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LII

»Wo soll ich nun hingehn? Was anfangen?« – Ein dutzendmal in jenem Jahr machte Eugen diese gequälten Lustreisen. Warum er sie machte, und was er zu finden hoffte, das wußte er nicht. Er wußte nur, daß er abends wiederum das mächtige geheime Pulsieren der Lust spüren würde, um die sich dann alles Leben in der Weltstadt drehte. Daß er dann, gleichviel ob er dort etwas erhoffe oder dort an etwas glaube, gezogen werden würde zu der mächtigen Grelle, auf die überschwärmten nächtlichen Avenuen, in den großen Flutstrom der fahlen, nächtlichen Gesichter. Er wußte nur, daß er wieder und wieder, Nacht für Nacht herumstreichen würde im Gedräng der Durchfahrten, wo die Ratten waren, wo die toten Menschen waren, wo die Millionen Gesichter und Formen der ungreifbaren Lust an ihm vorübergehn und sich seiner ausgestreckten Hand entziehen würden wie böse Traumgestalten, ... daß die alten, unbeantwortbaren Fragen, die so viele Millionen Leben dort in den Labyrinthen und dem Getös des weltstädtischen Getriebes vereitelt haben, sich ihm wieder stellen würden, und daß er nie eine Antwort auf sie fände.

»Wo soll ich nun hingehn? Was anfangen?« Sie stellten sich ihm wieder, diese Fragen, sie höhnten ihn mit ihrer unlösbaren Rätselhaftigkeit, wenn er wütig durch die kaleidoskopische Nacht strich. Und immer, wenn sie sich ihm stellten, dann riß augenblicklich, irrsinnig und überwältigend der Wunsch an ihm, sofort aus den Straßenschlüften der Stadt zu fliehen, die ihn in seinem Hunger wie einen Tantalus mit tausend Phantomvorstellungen unstillbarer Lust peinigte. Zu diesem blinden Drang, augenblicklich aus dem Gefängnis der Stadt auszubrechen, sich sofort vom quälenden Quellstrudel der Stadt wegzubegeben, kam eine Überzeugung, kam die wilde, verrückte, überwältigende, aller Vernunft zuwiderlaufende Überzeugung, daß eine glückselige, fruchtbare, unvorstellbar gnadenhafte Erfüllung für ihn irgendwo auf dem dunklen, einsamen Kontinent warte, irgendwo in einem der tausend kleinen, schlafenden Landstädtchen, und daß diese Erfüllung augenblicklich und gewißlich an Hand der Wünschelrute des wunderbaren Zufalls aufzufinden wäre überall dort und an jedem beliebigen Ort, wo die großen Räder gerade hielten.

So war es infolge einer ironischen Umdrehung, die Eugen damals weder bemerkte noch verstand, so gekommen, daß dieser junge Mensch, der in seiner Kindheit wie Millionen anderer Knaben aus dem Dunkel die strahlende Stadt geschaut und von dem guten, glückhaften Leben, das er dort finden würde, geträumt hatte, die Stadt floh, um in unbekannten kleinen Städtchen gerade das zu suchen, was ihm die große Metropole verheißen hatte.

Er machte in jedem Jahr ein Dutzend dieser verrückten plötzlichen Reisen, er fuhr mehrere Male nach Neu-England, er fuhr nach Pennsylvanien und Virginien, und gar manchesmal fuhr er stromauf, am Hudson River entlang, dem geheimnisvollen Norden entgegen.

 

Er fuhr in einer Märznacht zurück nach New York aus dem winterlichen Norden, er kam gerade von einer dieser plötzlichen, wütigen, launischen Reisen, zu denen er sich in dranghaften Augenblicken entschloß, zu denen ihn der Stachel der Lust trieb, und von denen er, wie auch nun, verdrossen, hungrig und ungestillt zurückzukehren pflegte, um dann wieder im Leben der Weltstadt treibend nach einer Befriedigung zu suchen.

