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XVII

In diesen Jahren des Hungers, der Wut und der Unrast, in denen er versuchte, alle Bücher zu lesen, alle Leute zu kennen, die Erde zu essen und zu trinken und mit dem Blick die gediegenen Hausmauern zu durchdringen, um ins heimliche Menschendasein zu blicken, so lange, bis er sich den Gehalt alles Lebens angeeignet hätte, – in diesen Jahren lebte Eugen oftmals tagelang, sogar wochenlang, in einer wilden und irrsinnigen Sammlung und Spannung des Wesens, daß ihm die Zeit über seinem besessenen Trachten unglaublich verging.

Er lag in wüsten Widerstreiten, brannte vom grellsten Kraftaufwand, rang Tag für Tag mit den herkulischen Mächten der millionenfüßigen Stadt, lauschte auf Millionen Worte, spähte in hunderttausend Gesichter, und bei all dem war er so grenzenlos allein, daß er manchmal mehrere Tage lang kein bekanntes Gesicht sah und keine bekannte Stimme hörte; und dann kam es vor, daß ihm die eigne Stimme fremd und gespenstisch klang.

Plötzlich schien er aus der furchtbaren Schau zu erwachen, aus einem visionären Sein, in dem ihm die geschaute Wirklichkeit traumhaft und die Welt buchstäblich zur Fabelwelt geworden war, in dem er die Zeit, die millionen-gesichtige Zeit, unglaublich wie durch ein Teleskop erlebt hatte, so daß ihm in der Tat Wochen gewesen waren wie ein einziger Tag. Er erwachte aus diesem Seinstraum, und die Minuten, Stunden und Tage und alle Handlungen und Gesichter auf Erden geschahen ihm dann wieder auf die gewöhnliche Weise. Wenn dies eintrat, verspürte er sofort ein bittres, unausstehliches Alleinsein, beißend scharf und gräßlich, das ihm wie ein krustiger Schorf aus ausgeglühtem Stahl an den Mundwinkeln zog, ihm wie der Geschmack einer ausgelaufenen elektrischen Batterie im Munde lag, ihm wie ein graues, schnödes, sich anverwandelndes Wesen in die Adern und ins Mark, in die Geweide und ins Gewebe drang.

Da dieser Zustand sich stets mit einer heftigen, unabwendbaren Not nach Menschen äußerte, ging Eugen alsdann zu seinem Onkel Bascom, diesem sonderbaren und ungemeinen Mann, der ebenfalls in der Wildnis, in den Hügeln der Heimat, geboren war, aber diese Hügel für immer verlassen hatte.

Bascom lebte nun allein mit seiner Gattin – die vier Kinder waren erwachsen und wollten in keiner Weise mit ihm zu tun haben – in einem trübseligen Viertel einer der zahllosen Vorstädte, die zu dem fürchterlichen Gangliensystem Boston gehören, – und dort pflegte ihn Eugen an Sonntagen oft zu besuchen.

Nach einer langen verwirrenden Reise mit der Untergrund- und der Hochbahn mußte er schließlich die Tram nehmen. Er saß in einem Wagen mit Leuten, die dünne, spitze, rote Nasen, zusammengepetzte Lippen und Kabeljaugesichter hatten, und stieg aus am Fuß eines Hügels und einer langen, breiten, frostigen Alleestraße mit hohen, kahlen Ulmen und winterlichen Häusern, die in ihrer Abgeschlossenheit und mit ihrem Schornsteinrauch einen gediegenen, wohlig und mollig durchwärmten Eindruck machten. Rechts drunten in der Senke lag eine große, graue, grimme Eisfläche, eine von den Inlandbaien, die an der Küste Neu-Englands häufig sind, – riesige Wasserlachen, die im Frühling frisch und spritzig und glorreich und saphiren leuchten, im Winter aber zu Blindspiegeln trübster und ödester Trostlosigkeit verspröden.

Die Schiebetür wurde zugeknallt, die Tram fuhr weiter, bog ab, und Eugen spürte dann, wie ihn jenes Gefühl der Vereinsamung, des Abgetrenntseins beschlich, das einen immer ein wenig berührt, wenn man einen Wagen davonfahren und entschwinden sieht. Er wandte sich schnell ab und folgte einer trübseligen Verkehrsspur, halb Straße, halb Weg, die in den Distrikt führte, wo seines Onkels Haus lag. Er schritt rüstig aus, kämpfte tapfer an gegen die graue, frostige Ödnis.

Wenn er dann schließlich vor seines Onkels Haus stand und den Türklöppel geschlagen hatte, freute er sich immer, das näher kommende Fußgetrappel zu hören. Es war seine Tante Louise, die ihm nun die Tür aufmachte; das helle Aufglänzen ihres Vogelgesichtchens beglückte ihn, und er frohlockte innerlich, wenn sie, seine Voraussage wahrnehmend, in ihrer hohen, sehr damenhaften Stimme zu sagen pflegte: »O-h! Dah bist Du jah! Hab mich schon gewund aht, wo Du steckst!«

Und sofort ertönte dann die heisere, hohe, fremdferne Stimme eines Predigers vom Berge: »Hallo! Eugen! Bist Du's?«, und Bascom der Alte erschien, aus der Küche oder dem Keller kommend, fluchend, murmelnd, Türen zuschlagend und Begrüßungen heulend. Er trug die verschossene, ausgefranste Strickjacke, war bis ans Kinn zugeknöpft, sah verkrümmt, gebeugt und frostig aus, hatte die Hände auf den Magen gekrallt: – »Hallo! Hallo! Hallo! Setz Dich! Setz Dich! Setz Dich!« rief er, dem Neffen die hagere Rechte entgegenstreckend, und schnitt, ohne nennbaren Grund, die Lippen zusammenpressend und die Augen schließend, sofort eine fürchterliche Fratze, wozu er in kurzen, harten Fauchstößen durch die Nase sein erfreutes: »Puh! Puh! Puh! Puh!« lachte.

Bascom, ein Mann von mächtigem Verstand und mit einem verworrenen Gemütsleben, der einzige in der erstaunlichen Familie Pentland, der einen Hang zur Gelehrsamkeit hatte, war ein Sonderling. Dies hatte sich schon in der Jugend in Anzug und Gang, Sprache und Gebärde so sehr geäußert, daß er zum Gespött seiner Gesippen geworden war. Dieser Spott jedoch war stark mit Stolz durchschossen, denn Bascoms eigenartige Persönlichkeit galt als ein weiterer Beweis dafür, daß die Pentlands eine außergewöhnliche Familie wären. »Er gehört schon durchaus dazu«, sagten sie von ihm, »nur ist er noch querköpfiger als irgend sonst eines von uns.«

Seine Jugend – er war in den Jahren nach dem Bürgerkrieg herangewachsen – war von bitterster Armut versehrt worden. Ein Leben an der Erde war diese Jugend gewesen, hart, mühselig, karg und streng, ein Leben, das mit zähen Wurzeln an der Erde festhielt und heftig, grausam und üppig sich aus den Kräften der Erde aufbaute. Und da in ihm von allem Anfang an ein Haß auf alles brannte, was des Menschen unwürdig ist, weil ein leidenschaftlicher Glaube an die Höhe und Erhabenheit des Menschentums in ihm glühte, hatte er bitterer als seine Geschwister an der Pflichtvergessenheit seines Vaters gelitten, der ein Kind nach dem andern in die Welt setzte, in der es für seinen Nachwuchs nichts zu reißen und zu beißen gab.

