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LXXVIII

Sie saßen am Tisch in einem der Nachtlokale auf dem Montmartre. Das Lokal war beengend heiß, voll von Vergoldung und Geglitzer, schwer von dem unheilsam schwülen, verführerischen Duft, der von Parfümen, Wein, Brandy und erotischer Trunkenheit kommt. Auf allem lag ein grellgoldnes Licht, und dieses Licht verwandelte alles – Vergoldung und Flitter, Tischzeug und Teint, Männergesichter und Weiberfleisch – auf eine schlimme und doch merkwürdig erregende Weise.

Das Orchester hatte gerade ein Stück zu Ende gespielt, das ganz Paris damals sang, eine kleine, heitere, hüpfende Melodie, die durch die Mistinguette berühmt geworden war. Das Ding hieß Ça, c'est Paris, und man hörte es überall. Einsame Straßengänger pfiffen es, wenn sie spät nachts durch die engen, stillen Gassen des Quartier Latin heimgingen, die Taxifahrer brummten es und die Kellner und die Frauen in den Cafés. In den Nachtlokalen auf dem Montmartre und dem Montparnasse wurde es ständig von den Flöten und Geigen der Tanzorchester gebracht, und getragen vom Rhythmenschwall der Ziehharmonika hörte man es in großen Tanzhallen wie dem Bal Bulier und in den kleinen Kneipen und Schänken und Café-Bordell-Tanzstätten jener lärmenden Gäßchen zwischen den Markthallen und dem Boulevard Sebastopol.

Trotz des heiteren Gehüpfs und Geträllers hatte diese Melodie eine gewisse Schicksalswehmut. Der Song gehörte zu denen, die – man wird nie herausbringen, warum eigentlich – imstande sind, einem heftiger, als es sonst etwas vermöchte, Farbe und Duft des Lebens an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit wieder wachzurufen. So pflegte dieser Song Eugen später heimzusuchen mit einem Wahrbild von Paris, mit einem Wahrbild des Lebens, das er damals dort führte, mit dem Gedenken an Starwick, Elinor und Ann.

Für Eugen hatte dieser Song eine gewisse Schicksalswehmut, es lag für ihn etwas unwiederbringlich Verlornes darin, etwas, für das es keinen Preis gibt, die Fülle der bittern Freuden und Herzensnöte, die wir mit vierundzwanzig Jahren empfinden können, wenn die Erkenntnis von der Kürze des Menschendaseins uns zum erstenmal aufgeht, wenn wir zum erstenmal mit dem Verfall und der Niederläge bekannt werden, wenn wir zum erstenmal das zuvor nie Verstandne verstehen, nämlich, daß für uns genauso wie für alle Lebendigen alles vorübergeht, alles verloren ist, alles beim Zugreifen zerfließt wie Rauch; wenn wir zum erstenmal begreifen, daß der Augenblick der Schönheit den Samen seines eignen Todes in sich trägt, daß die Liebe vergangen ist, fast noch ehe wir ihrer habhaft werden, daß unsre Jugend entfloh, ehe wir es gewahr wurden, und daß wir wie jeder andre Mensch alt werden und sterben müssen.

Das Orchester hatte gerade diesen Schlager gespielt, die Tänzer kehrten aus dem kleinen gebohnerten Viereck in der Mitte des Lokals zu ihren Tischen zurück. Einen Augenblick später winkte Starwick den Konzertmeister zu sich an den Tisch und bat ihn, My Chile Bon Bon zu spielen. Dieser Song war Starwicks Lieblingsschlager. Der Song war zwar nicht neu; Starwick hatte ihn bereits mehrere Jahre zuvor in Boston gehört, aber ähnlich wie Ca, c'est Paris war auch dieser Schlager beladen von der Schicksalswehmut, die zu einem bestimmten Ort, zu einem bestimmten Zeitabschnitt gehört. In den grotesken Worten und in der heimsucherischen Melodie lag die Stimmung von Unwiderbringlichem, schwang jene Gefühligkeit, die sich letzthin überantwortet und sich bewußt verloren gibt, lebte ein Bewußtsein vom Verhängnis und Untergang. In Eugen erweckten später diese beiden Schlager zusammen das Wahrbild jenes Jahres, sie riefen in ihm das Leben auf, das er und seine Freunde damals zu viert in Paris führten, und für Starwick drückte der Chile-Bon-Bon-Song irgendwie ganz und gar die Fatalität aus, der sein Leben nun völlig unterlegen war, die sinnenträge Willensschlaffheit.