Unter einem ungeheuren, stürmisch bewegten Winternachthimmel brauste der Zug gleichmütig-mächtig dahin, er schien das einzige Unwandelbare im Erlebnisbild zu sein, schien gewissermaßen einen zeitlos-fixierten Festwert darzustellen, denn die Erde strich wie ein ständig fortgeraffter Fächer oder wie die Speichen eines rollenden Rades vorüber, und der Himmel stob mit großem, schwerem Gewölk vor einem meist verhangenen, manchmal grell aufblitzenden, einsam dahinjagenden Mond. Eugen lag auf dem Bett in seiner Pullmankoje im Zustand der schlafsüchtig-überwachen Aufnahmefähigkeit, die das Fahren in der Eisenbahn nachts immer in ihm auslöste. Die Wolkenfluchten am Himmel und die Landschaft, die mit beschneitem Feld, dunklen Waldklumpen und den traulich zusammengerückten Häusergruppen einzelner Farmen vorüberglitt, berauschten ihn. Die Fahrt war zuerst durch die weite, winterweiße Ebene an der kanadischen Grenze gegangen, dann durch die wildverschneiten dunklen Bergforsten der Adirondacks, durch die heimsuchend schöne Gegend am Lake Champlain, vorbei an Ticonderoga mit dem wohllautenden Namen, der an das alte Fort, an Indianer und an die frühen Kriege der Kolonisten erinnert. Und nun rollte das lieblich hingehügelte Land vorbei mit Feld und Wald und Farm und dann und wann einem kleinen, einsamen Nest, das mit ein paar dürftigen Lichtern in die Nacht gebettet dalag. Der Zug hielt ein paar Minuten in Saratoga, Eugen hörte die vertrauten Stimmen von Leuten auf dem Bahnsteig, die einander begrüßten und ein paar beiläufige Worte wechselten, hörte, wie der Motor an einem Kraftwagen knatternd anlief, und dann glitt eilig vorübergerafft die unsterbliche, unentwegbare Erde wieder vorbei mit Feld und Wald, ein paar Lichtern und ein paar Häusern.

Plötzlich tief in der Nacht wurde Eugen auf einmal jäh wach. Der Zug fuhr langsamer, die Außenbezirke einer Stadt kamen in Sicht: – eine Kette harter Lichter, die über den niedrigen Hügeln des Weichbilds lag, und die ersten Häuser. Dann kamen winterliche Straßen im schnöden, grellen Laternenlicht und mit den berauchten und berußten Fassaden alter Häuser. Das Bild war ihm fremd und nah und vertraut wie in einem Traum.

Und nun hielt der Zug. Die alten Backsteinmauern von Lagerschuppen und die schmierigen, rostigen Wände von Fabrikanlagen standen dicht am Bahnkörper. Als der Zug zum Stehen kam, fand Eugen, daß er in gerader Blickrichtung auf ein altes, rotes Backsteinhaus hinsah. Es war dies so ein Haus, wie man es im Bahnhofsviertel fast jeder Stadt findet. Über der kleinen, dunklen Tür brannte finsterlich einladend ein mattes, rotes Licht. Und nun gerade trat schnell ein Mann heraus, blickte sich mit dem verstohlen-verlegnen Blick von Männern, die gerade aus dem Bordell kommen, kurz nach beiden Seiten um, schlug den Mantelkragen hoch und ging rasch weg.

Im Erdgeschoß dieses alten Hauses lag eine Bar. Eugen konnte durch die Fenster in den verrufenen, schäbigen, aber gemütlich warmen Ausschank blicken. Alles dort kam ihm traumhaft bekannt vor, und das Bild, wie auf eine Bühne hingerückt, war ihm unmittelbar nah. Trotz der späten Stunde – die Wanduhr über dem Schanktisch zeigte auf vier – war noch recht viel Betrieb. Im Raum standen mehrere Männer und tranken Bier. Dem Aussehen nach waren es Eisenbahnarbeiter, Taxifahrer und Nachtbummler, bis auf einen Mann, der schwarze Ledergamaschen trug und das frische, gesundrote Gesicht eines Landarbeiters hatte. Der Wirt, hemdsärmelig, eine Schürze vorgebunden, stand hinter der Theke, die dicken Hände auf die Tischplatte gestützt. In der einen Hand hielt er einen nassen Lumpen. Er hatte ein plumpes, übernächtiges Gesicht mit schlaffen Hängebacken und toten Augen. Er unterhielt sich geschäftsmännisch entgegenkommend mit den Kunden.

Am äußersten Ende des langen Schanktisches standen ein Mann und eine Frau zusammen. Der Mann trank Bier. Die Frau war eine von den feisten, derb-freundlichen, erfahrenen Huren, wie man sie oft in Bahnhofsvierteln trifft. Sie trank auch Bier. Sie redete mit deftig-verführerischer Liebenswürdigkeit auf den Mann ein, alsdann nahm sie ihn beim Arm und zog ihn fort. Der Mann machte eine ziemlich blöde Miene, grinste erfreut und kam mit. Eugen konnte sehn, wie sie beide zusammen die Treppe hinaufgingen. Als sie gegangen waren, sagte einer von den Männern etwas zum Schankwirt, und einen Augenblick später lachten die Männer sichtbar laut auf. An den Wänden der Bar hingen große Spiegel in breiten Walnußrahmen, und über dem mittleren Spiegel unter einem fächerförmig in Riefelfalten gespreiteten Sternenbanner hing das Bildnis des Mannes mit den buschigen Augenbrauen und dem edlen Römerkopf, des Präsidenten Harding.