»Als eines nach dem andern seinen unglückseligen Einzug in die Welt machte«, pflegte er später immer noch leidenschaftlich zu berichten, »ging ich in den Wald, schlug mir vor Zorn die Stirn an die Bäume und lästerte Gott in meinem Unwillen ... Ich schäme mich nicht, dies einzugestehen.« Er schürzte die Lippen, bleckte die Zähne und fuhr dann fort, in einer übertrieben genauen Aussprache zu erzählen: »Wir lebten in menschenunwürdigen Zuständen, ja, menschen-un-würdig! ...« Er sagte dies Wort im heftigsten, höchsten Predigerton. »Ich hätte beinah gesagt, wir lebten wie das Vieh ...« Plötzlich ging sein Ton von der feierlichen Empörung in den der sachlichen, anvertrauenden Mitteilung über. »Und sag' doch selbst, mein Junge, was hältst Du davon, daß ich eines Tages meinen Vater auf die Seite nehmen und ihm klarmachen mußte, daß wir in keiner Weise so lebten, wie es sich für anständige Leute ziemt?« Seine Stimme war zu einem Flüstern herabgesunken, er schnitt eine Fratze und tippte Eugen mit dem großen steifen Zeigefinger ans Knie.

Armut war die Herrin der Jugend gewesen, und Bascom Pentland hatte dies nie verwunden, Armut hatte ihm das Herz versengt. Was ihm eine hinterwäldlerische Schule zu bieten hatte, hatte er sich angeeignet; er hatte begierig gelesen, war dann Lehrer geworden und hatte drei oder vier Jahre auf dem Land gelehrt. Als er einundzwanzig war, hatte er sich Geld für die Bahnfahrt geborgt und war nach Boston gefahren, fest entschlossen, in Harvard zu studieren. Der feurig-heftige Mensch setzte seine Aufnahme durch. Dann hatte er als Werkstudent gelebt, jedermanns Hosen (außer seinen eignen) gebügelt, Nachhilfsstunden gegeben, Kellnerdienste getan. Er hatte mit zwei andern halbverhungerten Studenten eine Bude geteilt, die dreiundeinhalb Dollars die Woche kostete; dort hatten sie gekocht, gegessen, geschlafen, sich selbst und ihre Wäsche gewaschen und studiert. Vier Jahre College, dann drei Jahre Theologie-Schule. Bascoms Glanzfächer waren Griechisch, Hebräisch und Metaphysik.

Armut, besessener Fleiß und die sexuelle Kargheit seiner Umgebung hatten einen hageren Eiferer aus ihm gemacht. Mit dreißig Jahren glich er dem Bild des verrückten Yankee, wie er im Buch steht: dürr und zäh, hohlwangig, mit hervorstehenden Backenknochen, grauen dürstenden Augen und einer Flackertolle dichten, eichenholzbraunen Haares – eine komische, schwanke, sechs Fuß und drei Zoll hohe Gestalt mit wilden, selbstvergessenen Gebärden, die von der Welt begrinst wird. Aber er hatte einen herrlichen Kopf: er sah aus wie der große Emerson, nur wilder.

Um die Zeit hatte er eine junge Frau aus guter Familie geheiratet. Sie stammte aus den Südstaaten, ihre Heimat war Tennessee. In den siebziger Jahren war sie, nachdem ihre Eltern gestorben waren, nach dem Norden gekommen und hatte eine Zeitlang im Hause eines Onkels in Providence im Staate Rhode-Island gelebt. Dieser Onkel war zum Vormund und Vermögensverwalter für sie bestellt worden; ihr Vermögen belief sich mutmaßlich auf fünfundsiebzigtausend Dollars, aber ihr romantisches Gedächtnis machte später zweihunderttausend daraus. Einen Teil des Geldes hatte der Vormund vertan, den Rest hatte er einfach gestohlen, und so hatte sie denn nicht viel Gut mit in die Ehe gebracht. Aber sie war hübsch gewesen, hatte Verstand, ein helles Gemüt und eine gute Figur gehabt. Bascom hatte sich an den Wänden seiner Bude die Fingerknöchel blutig geschlagen und war niedergefallen vor Gott.–

Als er sie kennenlernte, studierte sie in Boston Musik. Sie hatte einen tiefen, volltönigen Alt; ihre Stimme bebte, wenn sie sang. Sie war ein kleines Frauchen, vogelhaft und ernst, feinknochig und zartfleischig, mit schnellen, lebhaften Bewegungen und einer spröden, herben Aussprache, in der merkwürdigerweise immer noch ihre Herkunft aus den Südstaaten unverkennbar war. Das hurtig-huschige, sehr damenhafte, sehr ernste und nicht gerade humorige Persönchen war heftig in den hageren Freier verliebt. Sie sahen einander zwei Jahre; sie gingen zusammen zu Konzerten, Vorträgen, Predigten; sie sprachen von Musik, Dichtung, Philosophie und Gott, aber von Liebe sprachen sie nie. Eines Abends saß Bascom mit ihr zusammen im Empfangszimmer ihres Boarding-Hauses an der Huntington Avenue, und da sprach er mit bebend gewichtiger Stimme die Worte, die er zu sagen hatte, und begann also: »Miß Louise! Es kommt eine Zeit, wenn ein Mann, der das Alter der Vernunft und der reifen Urteilsfähigkeit erreicht hat, eine Möglichkeit erwägt, die allerernstester Natur ist und auf eine der allerwichtigsten Einrichtungen Bezug hat. Die Einrichtung, von der ich hier spreche, ist die Ehe.« Er hielt inne, gedankenvoll über seine gefalteten Hände hinwegstarrend. Eine Uhr auf dem Kaminsims schlug die volle Stunde. Mit klingenden Hufen klapperte draußen auf der Straße ein Pferd vorüber. Louise saß ruhig da, aufrecht-würdig und in damenhafter Haltung, aber dennoch war ihr, als schlüge die Uhr in ihrer eignen Brust und könne jeden Augenblick zu schlagen aufhören.

»Für einen Diener am Worte Gottes«, fuhr Bascom fort, »ist die Entscheidung besonders ernst, denn wenn er sich einmal entschieden, einmal entschlossen hat, dann ist es unwiderruflich und unauslöschlich. Bis an den Rand des Grabes, bis an die fernsten Tore des Todes, muß er zu seinem Gelöbnis stehen, und so ergibt es sich, daß die Möglichkeit eines Irrtums in der Beurteilung für ihn ...« (seine Stimme sank zu einem ahnungsvollen Flüstern herab) »... beladen ist, ja, belastet ist mit den fürchterlichsten Konsequenzen. Dementsprechend habe ich«, fuhr er entschiedenen Tones fort, »als ich mich entschloß, diesen allerernstesten Schritt zu tun, mich erforscht und mein Herz immer wieder befragt. Ich bin auf die Berge gestiegen, ich bin in die Wüste gegangen, und ich habe mich an meinen Schöpfer gewandt« – seine Stimme hob sich in ein dämonisches Heulen –, »bis kein Schatten eines Zweifels mehr, kein Quentchen einer Ungewißheit mehr, kein Tüttelchen von Unüberzeugtheit mehr für mich bleibt. Miß Louise, ich habe erkannt, daß die in allen Stücken zu meiner Helferin am besten geeignete junge Lady, die zukünftige Teilhaberin meiner Freuden und Kümmernisse, die Vertraute meiner schönsten Hoffnungen, die Inspiration meiner edelsten Mühen, die Gefährtin meiner schwindenden Jahre, jener Geist, der mich auf des Lebens sorgenvoller und wirrer Bahn geleiten und mit mir die unerforschlichen Geschicke, die Gott mir in seiner Vorsehung bereit hält, teilen möge, – sei es Wohlstand oder Armut, sei es Trübsal oder Glück – ... Miß Louise, ich habe erkannt, daß Sie diese Lady sein müssen, und deswegen«, schloß er langsam und eindrucksvoll, »bitte ich Sie um die Ehre, mir Ihre Hand zum Ehebund zu reichen.«