Der Konzertmeister nickte lächelnd zu Starwicks Bitte, ging zurück, sprach einen Augenblick zu den Musikern, nahm seine Geige und fing an zu spielen. Das Orchester setzte ein, der Konzertmeister kam auf den Tisch zu; schwebeschwank, mit der unendlich duktilen Grazie, die die Violine dem Spieler zu verleihen scheint, stand er vor den beiden Frauen, denen er die klagende, heimsucherisch wehmutsvolle, erregende Musik gewissermaßen widmete.

Elinor trommelte den Takt mit den Fingern auf dem Tischtuch und summte die Worte, leise, tonlos, traumverloren; Ann saß ruhig da, dunkel, mürrisch aufmerksam; Starwick auf der anderen Seite des viereckigen Tischs saß abgewandt, die Beine lässig übereinandergeschlagen, das rötliche Gesicht überflutet von Bewegtheit, mit steten, blindstarrenden, ein wenig feuchten Augen. Einmal während des Spiels verkrampfte sich das angenehme Gesicht in einer plötzlichen Zuckung zu der alten Tiergrimasse namenloser Herzensnot und Bestürzung, – zu jener Grimasse, die Eugen so oft zuvor schon beobachtet hatte, und in der der Ausdruck tragischer Niederlage und der Selbstvereitelung, die Ahnung des bevorstehenden Verfalls zu lesen war.

Als der Schlager zu Ende gespielt war, wandte sich Starwick gemüdet an Ann; er streckte den Arm lässig-räkelig über den Tisch, seine Finger machten süchtelnd und ein wenig ungeduldig eine heischende Einheims-Gebärde.

»Gib mir mal Geld«, sagte er ruhig.

Ann errötete leicht, machte ihre Handtasche auf, fragte mürrisch:

»Wieviel willst Du?«

Die gemüdete Ungeduld des Gehabens wurde sinnfälliger, die süchtelnden Finger zuckten heischender, Starwick gluckerte ein kleines Lachen, als er Anns mürrische Miene sah; leis, humorig, in den dunklen Tönen eines Geizhalses, der sich an seinen Schätzen weidet, sagte er:

»Gib, gib, gib ... Geld, Geld, Geld.« Er blickte sie an, und gluckerte wiederum in üppig aufwallender Ergötztheit.

Sie war rot im Gesicht geworden, beinah gereizt warf sie einen zusammengefalteten Stoß Banknoten auf den Tisch; Starwick griff sehnsüchtig gelassen nach dem Geld, streifte drei Hundertfrancsscheine ab und reichte sie träge dem Konzertmeister, der sich mit einer anbetend beredten Verbeugung bedankte. Und dann, ohne das Geld zu zählen, steckte Starwick den Rest in seine Tasche.

»Ann!« sagte er vorwurfsvoll, »ich bin tiefverletzt.« Er mußte innehalten, denn das sprudelnde, weiche Gluckerlachen wurlte auf, er errötete vor Vergnügen und fuhr fort, ihr in gemimtem Ernst Vorhaltungen zu machen.

»Ich hatte gehofft –«, seine Schultern bebten, »daß nach so langer Zeit endlich Deine feinere Natur –«, er erbebte wiederum vor heimlicher Heiterkeit, »– Deine feinere Natur sich zu offenbaren bereit wäre.«

»Meine feinere Natur soll verdammt sein!« sagte Ann ärgerlich. »Ob Du's gern hörst oder nicht, ich finde Deine Art Geld herauszuschmeißen schandbar! Einem Mann dreihundert Francs geben, weil er diesen verdammten Schlager aufgespielt hat! Und das hast Du mindestens schon ein dutzendmal getan! Gott, mich macht's krank, das Gerede über Dein Chile Bon Bon mitanzuhören! Ich wünscht', das verdammte Ding wäre nie geschrieben worden!« schloß sie bitter.

»Ann!« Wieder dies sanft Spöttische scheinbaren Vorwurfs. »Das also ist die Erkenntlichkeit, die Du uns bezeigst nach all dem, was wir für Dich getan haben! Nicht daß ich empört bin, nein, ich bin tief, ganz tief verletzt«, flötete er liebenswürdig. »Wirklich, ich bin's, weißt Du.«

»Ah-h!« Sie machte eine plötzliche, aufgebrachte Gebärde, so, als wolle sie den Tisch von sich wegschieben und aufbrechen, und dann warnte sie zornig: »Nun hör' mal, Frank, fang' mir nicht wieder an mit dem, was Du all für mich getan zu haben vorgibst. Für mich getan!« sagte sie wütend. »Für mich getan!« Sie lachte kurz und hart, ärgerlich gereizt, fand keine Worte fortzufahren.

