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XXVIII

Er blutete unglaublich. Es war unvorstellbar, wie so ein alter, vom Krebs ausgezehrter Schemen von einem Menschen noch soviel Blut in sich haben konnte. Man hat öfter das Wort ›weißbluten‹ gehört, und dies war es bei Gant. Es quoll immer noch Flüssigkeit von ihm, aber sie war fast farblos wie Wasser. Er hatte kein Blut mehr in sich. Und selbst dann starb er noch nicht. Statt dessen – so, als sollte er nun für alle die Jahre der Qual und der dumpfen Todesangst entschädigt werden – kam nun eine Spanne von fast vollkommenem Frieden und fast vollkommener Geistesklarheit. Helene klammerte sich mit heftigen Hoffnungen an diesen ungewohnten Zustand der Ruhe; sie versuchte, ihm und sich selber mit vergeblichen Worten Mut einzuflößen, sie nahm ihn sogar bei den Schultern, rüttelte ihn leicht und sagte:

»Ei, es ist ja schon recht! Nun kommst Du wieder in Ordnung! Das Schlimmste ist überstanden, und es wird Dir bald wieder gut gehen! Merkst Du es nicht?«

Gant legte seine große Hand auf ihre Finger, lächelte ein wenig, schüttelte den Kopf, sah sie an und sagte mit leiser, zärtlicher Stimme:

»O nein, Baby. Ich sterbe. Aber nun ist es schon recht.«

Und nun endlich erkannte sie in ihrem Herzen, daß sie unterlegen war. Aber sie wollte den Kampf nicht aufgeben. Die Tatsachen, daß die entsetzliche Blutung, die bis spät in den Abend gedauert hatte, zu Ende war, und daß Gants Stimme und Verstand nun so ungewöhnlich ruhig und klar waren, erweckten wieder die alte Fähigkeit, sinnlos zu hoffen, die in ihrer Natur lag. Sie wehrte sich verzweifelt dagegen, das Letzte hinzunehmen.

»Oh, ich laß mich nicht einschüchtern«, sagte sie in der Nacht mit heftig verneinendem Kopfschütteln zu Eliza. »Papa stirbt noch nicht. Er wird nochmals durchkommen, so wie er schon so oft durchgekommen ist. Er ist ja bei glockenklarem Verstand! Seit Jahren hat er nicht so zu mir gesprochen wie heute nacht. Er war mehr er selber, als er's seit Beginn seiner Krankheit gewesen ist.«

»Ei ja«, bestätigte Eliza. Sie nahm begierig den Faden auf, um ihn in ihrem unbesiegbaren Optimismus weiterzuspinnen.

»Ei ja«, wiederholte sie, schürzte die Lippe und bemerkte dann auf eine überzeugenwollende Weise. »Und sieh doch nun! ... Sag selbst ... Ei, weißt Du, ich hab' mir die Sache den ganzen Abend überlegt, und da kam ich auf einen Gedanken ... nun ja, ich will Dir sagen, was meine Auffassung ist. Ich glaube nämlich, dieses alte Gewächs, dieses gräßliche alte Ding, dieses – nun ja, ich nehme an, man kann sagen: dieser Krebs ...« Sie machte mit offner Hand eine erklärende Gebärde. »... also, was es auch sein mag, ich meine dieses furchtbare alte Ding, das seit Jahren in ihm sitzt und an ihm gezehrt hat ...« Sie schürzte kräftig die Lippe und schüttelte kurz und angewidert den Kopf. »... also, meine Auffassung ist die, daß dies alte furchtbare Ding sich gestern in ihm losgerissen hat, nämlich als der Anfall mit der Blutung kam, und daß ...« Hier hielt sie absichtlich inne, sah der Tochter fest in die Augen und erklärte langsam und nachdrucksvoll. »... und daß er es einfach fertiggebracht hat, dieses verderbte alte Ding aus seinem System herauszubefördern.«