Sie liebte ihn, sie hatte gehofft, sie hatte gebetet, sie hatte sich mit aller Seele danach gesehnt, daß gerade ein solcher Augenblick kommen möge. Und nun, da dieser Augenblick da war, erhob sie sich mit damenhafter Würde und sprach: »Mist ah Pentland: ich bin hochgeehrt durch dieses Zeichen Ihrer Hochachtung und Zuneigung, und ich verspreche Ihnen, daß ich unv ahzüglich und ernstesten Gewissens Ihren Antrag erwägen werde. Ich bin mir vollkommen kl ah über das Gewicht der Worte, die Sie, Mist ah Pentland, soeben an mich gerichtet haben. Meinerseits muß ich Ihnen, Mist ah Pentland, sagen, daß ich, falls ich Ihren Antrag annehme, zu Ihnen kommen werde ohne das Vermögen, das rechtens mein gewesen wäre, das mir aber von meinem schurkenhaften – ja! schurkenhaften – Vormund geraubt und gestohlen wurde. Ich werde deshalb zu Ihnen kommen ohne die Mitgift, mit der ich einst zum Wohlstand meines Gatten beizutragen hoffte.«

»Oh, meine liebe Miß Louise! Meine liebe junge Lady!« rief Bascom aus, und seine große Hand fuhr in einer beiseiteschiebenden Gebärde durch die Luft. »Denken Sie nicht, nehmen Sie auch keinen Augenblick an, ich bitte Sie darum, daß Betrachte geldlicher Natur meine Entscheidung beeinflussen könnten. Oh, nicht im geringsten!« rief er, »keinesfalls! keinesfalls!«

»Glücklicherweise«, fuhr Louise fort, »ist meine Erbschaft von jenem Schurken nicht völlig vertan worden. Ein Teil, ein sehr klein ah Teil ist mir noch verblieben.«

»Mein liebes Mädchen! Meine liebe junge Lady!« rief Bascom. »Es ist nicht von der geringsten Wichtigkeit ... Wieviel ist denn noch übrig?« fügte er dann hinzu.

So heirateten sie denn.

Bascom bekam sofort eine Kirche im Mittelwesten: gute Bezahlung und ein Pfarrhaus dazu. Aber in den nächsten zwanzig Jahren ging er von Sekte zu Sekte über und zog von Ort zu Ort: zunächst nach Brooklyn, dann wieder in den Mittelwesten, dann in die Dakotas, dann nach Jersey-City, dann ins westliche Massachusetts und schließlich in die kleinen Städte der Umgebung von Boston.

Gott lauschte, dessen konnte man versichert sein, wenn Bascom in der Kirche sprach. Er predigte großartig, sein hageres Gesicht glühte auf der Kanzel, seine hohe, ungemein bebende Stimme war heiser vor Erregung. Seine Gebete waren heftige Anrufungen Gottes, so glühend, daß es seinen Zuhörern unbehaglich wurde, so unmittelbar, daß sie dachten, es wäre beinahe Blasphemie. Unglücklicherweise wurde seine verrückte Beredsamkeit manchmal zu viel für ihn selber: seine Stimme, die dem Herzen der Leidenschaft allzeit allzunahe war, barst dann in Splitter, er fiel heftig über das Betpult, bedeckte sein Gesicht mit den großen, hageren Händen und seufzte und stöhnte entsetzlich.

In den Mittelweststaaten, wo seine erste Pfarre gewesen war, wird so etwas nicht gern gesehen; dort hat es viel eher Erfolg, wenn der Mann auf der Kanzel freudig-zermürbt weint und tapfer durch die andringenden Tränen auf die lieblich-gerührten, reumütigen Sünder herablächelt. Bascom jedoch, der zudem unbehagliche Titel für seine Predigten wählte, wurde von seinen mächtigen Empfindungen einfach überrannt, wenn er zum Beispiel über »Das Weib des Potiphar«, »Ruth, die Ährenlesende«, »Die Hure von Babylon«, »Bathseba, die Frau auf dem Dache« und ähnliche Themen sprach.

Außerdem nahm er die Gewissensfrage ungeheuer ernst. Er war nacheinander Episkopalianer, Presbyterianer, Unitarianer; er suchte in der heillosen Verwirrung der protestantischen Glaubensmöglichkeiten nach einer Doktrin, mit der er vollkommen einverstanden wäre. Zwar fand er immer eine, aber er mußte sie immer alsbald wieder aufgeben. Als er längst über vierzig und dem theologischen Standpunkt nach ein äußerst liberaler Unitarianer war, erschienen auf einmal gewisse agnostizistische Töne in seinen Predigten. Er machte Anspielungen auf seinen neuen Glauben in einer Prosa, die den machtvollen Stil Carlyles zum Vorbild hatte; in gebundener Rede geruhte er, die Art Matthew Arnolds anzunehmen. Seine berufliche Beziehung mit den Unitarianern – und somit auch mit den Baptisten, Methodisten, Adventisten und den Holy Rollers – fand einen jähen Abschluß, als er eines Sonntagsmorgens von der Kanzel herab eine Verskomposition vorlas, ein poetisches Machwerk, das den Titel »Der Agnostiker« trug und durch Ausdrucksklarheit gutmachte, was ihm an Beschwingtheit fehlte. Der Kehrreim, der trauervoll, aber mit aller Deutlichkeit Strophe um Strophe dieser Reimpredigt abschloß, ging so:

»Ich weiß nicht, es mag wohl sein.«

So endete denn die Predigerlaufbahn des Bascom Pentland, als dieser fünfzig war. Was er nun anfangen würde, darüber brauchte er sich kein Kopfzerbrechen zu machen. Er besaß die Lust am Handel mit unbeweglicher Habe, die allen Pendands gegeben ward. Er wurde »conveyancer«, d. i. Immobilienmakler. Er bildete sich juristisch und erwarb so das Recht, Besitztitel übertragen zu können. Außerdem ging er unmittelbar ins Busineß, insofern er Bauland in den Bostoner Vorstädten erwarb und dort kleine, billige, leichtverkäufliche Häuser errichtete. Diese Häuserchen – nein, er baute sie nicht eigenhändig, höchstens, daß er die Fundamente legte, die Installateurarbeit tat und einen Teil der Anstreicherarbeiten übernahm. Da er die Architektenkosten sparen wollte, wurden sie nach seinen eigenen, etwas ungewöhnlichen Plänen ausgeführt; er stand dabei jedesmal die ungeheuerlichsten Geburtswehen aus und mußte dann, wie eine Katze ihre blindgeborenen Jungen, das kümmerliche Wachstum der Bauwerke betreuen. Schließlich schlug er die Häuser los; er verkaufte sie auf langfristige, aber sehr einträgliche Ratenzahlung an Handwerker, Kleinhändler und Arbeiter, eine Kundschaft, die sich aus allen möglichen Einwandrerrassen Neu-Englands zusammensetzte, nämlich Iren, Juden, Belgiern, Italienern, Griechen. War ein Kauf getätigt, oder eine der laufenden Teilzahlungen abgetragen worden, dann ging Bascom in einem Freudenrausch nach Hause und rief mit lauter Stimme jedem zu, der es hören wollte oder hören mußte, was für verdienstvolle und tüchtige Leute diese Belgier, Schweizer, Iren, Juden oder Griechen wären: »Feinster Menschenschlag auf Erden, ganz ohne Frage!« war dann sein Lieblingsausdruck; denn wenn sie zahlten, diese schwärzlichen Kinder fremder Volkschaften, dann liebte Bascom sie. Manchmal kamen sie auch sonntags zu ihm heraus.

Sie kamen steif und wohlanständig angetan in den guten schwarzen Anzügen, in denen die Armen zum Schuldenbezahlen und zu Begräbnissen gehn ... sie kamen durch die Winterödnis, die Sonntagsödnis, die Vorstadtödnis und erreichten schließlich Bascoms kleines Haus, das in einem trübseligen Viertel lag, und zwar in einer Straße, der er großartigerweise seinen eignen Namen – Pentland Heights – gegeben hatte, obschon die nächste Erhebung, jener Hügel an der Trambahnhaltestelle, eine halbe Meile entfernt war. Die Häuserchen in dieser Straße »Pentlandshöhen« waren alle von Bascom gebaut worden; sie wirkten wie Maulwurfshaufen auf öder und flacher Heide, wie um der Wärme willen in diese harte, häßliche, steinige Erde eingebuddelt, wie hingekauert und zusammengedrängt unter der Trostlosigkeit der furchtbaren und ungeheuren Winterhimmel des frostigen Nordens.