Starwicks weiches, wurlendes Lachen antwortete ihr.

»Ich weiß«, sagte er heiter errötend. »Aber schließlich und endlich, so ein bißchen filzig bist Du schon, Ann.« Seine Schultern bebten leicht, sein Gesicht errötete tiefer vom andrängenden Lachschwall. »Ich meine ...« Er mußte innehalten, das stumme Ergluckern schüttelte ihn. »Ich meine, es könnte vielleicht das sein, was man bei Dir zu Haus in Boston den Beacon-Hill-Einfluß nennt. Und wirklich«, er sah sie ernst an, »Du solltest das zu überwinden versuchen.«

»Also Frank!« rief Ann ärgerlich, »wenn Du damit wieder anfängst, daß ich knauserig wäre!« Sie hatte sich halb vom Stuhl erhoben, nun setzte sie sich unvermittelt wieder und platzte bitter grollend heraus: »Ich bin nicht knauserig, und Du weißt das ganz genau! ... Mir liegt gar nichts dran, Geld, wenn ich's hab', auszugeben, Dir zu geben ... Es ist nur, daß ich dafür bin, daß jeder sein Teil zusteuert ... Wenn Du das für Neu-Engländer-Knickerigkeit hältst, hab' ich nicht das geringste dagegen ... Das ist dann Deine Privatmeinung! ... Aber ich hab' das immer anders empfunden und werde es immer anders empfinden! ... Knauserig!« murrte sie. »Ich bin's nicht! ... Aber ich bin's müd, stets und ständig die Dumme zu spielen, die ausgenützt wird ... Mich deucht, Ihr anderen könntet dann und wann auch mal Euer Teil beitragen!«

»Aber keineswegs!« mimte Starwick im Ton erstaunten Protests. »Ich kann nicht finden, wieso das das geringste ausmachen sollte«, erklärte er liebenswürdig. »Schließlich, Ann, sind wir doch keine vier alten Jungfern aus Boston, die die ›grand tour‹ in Europa machen und jeden ausgegebenen Cent in ein gemeinsames Verrechnungsbuch eintragen«, erläuterte er ein wenig sarkastisch. »Wenn vier Leute einander so kennen wie wir, dann ist Geld das denkbar Letzte auf der Welt, das eine Rolle spielen dürfte. Wirklich, das sollte Dir einleuchten«, sagte er leicht ungeduldig. »Es ist fast unfaßbar, daß eine Person von Deiner Qualität an einer so materialistischen, einer so beinah ... habsüchtigen Auffassung vom Geld festhalten sollte. Ich würde viel eher annehmen, daß es Dir nicht das geringste bedeutet. Du solltest das einfach aus Deinem Wesen 'rauswerfen«, riet er ruhig. »Eigentlich müßtest Du's sogar, weil Du wirklich eine großartige Person bist, tatsächlich, weißt Du.«

Sie errötete und murmelte mürrisch:

»Ah! Hör' auf mit meiner Großartigkeit! Das hab' ich alles schon – wie oft – gehört. Mit dem Geschmus kannst Du mich nicht mehr einwickeln!«

»Aber Du bist es doch! Sogar eine sehr großartige Person«, erklärte er nachdrücklich ernst. »Deswegen ist's ja so schade.«

Sie errötete abermals und saß mürrisch verlegen auf den Tisch starrend da.

»Und Ann«, sagte Starwick liebenswürdig gluckernd mit seinem sanftfließenden, schlimmen Lachen, »Du bist tatsächlich sehr schön in diesem roten Kleid.« Wieder bebte die sinnliche, manierierte Stimme vom Wurlen der Lachbläschen. »– Und sehr verführerisch bist Du ... und sehr –« Seine Schultern bebten, sein Gesicht erbebte beim Sprechen. »– Wirklich durchaus wollüstig bist Du«, sagte er genießerisch, und plötzlich erstickte ihm das Lachen die Stimme. Als er sich wieder gesammelt hatte, wandte er sich, noch immer heiter errötet, an Eugen und sagte ganz ernst: »Es ist durchaus erstaunlich, es ist nämlich wirklich so, weißt Du! Sie ist glorreich schön!«

»Frank!« Ann sah Starwick einen Augenblick mit einem Ausdruck stummer Gereiztheit an. Dann lachte sie plötzlich ihr kurzes, zürnendes Lachen. »Gott!« rief sie sarkastisch aus, »das war ein hoher Preis für ein Kompliment, nicht wahr?«