»Dann meinst Du also«, rief Helene, begierig nach dem Strohhalm greifend, als wäre er ein Fels für ihre ertrinkende Hoffnung. »Dann meinst Du also, Mama – –«

»Ei gewiß, mein ich es«, erklärte Eliza mit langsamem und überzeugtem Nicken. »Ich glaube, die Natur hat ihren Lauf genommen. Ich glaube, die Natur hat erreicht, was alle Ärzte und alle Hospitalbehandlung in der Welt nicht hätten erreichen können, denn Du kannst sicher sein ...« Sie hielt inne und blickte die Tochter ernst an. »... Du kannst sicher sein, daß die Natur letzten Endes der beste Arzt ist. Das hab' ich ja schon immer gesagt, und die besten Fachleute stimmen hierin mit mir überein. Ei ja, ich habe sogar vor ner Woche oder so wieder in der Zeitung gelesen, ... ja, Doktor Royal S. Copeland schrieb dasselbe, ei gewiß ...« erläuterte sie umständlich.

»Oh, aber Mama!« sagte Helene verzweifelt, zwar außerstand, dieser grotesken Auffassung zuzustimmen, aber dennoch gierig bereit, jedes Wort zu glauben. »Oh, aber Mama, sicher können doch Wade Eliot und alle diese andern Ärzte vom John-Hopkins-Institute sich nicht geirrt haben! Aber Mama!« rief sie aufgebracht und doch flehentlich darnach verlangend, eines andern überzeugt zu werden. »Sie können sich doch nicht geirrt haben! Alle diese Jahre hindurch, nachdem er mehr als ein dutzendmal dort im Hospital war! Aber, Mama, diese Männer sind doch berühmt, sind doch die größten Ärzte auf der Welt! Ach, gewiß nicht, gewiß nicht«, entschied sie verzweifelt und starrte Eliza flehentlich an.

»Hm«, machte Eliza und schürzte die Lippen mit einem kleinen, geringschätzigen Lächeln. »Das wäre nicht das erstemal, daß Ärzte sich irrten. Und mir gilt es gleich, wie berühmt sie auch sein mögen. Dessen kannst Du sicher sein. Meine Meinung ist, daß sie sich genau so oft irren wie sie rechthaben; die Sache eben ist nur die, daß man's ihnen nicht nachweisen kann; sie begraben ihre Irrtümer.« Sie schwieg. Sie sah die Tochter mit einem Blick unentwegter Festigkeit an, und ein kleines Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. »Nun, Kind, nun möchte ich Dir etwas sagen, ... etwas, was ich heute gesehen hab.« Sie schwieg wieder, blickte der Tochter stracks ins Auge und lächelte ihr ruhiges, feines Lächeln.

»Ei was? Ei was war es denn, Mama?« begehrte Helene eifrig zu wissen.

»Hast Du Dir jemals den Ahornbaum hier vorm Haus genau angesehn, ich meine den, der gleich rechter Hand steht, wenn Du hereinkommst?«

»Ei nein, wieso denn?« fragte Helene verdutzt.

»Nun«, sagte Eliza ruhig, und etwas Triumphierendes kam in ihre Stimme. »Dann guck Dir ihn morgen mal genau an. Dann verstehst Du alles, was ich meine.«

»Ja, aber wie? Aber was meinst Du denn damit, Mama?«

»Nun, Kind«, beschied Eliza auf ihre lippenschürzende, umwegige Art, »Du weißt doch, ich bin auf dem Land geboren und auf gewachsen, an den Brüsten der Mutter Erde, wie man so sagt, und wenn von Bäumen die Rede ist, nun, da kann ich wohl von mir behaupten, daß es wenig gibt, was ich nicht von ihnen weiß ... Und nun«, sagte sie, unvermittelt zur Sache kommend, »hast Du jemals einen Baum gesehn, bei dem der Stamm in einer großen, rissigen Schrunde angehöhlt war? Einen Baum, meine ich, der aussah, als war er stark angefressen und von einer zerstörenden Kränke verderbt?«