Ehe sie anpochten, langten diese Angehörigen des jeweils feinsten Menschenschlags in ihre Tasche und packten das zusammengerollte, schmutzige Banknotenbündel, griffen sie fest nach dem Geld wie in einem dumpfen Wissen um die Tatsache, daß jeglicher Lohn unter diesen heftigen und grausamen Himmeln schmerzlich, in dauernder Mühsal und ein bißchen nach dem andern, errungen werden müsse. Wenn sie dann eintraten, erschien Bascom aus irgendeiner Kellertiefe, kam er fluchend, murmelnd, Türen zuschlagend und Begrüßungen heulend, kam er, bis ans Kinn in die ausgefranste und verschossene Strickjacke eingeknöpft, gebeugt, verkrümmt und frostig aussehend, die großen Hände in den Leib gekrallt, und empfing sie freudig. Und dann warteten diese Leute, steif und unbeholfen ihre Hüte fingernd, während Bascom unter zahllosen lippenschürzenden und augenzusammenzwickenden Grimassen mit seiner gewissenhaften Hand ihnen die sorgfältige Quittung ausstellte, diese wichtige Bestätigung, die von einem Anteil Schuld und Fron ledigsprach und somit einen Schritt weiter in die schwererworbene Freiheit des Besitztums bedeutete.

Wenn dann das Geschäftliche erledigt war, ließ sie Bascom nicht gleich wieder fortgehen. Er nötigte sie, ein Weilchen zu bleiben, bot ihnen lange Zigarren an, die arg nach Unkraut aussahen, und dann, wenn sie scheu und dumpf wie Ochsen im Joch dasaßen – nach vorn gebeugt in starrer Hocke, die harten Gesäßknochen hart auf dem Vorderrand des Stuhlsitzes –, dann heulte Bascom auf sie los mit Erkundigungen, Bemerkungen und begeistertem Preisen. –

»Aber ja, mein lieber Herr!« gellte er den Griechen Makropolos an. »Sie haben eine ruhmreiche Vergangenheit, Sie blicken auf eine Geschichte zurück, so herrlich, daß sie ein Stolz der Menschheit ist!«

»Sichärr! Sichärr!« bestätigte Makropolos mit heftigem Kopfnicken. »Särrr grauße Keschickte!«

»Die Inseln Griechenlands! Die Inseln Griechenlands!« heulte Bascom. »Wo die brennende Sappho liebte und sang ...«

»Sichärr, sichärr! Ganz recht! Do hobenn Sie ess!« sagte Makropolos, nickte gutmütig, runzelte aber doch verwundert fragend die Stirn, so daß die fingerdicken, schwarzen Brauen fast über die Augen kamen.

»O mein lieber Herr!« rief Bascom. »Mein ganzes Leben lang hab' ich mir gewünscht, diese ehrwürdigen Orte aufzusuchen, bei Sonnenaufgang auf der Akropolis zu stehn, den Rausch, der Hellas hieß, zu spüren und die großartigen Ruinen der edelsten aller alten Kulturen zu besichtigen!«

Nun aber erschien eine zornige Röte auf den gelblich-schwärzlichen Wangen des Griechen; der Patriot in ihm war gekränkt. Schwerfällig erregt und mit leidenschaftlicher Überzeugung erklärte er:

»Nein, nein, nein! Nix Ruinen! Woss glauben Sie?! O Athän ... särr feine Stadt. Eine Millionn Leide!« Er suchte nach Worten, machte Handgebärden, als wollte er die Worte aus der Luft schöpfen. »Sie wissenn ... grauß ... nett ...«, sagte er und lächelte ölig. »Alläs gut! Wir dort habenn alläs wie Sie hier. Sie wissenn ... Nicht alt! Nein, nein, nein ... Neu, wie hier ... Nett. Alles Sie kriegenn gut und billig. Graußer Platz, neuer Haus, Kichenaufzuch! Lift ... was Sie wollenn, o nett!« sagte er ernst. »Wass Sie glauben kostet dass? Finfzähn Dollarr im Monadd! Sichärr, sichärr! Kennen Sie mirr glauben ...«

»Feinster Menschenschlag auf Erden!« rief Bascom mit befriedigter und überzeugter Miene aus. »Ganz ohne Frage!« Und dann geleitete er den Besuch zur Tür, von wo er ihm unter der furchtbaren Ödnis des winterlich-wüsten Nordhimmels Abschiedswünsche nachheulte.

Louise war derweilen in der Küche gewesen. Obschon sie kein Wort von dem Gespräch vernommen und in der Tat auch auf nichts anders gelauscht hatte wie auf den Gang von Bascoms aussprachlich genauer, nachdrücklich betonter und strenggegliederter Rede, so hatte sie doch andauernd über ihn gelacht. Sie hatte sich mit Töpfen und Pfannen und den Vorbereitungen zur Mahlzeit beschäftigt, manchmal plötzlich aufmerksam nach dem Wohnzimmer hinübergehorcht und dann wieder weitergelacht, ihr belustigtes, kleines, durch die Nase geschnuffeltes Lachen, das manchmal von einem leisen »Wuh-u-huh«-Gegurr unterbrochen wurde. Der Grund für dieses Benehmen war nun freilich der, daß sie in ihrem fünfundvierzigjährigen Gemeinschaftsleben mit Bascom einem unbemerkbaren, aber gründlichen und vollkommenen Irrsinn anheimgefallen war, so daß sie tatsächlich nicht mehr wußte und auch nichts danach fragte, ob ihr Belustigtsein soeben gesprochenen Worten oder irgendwelchen Stimmen aus längst verlorner Zeit galt.

Und nun hielt sie abermals inne und horchte, das kleine Vogelgesichtchen gespannt vor Ergötzen und in irrsinniger Aufmerksamkeit, während er die Haustür zuschmiß und murmelnd ins Haus zurückstapfte, vollkommen beschäftigt mit seinem eignen, geheimnisvollen Leben und so entrückt und getrennt von ihr, als lebten sie beide auf zwei verschiedenen Planeten, obschon doch das Haus, das sie beiwohnten, recht klein war.

Dies war also die Geschichte dieses alten Mannes. Sein Leben war aus der Wildnis, aus der begrabnen Vergangenheit, aus dem verlornen Amerika hervorgekommen. Das mächtige Geheimnis einstiger Ereignisse und Augenblicke hatte ihn umweht und umwoben, das magische Licht der dunklen Zeit streifte ihn.

Wie alle Amerikaner war er ein Wandrer gewesen, ein Verbannter auf der unsterblichen Erde. Wie wir alle hatte er kein Heim. Wohin ihn die großen Räder trugen, dort war Heim.

Während der Alte sich mit seinem Neffen unterhielt, bereitete Louise das Mahl in der Küche. Sie ließ die Schwingtür zwischen der Küche und dem Wohnzimmer, das gleicherweise Eßzimmer war, offenstehn, so daß sie hineinhören konnte. Und während diese beiden auf das Essen warteten, redete Bascom zu Eugen von den vielen großen Gegenständen seines weiten Wissens, von jener Literatur, in der er einst sehr bewandert gewesen war, – über die Dichtung des Alten Testaments, über die Philosophie Hegels, über Carlyle, über Matthew Arnold, den er sehr verehrte, und manchmal auch über Tagesfragen, die er aus der Zeitung aufgriff.

