in der Fähigkeit besteht, ein paar Sächelchen von Lamb, Dickens, Keats, Browning, Samuel Johnson und Matthew Arnold anzuführen. Die Verrenkungen, zu denen das führt, sind unberechenbar; der ursprüngliche Ausdruckswille wird abgebogen, und das Schreiben wird zu einer pseudo-höflichen Vorstellungszeremonie in Gesellschaft, bei der man sich anschickt, mit einem artigen Bückling vor Charles Lamb zu landen, um von dort mit einer liebenswürdigen Schnörkelphrase über Charles Dickens an Lord Tennyson weitergereicht zu werden. Die Redewendung: »Passendes Zitat« ist eine alberne Erfindung; wenigstens trifft das in den meisten Fällen zu, denn Zitate sind ja gewöhnlich gar nicht »passend« oder »zutreffend«, sondern weit entfernt davon: sie werden an den Haaren herbeigezogen, dienen als Lückenbüßer, stiften Verwirrung, werden eingestreut. Ihre Treffsicherheit, ihr Zur-Sache-Passen erinnert einen an den politischen Redner, der, nachdem er zwanzig Minuten über die nikaraguanische Frage gesprochen hat, schnell ein Witzchen reißt und sagt: »Das erinnert mich an eine Geschichte, die mir neulich erzählt wurde. Da waren, scheint es, zwei Iren namens Patrick und Michael ... usw.« und dann, nachdem sich die lieben Zuhörer ein wenig von ihrem Lachen erholt haben, fortfährt und nun über das staatliche Alkoholverbot spricht.

 

Europa und Amerika liegen noch zu weit auseinander. Der sogenannte »unaufhörliche« Tag ist zu lang, sechs Tage Dampferfahrt sind zu lang, als daß man einen Eindruck haben könnte, der intensiv genug wäre, um zu vergleichen und wesentliche Unterschiede zu beobachten.

Folglich: Wir müssen sie näher zusammenbringen, so nah wie die Franzosen und Engländer, so nah wie Calais und Dover, denn Dinge, die im Leben den wirklichen Ausschlag geben, können nicht so leicht vergleichshalber aufgerufen werden. Ich habe hier nun ein halbes Jahr lang gelebt, tief, heftig, eindringlich und im großen ganzen unglücklich gelebt. Viele Leute meinen, es käme darauf an, daß man hier gelebt habe. Ich glaube nicht, daß es darauf ankommt. Aber die Dinge können nicht so leicht aufgerufen werden.

Ich wundre und befrag' mich ihretwegen in einer weiten Ungewißheit. Ich lieb' sie; mit einem Gefühl der Fremdheit und der Verwunderung denk' ich dran, sie wiederzusehn, aber ich kann mir unmöglich vorstellen, wie das dann sein wird. Genauso wenig, wie ich mir das Geschehne vorstellen kann. Warum können wir uns die Gesichter derer, die wir lieben, nicht vorstellen? Das nämlich ist wahr: ihre Gesichter zerfließen zu tausend Schatten und Formen und Gesichtswahrbildern im Augenblick, in dem wir sie in unserm Gedächtnis zu fixieren versuchen. Es ist immer ein Fremdlingsgesicht, dessen wir uns dort erinnern. Warum?

 

Nie haben Vielfalt und Vielheit der Dinge mir so viel Schmerzen gemacht wie im letzten halben Jahr. Aber nie auch war ich so fest überzeugt, daß wir unser Dasein auf ein paar Dinge gründen können, daß wir diese Dinge finden müssen und unsre Zäune setzen.

Alles Schöpferische ist ein Zäunesetzen.

Aber studieren, immer gründlicher eindringen; schärfere Sinne, tieferes Leben; die Neugier darf nie aufhören!

All das trägt später Frucht. Ich muß denken; ich muß all das mit mir selber und mit Amerika vermischen. Ich habe viel davon zu Papier gebracht. Aber der unendlich größere Teil geht mir im Blut und im Kopf herum.

 

Shaw wird zum Narren, wenn er über Napoleon schreibt, den er haßt und lächerlich machen möchte. An seinem Cäsar aber wird Shaw zum Helden. Shaws Cäsar ist die beste Cäsargestaltung, die ich kenne, und übertrifft den Cäsar Shakespeares. So sieht Cäsar aus (der im Museum in Neapel), und ich bin sicher, Cäsar war so.

Aber es ist ein Irrtum, anzunehmen, daß Napoleon sein Haar in die Suppe hängen ließ.

 

Klagelied: – Warum sind wir so unglücklich? – Ich hab's nicht nötig, diesem Mann den Ruhm zu neiden, noch bin ich geschickt genug, mich in jenes Mannes Manier wie in einen Mantel zu hüllen. Ich bin nun nackt wie die Sorge, – und alles, was ich frag', ist: warum sind wir so unglücklich?

Warum sind wir so unglücklich?

In meines Vaters Land gibt's noch Menschen mit ruhigen Augen und langsamen, lieben, gütigen Gesichtern.


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