Der Zug fuhr langsam weiter. Er kreuzte eine Straße. Eugen sah stumme Häuserreihen, grelle Laternen, Taxis. Der Zug fuhr am Stationsgebäude vorbei. Eugen sah in die Gepäckabfertigung. Der Raum war gestaut voll mit Koffern, aufeinandergehäuften Postsäcken, Kisten, Versandstücken in Lattenverschlägen. Vor der roten Backsteinmauer des Stationsgebäudes auf dem grauen Beton der Bahnsteige waren ein paar Leute, – ein Eisenbahnarbeiter mit einer Laterne, ein Schaffner mit einem kleinen Handkoffer, ein paar Reisende.

Auf der andern Seite des Stationsgebäudes hielt der Zug wiederum. Und wiederum konnte Eugen von seiner verdunkelten Schlafstatt aus, ohne auch nur den Kopf zu wenden, einen Einblick in das ungeheure und unmittelbare Theater des Menschendaseins tun. Und wiederum berührten ihn Bild und Ereignis mit ihrem traumhaften Zauber, mit ihrer unglaublichen Vertrautheit. Er blickte hinaus auf ein andres altes Backsteinhaus, ein Eckhaus, vor dem ein paar Taxis standen. Im Erdgeschoß des Hauses war eine kleine Speisewirtschaft, ein Lunch-Room von der Art, wie er sie zu Tausenden gesehen hatte. Hinter den beschlagenen Scheiben konnte Eugen die Taxifahrer sehen, die sich angeregt unterhielten, und den Kellner an der Theke, einen jungen Mann mit schmalem, gelblichbleichem Gesicht, eine schmutzige Schürze vorgebunden, in Hemdsärmeln, die Ärmel aufgerollt; er stand zurückgelehnt, hatte die mageren Arme verschränkt und hörte aufmerksam-müde den Taxifahrern zu.

Vor dem gegenüberliegenden Eckhaus sah Eugen einen jungen Mann stehn. Dieser junge Mensch mochte achtzehn oder zwanzig Jahre alt sein. Er war lang und schmal und sah ziemlich zart aus. Er zog eine trotzig-finstere Miene, und aus dieser Miene sprach die fast fiebrige Heftigkeit, die junge Burschen auf solcherlei nächtliche Ausgänge treibt. Er zauderte, er war offenbar unschlüssig, er steckte sich eine Zigarette in den Mund, und als er sie anzündete, zitterten seine Hände. Er schlug den Mantelkragen hoch, blickte sich nervös-unwirsch um, blieb stehn, rauchte.

Unterdessen kam aus dem Hinterzimmer des Lunch-Room eine junge Dirne. Sie war noch schlank und sah nett aus. Sie ging langsam über die Straße hinüber an die Ecke und blieb dort lässig stehn. Sie sah sich mit einem unschuldigen und doch unverschämten Blick um, und obschon sie den jungen Mann scheinbar nicht geradezu ansah oder ihn gar zum Mitkommen einlud, so wartete sie doch offensichtlich darauf, von ihm angesprochen zu werden. Die Unschlüssigkeit des Burschen wirkte komisch. Er paffte schnell und nervös an seiner Zigarette, und während er so tat, als bemerkte er die Dirne nicht, musterte er sie mit schnellen, verstohlenen Seitenblicken. Er schien zu keinem Entschluß kommen zu können.

Nun erschien ein anderer Mann. Er war viel älter als der Bursch, Eugen schätzte ihn auf Mitte der Dreißig. Er war groß und stämmig gebaut und ganz gut, wenn auch zu protzig angezogen. Er trug einen grauen Filzhut, smart, das heißt in diesem Falle ein wenig schief aufgesetzt, und hatte einen gutsitzenden, teuer aussehenden Mantel an, der nach der Mode, die man am New Yorker Broadway snappy nennt, auf Taille geschnitten war. Der Mann sah aus, wie die reich gewordenen griechischen Einwandrer aussehn. Er hatte ein kräftiges, dunkles, brutales, von selbstsicherer Sinnlichkeit strotzendes Gesicht. Er kam auf dem schmalen Bürgersteig der Straße, die neben dem Bahndamm herlief, gegangen, und als er das Mädchen sah, ging er sofort auf es zu und sprach es großtuerisch-ichbewußt an. Einen Augenblick später gingen die beiden zusammen weg.