Wenn Bascom sich so beredsam aussprach, saß er in einer großartigen und gehaltenen Ruhe da, das feine, hagere Gesicht ernst über dem Gipfelbogen der knorrigen Hände. Er ward zu einer Darstellung des sieghaften Menschenverstandes, er gab glänzende, wohlausgewogene Urteile ab, und alles Durcheinander und aller Wahnwitz waren von ihm gewichen: Geld spielte dann keine Rolle, er war erhaben über sein Selbst. Mittlerweile lachte Louise in der Küche ihr Schnuffellachen, das dann und wann durch ein leises Gurren unterbrachen wurde. Sie war natürlich überzeugt, ihr Gatte wäre verrückt, und seine Urteile wären sämtlich unsinnig, dabei aber gab sie nie auf die Worte acht, die er sprach, sondern hörte nur den Gang seiner aussprachlich genauen, nachdrücklich betonten und strenggegliederten Rede. Von Zeit zu Zeit erschien sie, vor sich hin lachend, in der Tür, und blickte, vor Ergötzung bebend, den Neffen mit mitleidig-belustigtem Kopfschütteln an.

»Ganz zweifellos! Ganz ohne Zweifel!« erklärte Bascom. »Die besten Bücher des Alten Testaments stehen an Rang dem Besten, was je geschrieben wurde, in nichts nach. Aber freilich hast Du insofern recht, als es in der Tat viel weniger Geisteserzeugnisse höchster und größter Art gibt, als im allgemeinen angenommen wird. Das trifft nun auch hier zu: Im Alten Testament gibt es Stellen, – nein! (verbesserte er sich aufheulend) ganze Bücher! – die einfach Plunder sind. Noah und Sem und Ham Japhet, – ach, schlimm! ›Azariah zeugte den Amariah, und Amariah zeugte den Ahitub, und Ahitub zeugte den Seraja, und Seraja zeugte‹ – puh-puh-puh – ›den Jehozadak‹. Jehozadak!« wiederholte er in genauer Hochlautung und verlieh verächtlich fauchend der letzten Silbe einen Abgleitakzent. »Kannst Du Dir vorstellen, ja, auch nur im Traum vorstellen, daß man einem Menschen so einen Namen aufbindet!? ›Und Jehozadak kam in Gefangenschaft‹ na, das sollte er wirklich, denn so ein Name ist ein Vergehen gegen das Strafgesetzbuch! Puh-puh-puh! Je hozadak! ... Aber: darüber darf man nicht vergessen, daß (er starrte über seine Hände hinweg und sprach ruhig und besonnen) diese Sprache oft wirklich gottestrunken ist: edelste Dichtung, die je im Dienst der Ewigkeit erklang.«

»Die Apokalypse Johannis!« rief da die Tante Louise, die plötzlich, ein Tranchiermesser in der Hand, aus der Küche hereingestürzt kam und offenbar auf einen Augenblick zur Erde zurückgefunden hatte. »Die Apokalypse Johannis!« wisperte sie heiser und zog einen angewiderten Mund. »Eugen! Ein schlimmes, blutiges, grausames Monument des Aberglaubens. Tribut an einen rachsüchtigen und ... mörderischen Gott!« Die letzten beiden Worte hatte sie kaum hörbar geflüstert, sie bog sich in einem stummen Gelächter, die Hand um den Messergriff gekrallt, die kleinen, hellen Augen irrsinnig funkelnd.

»O nein, meine Liebe, o nein!« sagte der Onkel Bascom mit einer erstaunlichen, an ihm ungewohnten Traurigkeit, ihr mit erlesen zärtlicher Liebenswürdigkeit erwidernd. Und schwingende Erregungsschauer in der leidenschaftlichen Stimme, erklärte er:

»Der sieghafte Gesang eines der mächtigsten Dichter auf Erden: die erlauchte Sprache eines Mannes, dem Gott die Geheimnisse von Himmel und Hölle erschloß.«

Er schwieg einen Augenblick, und dann fuhr er fort in einer fernherklingenden Stimme – in jener fernherklingenden und großartigen Stimme, die einen tief erschauern machte, wenn sie Verse sprach: »›Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende, der Erste und der Letzte‹ – – die prachtvollste Zeile, die je geschrieben ward, mein lieber Junge.« Plötzlich schlug er die hageren Hände vors Gesicht und schluchzte laut und heiser unter Tränen: »Oh! Mein Gott! Mein Gott ... Solche Schönheit in so einer erbärmlichen Welt! ...« Nach einer Weile flüsterte er: »Du mußt entschuldigen ...« Er fuhr sich mit dem Ärmel der Strickjacke über die Augen. »... Du mußt entschuldigen ... Mir sind ... Erinnerungen gekommen.«

Die Tante, die, mit Furcht und Entsetzen geschlagen, dagestanden hatte, als er in Tränen ausgebrochen war, blickte nun Eugen vielsagend an. Auf ihren Mienen malte sich der Ausdruck eines körperlichen Angewidert-, ja fast Angeekeltseins, sie schüttelte kurz den Kopf wie eine beleidigte, schockierte Lady und benahm sich ganz wie jemand, der sich durchaus in der Gewalt hat, in gesunder Zucht hält über alle unmäßigen Gemütserregungen und deshalb nur Verachtung empfindet für Leute, die sich in solcher Weise gehenlassen.

Mit übertriebner Würdigkeit zog sie sich nun in die Küche zurück und trug alsbald das Dinner auf, währenddessen sie sich noch eine ganze Zeit lang mit einer ungereimten Ruhe und Zurückhaltung gehabte, mit einer gewissen, betont rückgratsteifen, damenhaften Artigkeit. Sie kochte vorzüglich, sie wußte um den Zauber, der bei der Zubereitung von Speisen ziemt, und wenn Eugen zum Sonntagsmahl angesagt war, bestand sie stets darauf, daß Bascom ein gutes Stück Fleisch erstand, an dem sie ihre Kunst beweisen konnte.

Da gab es etwa einen duftig-saftigen Lammsbraten, oder eine gedämpfte Hammelkeule mit Johannisbeergelee, oder auch ein kleines, knusprig gebräuntes Roastbeef mit heißen, lockeren Biskuitchen, außerdem zwei oder drei Gemüse und obendrein starken Kaffee.

Bascom, völlig unerschüttert durch seinen vorherigen Gefühlsausbruch, stapfte in die Küche, und dort hörte man ihn vor sich hin murmeln und fluchen, während er seine Siebensachen zusammensuchte. Später erschien er dann mit einer Platte, auf der ein gräßliches Gemisch eigner Fechsung war, ein Gemengsel von Gehäckseltem, Geraffeltem und Geschabtem aus rohen Gemüsen, Zwiebeln, Gelben, Roten und Weißrüben und ungekochten Kartoffeln. Bascom hatte wie alle Pentlands unüberwindliche Vorstellungen und krankhafte Ab- und Zuneigungen, die die Kost betrafen; er hegte heftige Vorurteile darüber, wie Speisen zubereitet werden sollten, und besaß überdies noch ein eingewurzeltes Mißtrauen über aller Welt Küchenreinlichkeit – außer seiner eignen.

»Hier! Halte mit, mein Junge! Halte mit!« gellte er heiser, während er bei Tisch Platz nahm. Mit heftig einladender Gebärde hielt er Eugen die Platte vor.

»Danke, nein!« erklärte Eugen und sammelte Aug und Aufmerksamkeit auf die Genüsse, die auf seinem Teller aufgehäuft waren.