Dieses Lachen aber – kurz zwar und zürnend, wie es war – hatte wie immer ihre dunkle, edle Schönheit zum Erstrahlen gebracht. Im Nu war ihr Gesicht aus seinem gewohnten Ausdruck dunkler, beinah schwerer Mürrischkeit emporgehoben und verwandelt worden; ihre Wangen, die sonst ein wenig hingen wie die Wangen eines dickbäckigen Kinds, hatten sich gespannt und waren rosig überhaucht, und ihr süßer roter Mund und ihre weißen Zähne waren plötzlich leuchtend-hell geworden im Glanz ihres lieblichen Lächelns. Und Eugen bemerkte nun, was er schon ein paarmal beobachtet hatte, nämlich daß Anns graue Augen, wenn sie Starwick ansahen, nicht hart und zürnend blieben, sondern rauchig-lichtig wurden von einer tiefenlosen Zärtlichkeit des Blicks.

»Du bist«, schloß Starwick ruhig, vollkommen ernst, das angenehme Gesicht noch leicht von Heiterkeit gerötet, »Du bist wirklich eines von den glorreich-schönsten Geschöpfen, die je gelebt haben.«

Was er sagte, war bare Wahrheit. Anns Schönheit an diesem Abend war beinah unglaublich. Sie hatte ein neues Abendkleid an, das ein berühmter Schneider für sie gemacht hatte. Das Kleid war von einem herrlichen Rot und schien mit einem fast luftigen Schwung wie ein schimmernder Schleier an ihr zu fließen; kein Kleid in der Welt hätte ihr besser stehen, hätte ihre dunkle Schönheit, hätte die edlen Proportionen ihrer Figur auch nur halb so gut zur Geltung bringen können. Sie hatte schwarzes, dickes, duftendes Haar und trug es in der Mitte gescheitelt; Eugen bemerkte, daß es schon von ein paar groben, grauen Fäden durchzogen war. Ihr Gesicht hatte die Würde ihres großartigen, aufrichtigen Charakters, – die Mürrischkeit eines Kinds mit dicken Backen und die strahlende, jähe Süße und Glückhaftigkeit ihres Lächelns verbanden sich darin.

Und in jeder andern Beziehung zeigte Ann diese seltsame, liebliche Einheit von Zärte und Großartigkeit, von Kind und Frau. Ihre Hände waren lang, braun, schmal, die Finger lang und fein, die Knochen delikat und dünn wie die Krallen an einer Vogelklaue, und doch, man sah es, das waren lebenstüchtige, kräftige, sensitive Hände. Ihre Arme waren lang und schlank, firm und dabei doch so delikat wie Mädchenarme, aber ihr Busen war, wie Eugen bemerkte, nicht rund und fest; sie hatte die langen, schweren Hängebrüste großwüchsiger Frauen. Sie stand auf, um mit Starwick zu tanzen. Sie war einen ganzen Kopf größer als er, und doch – strahlend von einer zuvor nie gekannten Freude und Glückseligkeit schien sie in seinen Armen zu fließen, eine amazonische Gestalt, großschenklig, großgliedrig, großbrüstig, und gleichviel ein Geschöpf von einer Lieblichkeit, die zart und strahlend war wie die eines Kindes.

Die beiden tanzten vortrefflich zusammen. Aus Ergebenheit für Starwick spielte das Orchester nochmals das Chile Bon Bon; als die beiden zum Tisch zurückkehrten, war Starwicks rötliches Gesicht tiefübergossen von der Bewegtheit, in die der Schlager ihn stets versetzte; seine Augen sahen feucht aus, und in seiner hohen, leidenschaftlichen, beinah weibischen Stimme rief er Eugen zu:

»Gott! Ist das nicht groß!? Ist das nicht schlechthin süperb!? Es ist einer von den größten Songs der Welt, wirklich, weißt Du! Das Ding hat dieselben Eigenschaften wie die großen Primitiven, – wie ein archaischer Apoll oder Cimabues Madonna im Louvre. Mein Gott!« rief er in einem hohen, weibischen Ton, »das Ganze liegt drin, es ist wirklich da! Ich glaub, das ist der größte Song, der je geschrieben wurde!«

Er goß sich Sekt, kalt und funkelnd, ins Glas und trank ihn in durstigem Zuge, die Augen feucht, das Gesicht übergossen von der Röte tiefer Bewegtheit.


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