»Ei ja«, sagte Helene verdutzt. »Aber ich sehe nicht, wo Du hinauswillst hiermit.«

»Nun, Kind, da will ich Dir's also erklären«, sagte Eliza mit ruhig-ernsten Augen und gewichtiger Miene. »So ein Baum stirbt eben nicht immer! Du kannst Bäume finden, die von so einer Verderbnis befallen worden sind, und diese Bäume heilen sich selber! Da kannst Du die Stelle sehen, wo die alte, faulige Wucherung sich in sie eingefressen hat, und dann kannst Du sehen, daß der Baum die Kränke überwunden hat und weitergewachsen ist, und zwar ist er so gesund wie zuvor weitergewachsen, einfach um diese hohle Schrunde herum. Und das nun«, sagte sie triumphierend, »das ist genau, was der Ahornbaum im Vorgarten getan hat. Du kannst es deutlich erkennen!« erklärte sie bestimmt und machte eine beschreibende Handgebärde. »Du kannst deutlich erkennen, wie er um die alte Wucherung herumgewachsen ist, er hat da so eine Art Falte gemacht, und da steht er und lebt und ist so gesund, wie er zuvor war.«

»... und Du meinst also ...«

»Ja, ich meine«, sagte Eliza auf ihre bestimmte, unentwegbare Art, »ich meine also, daß ein Mensch fertigbringen kann, was einem Baum gelingt, ... und daß, wenn selbst bloß ein Mensch es fertigbrächte, Dein Vater dieser Mensch wäre, denn er hat mehr Zähigkeit und Lebenskraft als irgend jemand, der mir je begegnet ist, und bestimmt mehr als ein Baum! Guter Gott! Ich habe ihn Dinge tun sehen, die hätten hundert Bäume zerstört. Wirklich, was er alles getan und ausgestanden hat, würde den stärksten Baum, der je gewachsen ist, umbringen.«

»Oh, aber Mama, das läßt sich doch sicher nicht so einfach vergleichen«, meinte Helene. Sie lachte und petzte sich geistesabwesend das Kinn, unwillkürlich und belustigt über die außergewöhnliche Denkweise ihrer Mutter. »Schließlich ist doch ein Mensch ganz anders beschaffen wie ein Baum.«

»Ei, wieso denn nicht?!« rief Eliza ungeduldig. »Beide sind sie Geschöpfe der Natur! Überleg es Dir doch mal einen Augenblick in aller Ruhe! Stell' Dir vor, Du selbst wärst der Baum!« Sie sagte dies mit überzeugendem Ernst und zog mit dem abgeschafften Zeigefinger eine Kreislinie auf Helenens Bauch. »Also stell' Dir vor«, meinte sie überredungswillig, »Du hättest hier drin, ja, hier drin so ein Wachstum, eine Wucherung, einen Tumor, einen Krebs – nenne es, wie Du willst –, und Dein gesundes Gewebe kämpfte dagegen an und stellte sich dem Weiterwuchern entgegen, bis es Herr darüber würde. So würde es zunächst einen Abwehrwall bauen, dann das kranke Gewächs durch gesundes Gewebe ersetzen und es schließlich ausjäten. Und nun ...« – sie machte eine nachdrückliche Handgebärde – »ist es doch vollkommen vernünftig, zu folgern, daß das ein Mensch genauso gut fertigbringen kann wie ein Baum. Ei, ich würde keinen Augenblick daran zweifeln!« entschied sie. »Nicht im geringsten!«

Und so redeten die beiden Frauen miteinander, jede dem Gesetz ihrer Natur gehorchend: – die eine mit dem unbesiegbaren und unabschreckbaren Optimismus, der sich ständig selber überredete, weil er sich ständig wie ein Seepolyp in seinen eignen, vielarmigen Vorwärtsbewegungen verfing, – die andre wie eine Ertrinkende, die sich an jeden Strohhalm klammert.


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