»Du magst das Zeug da essen, wenn's Dir Spaß macht«, begehrte Bascom geringschätzig-höhnisch auf. »Wenn ich so was äße, wär's mein Tod. Ich ginge zugrund an Dyspepsie.«

Während Onkel und Neffe schweigsam aßen, unterhielt sich die Tante selber, was sich durch gelegentliche schnüffelnde oder gurrende Lachlaute, viele mitleidsvolle Blicke, heftiges Kopfschütteln und manches belustigte Erbeben kundtat. Manchmal auch hielt sie sich die Serviette vor den Mund, als wäre sie am Herausplatzen, und zuweilen kam es mal vor, daß sie Eugen aus dem Genuß des Essens aufschreckte mit einem Zuruf, wie:

»Eugen! Brüte doch nicht! Nicht brüten!« Sie funkelte ihn mit grellen Irrsinnsaugen an und erklärte: »Du hast es nämlich in Dir. Es steckt im Blut. Du bist einer von ihnen – – ein Pentland!« schloß ihre schicksalsschwere Verkündigung.

»I wo«, sagte dann Bascom gereizt. »Du weißt nicht, wovon Du da sprichst! Wir sind schottisch-irischer Abstammung! Ulsterleute! Beste Leute, die es gibt! Feinster Menschenschlag auf Erden! Ganz ohne Frage! Überhaupt ganz ohne Frage!!«

»Fugitive Ideation! Fugitive Ideation!« plapperte sie los wie ein Äffchen über einer Nuß. »Weißt Du, so eine Art Gedankenflucht, Eugen. Kann nicht mit dem Verstand fünf Minuten bei einer Sache bleiben. Kein Urteil festhalten. Die Vernunft schwirrt nach allen Richtungen aus. Genau das gleiche, was mit den modernen Dekadenten los ist! Lies mal Nordaus Buch darüber, Eugen. Es wird Dir die Augen öffnen.« Und dann wisperte sie heiser: »Ihr alle, alle seid ja supersexualisiert!«

»Gerede!« grollte Bascom. »Wieder so eine Kostprobe von Deiner geschätzten Psychologie, diesem Bastard aus Aberglauben und Quacksalberei! Dieser schwarzen Magie der kleinen Vernünftlinge! Dieser Bemühung eines Blinden, der in einem dunklen Raum herumkrabbelt und eine schwarze Katze (puh-puh-puh!) haschen möchte, die gar nicht da ist!« gellte er. Er zwickte belustigt die Augen zusammen und lachte in kurzen Fauchstößen durch die Nase: »Puh-puh! Puh-puh-puh-puh! ...«

Er kannte sich auf dem Gebiet überhaupt nicht aus, las dagegen noch gelegentlich seinen Kant und konnte sich genauso tief an ›absolute Kategorien‹, ›Negationsmomente‹ und ›Konzipationsdefinitionen‹ verlieren, wie sie mit den komplizierten und extensiven Paraphernelia der Phobien, Komplexen, Fixierungen und Repressionen.

»Sag' mal, Eugen«, fuhr die Tante dann fort in einem leicht scherzhaften, aber doch auch neugierigen Ton, »hast Du eigentlich schon ein nettes, rosenwangiges Neu-England-Mädchen für Dich gefunden? Gib mir da sehr acht, sage ich Dir, gib mir da sehr acht.« Sie wackelte ihn mit einem Warnfinger an, tat wie ein Kätzchen, ließ ihn nicht zum Antworten kommen.

»Wenn er sich eine gefunden hat«, bemerkte Bascom grimmig, »dann wird er dazu finden, daß ihr die hohen Eigenschaften der Mädchen aus den Südstaaten bedauerlicherweise abgehen. Ich meine Delikatesse, angeborenen Anstand und weibliches Dekorum. Jaja! Darüber läßt sich überhaupt nicht streiten«, erklärte er bündig, denn er besaß jene leidenschaftliche Loyalität und jene sentimentale Zuneigung, die viele Leute aus den Südstaaten haben, die um alles in der Welt nie dorthin zurückkehren möchten.

»Nimm ein Mädchen aus dem Norden!« riet die Tante Louise, die sofort zum Streiten aufgelegt war. »Sie sind besser für Dich! Sie sind besser! Besser!« Sie schüttelte störrisch den Kopf, als wolle sie sich da auf gar keine Entgegnung einlassen. »Größere Unabhängigkeit! Klarer Verstand! Sie hängen sich Dir nicht an den Hals, bis Du erstickst«, erklärte sie schnippisch.

»Ich will Dir eine Geschichte erzählen«, fuhr Bascom fort, so als hätte Louise überhaupt nicht geredet. »Du magst sie als ein bewundernswertes Beispiel meiner Meinung betrachten.«

Er räusperte sich, als gälte es, eine Rede zu halten, und legte dann im Ton eines Anekdotenerzählers langsam und bedächtig und seine Worte wohlsetzend los: »Vor einigen Jahren mußte ich in geschäftlicher Angelegenheit nach Portland im Staate Maine reisen. Als ich auf den Nordbahnhof kam, fand ich dort vor dem Fahrscheinschalter eine wartende Menge vor. Es blieb mir nichts anders übrig, als mich an der Schlange hintanzustellen. Nun hatte ich ein kleines Handköfferchen dabei. Als langsam die Reihe an mich kam und ich mir das Geld, mit dem ich am Schalter zahlen wollte, aus der Tasche zu klauben hatte, stellte ich dieses Köfferchen zwischen meine Beine auf den Boden. In diesem Augenblick geschah es nun, daß die Frau, die hinter mir stand – eine Person, die offenbar nicht darauf zu achten pflegte, wo sie ihre Füße hinsetzte –, einen Schritt vorwärts tat und sich mit der Zehenspitze an meinem Köfferchen stieß. Ehe ich noch Zeit hatte, mich umzudrehen und ›Entschuldigung‹ zu sagen – –«, hier hielt Bascom unvermittelt inne, schnitt eine fürchterliche Grimasse, stocherte Eugen über den Tisch hinweg mit dem steifen Zeigefinger in den Oberarm und fragte ihn dann in einer etwas leiseren Stimme: »Nun, sag mal, mein Junge ... Kannst Du Dir vorstellen, was diese Frau tat?«

»Nein«, sprach Eugen.

»Nun, ich gebe Dir mein Wort, Junge«, flüsterte er feierlich-ernst, »ohne auch nur ›Mit Verlaub‹ zu sagen, hob sie das Bein und trat mich, trat mich«, heulte er auf, »versetzte mir einen Tritt in die Rückseite. Und sie, mein Junge, war eine Neu-EngIänderin.«

»Wu-u-uh! Wu-u-uh!« gurrte Louise und schaukelte hin und her, sich die Serviette vor den Mund haltend.

»Kannst Du Dir vorstellen, ja, auch nur im Traum vorstellen«, fragte Bascom im Schauder des Angewidertseins, »daß eine Lady aus dem Süden – Blume der Bescheidenheit und altadliger Zucht – so etwas täte?«

»Ja!« zischte Louise. Sie ließ von ihrem Gurren ab, lehnte sich über den Tisch und funkelte ihm ins Gesicht: »Und recht ist Dir geschehn! Recht! So etwas würde Dir nie vorkommen, wenn Du auch mal an andrer Leute Bequemlichkeit dächtest statt an Deine eigne. Was für ein Recht hattest Du denn, Deinen Koffer gerade da abzustellen? Was für ein Recht?«

»Ach, Du weißt ja nicht, wovon Du da sprichst!« fauchte er empört. Er wandte sich an Eugen. »Was ich für ein Recht gehabt hätte, fragt sie.« Und dann gellte er auf: »Ei, alles Recht in der Welt!« Er wandte sich an Louise: »Hast Du je die die Mitnahme von Handgepäck betreffenden Bestimmungen gelesen, die paragraphenweise auf der Rückseite der Fahrscheine stehen?«

»Gewiß nicht!« erwiderte sie schnippisch. »Man braucht doch keine gedruckten Bestimmungen zu lesen, um sich wie eine zivilisierte Person benehmen zu können.«

»Nun, da will ich sie Dir denn aufzählen«, erklärte Bascom, leckte sich die Lippen und machte ein hocherfreutes Gesicht. Und mit allem Umschweif, mit der ganzen gesetzeschreiberischen Federfuchserei, mit unendlicher Wollust und großem Lippenschürzen zählte er eine dieser Bestimmungen nach der andern auf.

»Und nun sag' mal, ganz nebenbei bemerkt, Eugen«, fuhr er dann ohne weiteres fort. »Ich kenne eine reizende junge Dame. Sie kommt gelegentlich zu mir ins Office, in Begleitung ihrer Mutter natürlich, und sie, die Tochter meine ich, ist recht begierig, Dich kennenzulernen. Sie ist Musikerin; spielt ziemlich oft in der Öffentlichkeit. Sie wohnt draußen in Melrose, aber die Familie stammt ursprünglich, wenn ich mich nicht irre, aus New-Hampshire. Feinster Menschenschlag auf der Welt, ganz ohne Frage.«

Eugen, plötzlich geweckter Sinne, ein Abenteuer witternd, eine Verführung, ließ sich die Adresse sofort geben.

»Ja, mein Junge«, meinte Bascom, der sich durch einen Stoß Briefumschläge durchfingerte, »Du kannst sie jederzeit anrufen, ohne daß es irgendwie indiskret wäre. Ich habe ihr öfters von Dir erzählt, zweifellos werdet Ihr viele gemeinsame Interessen finden. Oder, – sag mal!« Ein Inspirationsblitz trieb ihn zum Handeln, er stürzte zum Telephon: »Ich rufe sie jetzt gleich an, und da kannst Du mit ihr sprechen.«

»Nein, nein, nein, nein!« Eugen war ihm nachgestürzt und fiel ihm in den Arm. Er wollte seine Verabredung selber treffen, üppig und privatim, in einer Telephonbude eingehäust ... er wollte listige Fühler ausstrecken, aus dem Klang der Stimme auf den Bug der Hüfte schließen, mit zartestem Innuendo die Tiefe und Fülle der Möglichkeit erspüren. Er haßte alles Zwischengeschiebe und Familiengebandel; er war der Meinung, dergleichen Betulichkeit von Angehörigen lege einem Abenteuer von vornherein ein so drückendes Gewicht auf, daß es sich dann nicht überwinden ließe.

»Ich will sie lieber selbst anrufen, von mir aus«, erklärte er. »Wenn ich mal mehr Zeit habe. Eben stecke ich so in Arbeit, und da käme es mir in die Quere.«

Später dann, als der Onkel Bascom drunten im Keller an dem Heizofen zu tun hatte und in der dürftigen Koksmasse herumstocherte und -schürte, daß es durchs ganze Haus hindurch in den Röhren und Heizkörpern schepperte und ratterte, kam die Tante Louise ganz plötzlich auf Eugen zu und flüsterte besessen:

»Hast Du ihn gehört? Hast Du ihn gehört? Immer noch verrückt hinter den Frauen her! In seinem Alter! Kann einfach die Hände nicht von ihnen lassen, der unzüchtige alte Tor!« Sie gurrte bitterlich. Und dann, mit einem jähen Wechsel im Ton: »Er ist wahnsinnig hinter ihnen her, Eugen. In den letzten zwanzig Jahren hat er eine nach der andern gehabt. Ein Vermögen hat er an sie gehängt! Hast Du das Mädchen auf seinem Büro gesehn?«

Er bejahte. Er kannte Miß Muriel Brill. Ein durchaus dooferes und unanziehenderes Weibsbild als dieses plumpe, bleiche Mädchen war ihm noch selten begegnet.

»Er hat Tausende für sie ausgegeben, Eugen! Tausende! Der alte Narr! Und hinter seinem Rücken lachen sie sich ins Fäustchen. Ja, sogar hier im Haus ...«, sie ließ den irren Blick im Zimmer umherschießen, »kann er manchmal kaum die Hände von mir lassen, und dann muß ich mich zur Sicherheit in mein Zimmer einsperren.« Der grelle Blick in ihren alten Augen zuckte und flackerte.

Eugen hielt solche Ausbrüche seiner Tante für die Folge einer besessenen, übertrieben ausschweifenden Eifersucht, – Furcht einer untergegangenen Leidenschaft, die Louise noch insgeheim für ihren Gatten hege. Diese Annahme mochte zwar stimmen, aber später stieß er auf eine ganz erstaunliche Menge von Tatsachen, die die Behauptungen seiner Tante bestätigten.

 

Den Winternachmittag über saß er im Haus und rauchte eine von Bascoms kurzen Maiskolbenpfeifen, die er mit einem starken Kneller stopfte, der lose ausgebreitet auf einem Brotbrett in der Küche lag. Wenn es nur einer der gewöhnlichen Sonntagnachmittage war, an denen sie zu Hause bleiben mußte, dann spielte ihm Louise auf ihrem kleinen Victrola ganze Wagneropern vor. Die meisten Schallplatten, die sie besaß, waren Geschenke ihrer beiden Töchter, und während der Woche waren die Stimmen dieser Musik die einzige Geselligkeit, die sich ihr bot.

Eugen hörte aufmerksam zu, wenn sie über Musik sprach; er verstand wenig von der Sache, denn er empfing von Dichtungen jene Art Freude, die andre Leute an der Musik zu finden schienen. Während sie schnell Platten wechselte und den Apparat aufzog, machte sie Bemerkungen über die melodramatische Schaumschlägerei der Italiener und erklärte ihm die metallische Genauigkeit, die ordnungsvolle Verwirrung, den Schauer, die Schwingung und die Leere der französischen Tondichter. Sie liebte die Deutschen und an den Russen das, was sie den ›barbarischen Glanz‹ des Rimsky nannte. Aber freilich war sie zu spät daran, um viel moderne Musik gehört zu haben oder auch sich etwas aus ihr zu machen.

Wagner spielte sie wieder und immer wieder, ganz verloren in den Zauberwäldern aus Wohllaut, im Geist und trunken schummernde Tongewölbe durchwallend, durch die der Klang großer Hörner von fern her hallte. An ihren Ausnahmesonntagen, bei ihren seltenen Ausflügen in die Welt, wenn ihr eine ihrer Töchter eine Karte geschenkt hatte, saß sie in der Symphony Hall, diesem großen, grauen Raum, in dem ringsum bleiche Gipsabgüsse von griechischer Bildnerei stehen. Louise saß dann da wie ein kleiner Vogel auf einer Stange, wie ein Sperling, den das bannende Schlangenauge der Musik festhält. Und ganz so war es auch jetzt. Sie folgte jedem Motiv, achtete ganz genau auf jeden feinen Einsatz der süßen Flöten, der hellen Hörner, auf die die Wirbelsäule streichelnde Verzücktheit der Violinen, bis schließlich ihr einsames und verlassenes Dasein ganz versponnen war zu luftigen Geweben aus klarem Getön.

Bascom derweil, der ebenfalls nichts von der Musik verstand und sich so wenig aus ihr machte, daß er Louisens leidenschaftliche Liebe für sie geringschätzig abtat, vergrub sich in die Sonntagszeitungen, oder aber er blätterte im Konversationslexikon, einem Band einer sehr alten Ausgabe der ›Encyclopaedia Britannica‹, um dort Auskunft über irgendeine strittige Frage einzuholen.

»Hah! Da haben wir's! Genau wie ich dachte«, erklärte er plötzlich laut und mit Siegerbefriedigung und las vor: »Am Fünften jedoch, trotz der dauernden schweren Regengüsse, die die Anmarschwege in Sümpfe verwandelt hatten, erschien Jackson plötzlich aus dem Süden an der Spitze einer Armee von dreißigtausend Mann.«

Louise hob den alten Fehdehandschuh auf, und dann stritten sie über die Stunde, den Augenblick, die Örtlichkeit des toten Ereignisses. Jedes rannte in seine Stube, um ein Dokument herbeizubringen, das die eigne Auffassung belegte, stützte, bestätigte.

»Deine Tante, mein Junge«, sagte Bascom während ihrer Abwesenheit, »ist leider nicht mehr die Frau, die sie einst war. Denn einst – ganz ohne Frage! – war sie eine sehr beachtenswerte Frau. Eine Frau von außergewöhnlicher Intelligenz, ... außergewöhnlich, das will was sagen, für eine Frau«, setzte er höhnisch hinzu.

Und sie tuschelte, während er gegangen war: »Du hast's doch natürlich bemerkt, Eugen?«

»Was?«

»Sein Verstand verläßt ihn«, murmelte sie. »Was für einen Kopf dieser Mann hatte, vor fünfzehn Jahren noch! Aber jetzt! Seniler Verfall ... vergißt alles ... lies darüber bei Stanley Hall nach, Eugen«, wisperte sie schnell noch, als sein Gestapf wieder näher kam.

Oder aber: – wenn der Winterabend eindämmerte und der Westhimmel in einer kalten, heftigen Glutröte schwamm, holte Bascom seine Gedichte, gab sie Blatt um Blatt dem Neffen zum Lesen, kicherte laut und gickste den Neffen in die Rippen, während die Tante den Tisch abdeckte oder bereits ihre Schallplatten zurechtlegte. Die größere Mehrzahl dieser Verse – abgedroschen und pedantisch, wie sie waren – behandelten das Thema Agnostizismus, sie schlugen jene Schicksalstöne an, um derentwillen Bascom einst sein Predigertum in der Kirche hatte aufgeben müssen. Es war dies ein Brand, der ihm noch immer im Hirn gloste und glomm, und zwar nicht so sehr als eine Überzeugung, ein Lebensglaube, sondern vielmehr als ein nachträglicher Rechtfertigungswunsch. Die Verse, die, wie Bascom versicherte, nach Vorbildern seines Dichterhelden Matthew Arnold gemacht waren, klangen meist ungefähr wie dieses Stück:

Mein Glaube

Ob da ein Land jenseits der Sterne liege,
Ein Land, uns zugedacht, wo's ewig tagt,
Wo's keinen Tod gibt, Frieden nach dem Kriege?
Kann sein – ich hab nicht ja noch nein gesagt.

Ob uns ein schöner Dasein dort beschieden,
Ein Dasein voller Lieb und Glück und froh
Von Freuden, die wir nicht gekannt hienieden?
Kann sein – vielleicht – womöglich ist es so.

Und so weiter.

Und durch die Nase kichernd, den jungen Menschen in die Rippen gicksend, sagte Bascom, als er ihm dann listig ein anderes Blatt reichte: »Da ist etwas in der leichteren Ader, mein Junge. Ein kleines Späßchen, weißt Du. Puh-puh-puh-puh-puh-puh!« Das Ding lautete so:

Mariechen hat ein kleines calf
Das folgte ihr auf dem Fuß, sehr treu
Und wo auch Mariechen Buben traf
Da waren die Buben nicht brav noch scheu ...

Und so fort. (Bascoms kleines Späßchen bestand darin, daß calf sowohl Kalb als auch Wade bedeutet.)

 

Bascom hatte Hunderte von diesen Sachen. Eine Mappe voller Gedichte, hauptsächlich religiösen Inhalts. Von diesen schickte er gelegentlich an die Morgenzeitungen, und manchmal erschienen sie dann im ›Briefkasten‹ der Schriftleitung oder unter der Rubrik ›Offenes Forum‹. Die andre Mappe jedoch ›Gedichte, hauptsächlich profaner Natur‹ behielt er offenbar zur Selbstbeglückung.

Wenn es dunkel wurde, so gegen fünf Uhr, brach Eugen auf. Er verließ dann manchmal die Alten gerade in einem bittern Streit über politische Fragen, auf einem Schlachtfeld, das mit den umhergestreuten Sonntagsausgaben des ›Boston Herald‹ und der ›Boston Post‹ bedeckt war: – sie, papageienhaft den Zeitungsjargon nachplappernd, den Senator Borah und die Unversöhnlichen im Senat angreifend, – er, zornig den Senator Lodge als einen Gelehrten und Gentleman verteidigend, mit dem er zwar nicht immer übereinstimmte, von dem er aber einst einen äußerst höflichen Brief empfangen hatte, – eine Tatsache, die ihn scheinbar in Bascoms Augen zu einem vorbildlichen Staatsmann machte.

Beim Weggehen bemerkte Eugen stets – und stets mit einem schnell andringenden Weh –, wie ein Ausdruck jäher, irrsinniger Vereinsamung in die Augen seiner Tante kam, die nun zu einer weiteren Woche ungesellig-grimmer Hausgefangenschaft verdammt war. Aber was er damals noch nicht wußte, war, daß ihr krankes und erschöpftes Herz hörbar zischte, jedesmal, wenn sie wochentags die Kellertreppe heraufkam, wo sie – jedesmal vergeblich – sich an dem kalten Heizofen abgeplagt hatte, der mit billigem, verglühtem Koks und Schlacken verstopft war, – und ferner – daß sie ihren dürren Körper und ihr dünnes Blut mit den armseligen, flechsigen Überbleibseln aus dem Metzgerladen nähren mußte, nachdem der Arzt ihr Fleischkost verordnet hatte.

Die Tante brachte Eugen an die mit Eisblumen und Reif beschlagene Haustür, machte auf und stand da zusammengehutzelt und sich mit den Armen warmhaltend in der wüsten Nordlandskälte. Sie sprach noch einen Augenblick mit ihm, und dann, als er auf dem vereisten Pfad davonging, rief sie ihm in ihrer hellen Stimme nach:

»Komm wieder, Junge! Freu mich immah so, dich zu sehn!«

Er schritt rüstig aus, die bissig-kalte Nordluft erfrischte ihn; der Himmel mit den zerrissenen Wolkenbildern und dem schweren Abendrot schien ihm eine Verheißung herrlicher Erfüllungen zu sein, obschon ihn das ungeheure graue Gewicht des Sonntagsstumpfsinns gleichzeitig sehr bedrückte ... Aber er verlor den Glauben nie, daß er selbst dieser Dumpfheit noch ein richtiges Erlebnis abgewinnen könne. Er schritt dahin mit schneller schlagenden Pulsen, er hoffte, ein Abenteuer würde geschehen, es könne aus jedem warmen, hellen Hause kommen, es könne ihm in der Trambahn, in der Untergrund, in irgendeinem Speisehaus zustoßen. Er fuhr nach Boston hinein und aß in einem Restaurant, wo hübsche Kellnerinnen bedienten, zu Nacht. Dann lief er auf den menschenleeren Sonntagsstraßen herum und wandte sich schließlich – als zu einer letzten Zuflucht – in die Washington Street, wo die Lichtspielhäuser und die billigen Vaudevilles waren, die an Sonntagen hauptsächlich irische Kundschaft hatten.

Manchmal ging er dann in so eine Vorstellung, aber das Programm ödete ihn an, das Publikum war ihm gräßlich, die Witze fand er blöd, und nur die kräftige und ausgewichtete Arbeit der Akrobaten freute ihn. So floh er, das doofe, brutale Gelächter der Zuschauer im Ohr, um nicht in einer Meerestiefe aus grauem Entsetzen zu ertrinken, sehr bald wieder auf die sonntagsdumpfen Nachtstraßen, unter das nichtige Aufblitzen des Cop-Suey-Zeichen vor den chinesischen Spielhäusern, und nahm schließlich den Zug nach Cambridge.

Und dort, später dann, wallte und wogte der Lebensgeist wieder auf in ihm. Er saß um Mitternacht über Büchern versunken, spürte die sacht-stumme Vorahnung von Schneewetter in der Luft, fühlte, wie der Aufschwung, die Freude, die unbesiegliche Macht zurückkehrten, – und er war sicher, die Tür würde sich ihm auftun, das Zauberwort würde gesprochen werden, und alle Kraft, Herrlichkeit und Schönheit der Erde sollten sein sein.


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