Der Zwischenfall wirkte sich komisch-pathetisch auf das Gebaren des jungen Mannes aus. Der Bursche tat so, als hätte er die Dirne und den Griechen gar nicht bemerkt, er sah ihnen auch nicht nach, als sie zusammen weggingen. Aber als sie gegangen waren, zog sich sein hageres Jungengesicht plötzlich zusammen und wurde hart. Er blickte noch finsterer drein. Mit einer jähen, ärgerlichen Bewegung warf er seine Zigarette in die Gosse, wandte sich entschlossen um, und so, als ob er sich seines feigen Zögerns und Zauderns schäme, schritt er schnell die Straße neben dem Bahndamm hinunter, an einer Reihe von schäbigen Wohnbaracken vorbei.

Phantastischerweise aber sollte dieser bühnenhafte Einblick in die menschliche Komödie hiermit nicht abgeschlossen sein. Der Zug zockelte langsam ab und hielt Schritt mit dem jungen Mann. Gleich nach den Wohnbaracken kam eine Reihe von schäbigen, alten, aus Holz gebauten Bordellen; die Fensterläden waren geschlossen, aber durch die Spalten sah man das heiße, erregende, rote Licht, und über den Haustüren brannten die kleinen, roten Lampen. Eugen konnte durch das Fenster neben seiner Schlafstatt beobachten, wie der junge Mann am dritten Haus sich wandte, eintrat, schnell die hölzerne Treppe hinaufsprang und läutete. Beinah im Augenblick noch wurde ein kleiner Guckschalter in der Tür aufgemacht, eine scharfe, vorsichtig forschende Schnabelnase und eine Strähne aufgeblondeten Haares erschienen im Rahmen, die Tür ging auf, das rote Licht fiel wie ein Glutschein auf die Gestalt des Burschen, der Bursch trat ein, die Tür wurde geschlossen, der Zug fuhr mit zunehmender Geschwindigkeit weiter, an der Polizeiwache vorbei, in der die Nachtschutzleute saßen, an dem sich vorüberdrehenden Speichenwerk brauner Straßen, alter Häuser, Lagerschuppen, Wohnbaracken, Fabrikanlagen, grellen Ecklaternen entlang. Und dann am Rand der Stadt kam eine große, weithinleuchtende, unglaublich schöne Helle; – klingende Hammerschläge, helles Gedengel, gleißende und überblitzte Geleise, das laute Pusten und Schnurren großer Lokomotiven – ein ungeheurer Rangierbahnhof mit Eisenbahnwerkstätten und einem Lokomotivschuppen.

Und dann kamen Einsamkeit und Erde und Nacht, und dann kam der Strom, der große und stumme Strom, der edle, weite, königliche Strom, der auf immerdar nachts durch das Land fließt, der die Klippen umspült, den Felsgrund der furchtbaren Weltstadt, der auf immerdar um die Millionen Zellen der gefangenen Schläfer den Gürtel zieht und in der Nachtzeit, im Dunkeln, in all der Schlafstille unsrer Leben an uns vorbei, an uns vorbei, an uns vorbeifließt ins Meer.

 

Jener Einblick suchte ihn heim. Er konnte ihn nicht vergessen. Der junge Mensch, der nachts in jener einsamen Stadt an der Straßenecke stand, wurde ihm zum Wahrbild seiner eignen Wünsche, zum Wahrbild der Wünsche aller jungen Menschen, die je gelebt haben, zum Wahrbild des einsamen, heimlichen und nie schlafenden Lustwunschs Amerikas, der da immer in den kleinen Städten nachts lebt und zuweilen mit einer jähen, kleinen, wilden Flamme aufgrellt, während alle Schläfer schlafen, der da uneingekerkert und allein brennt unter ungeheuren und zeitlosen Himmeln auf dem dunklen und geheimnisvollen Antlitz des Kontinents, der da immer an den geschlossenen Fensterläden der Nachtfassaden entlangschleicht, und – wütig darbend, ungestillt und getrieben wie er ist – allein in der Dunkelheit lebt und nicht sterben wird.

Jener Trieb hielt ihn und zog ihn mit magnetischer Macht. Achtmal in jenem Frühling machte er die impulsive Lustreise stromauf. Achtmal im Dunkel über dem Schütterstoß von Rad und Schiene erlebte er den wilden und geheimnisvollen Nachtkontinent, die ruhig flutende Nokturne des großen Stroms, den alten, unmöglichen, wilden Freudenschwall seines eignen Herzens. Jene Stadt, die er zuerst so reizvoll, beiläufig und wie im Traum während eines Zugaufenthalts gesehen hatte, wurde ein Teil seines eignen Daseins, unauslöschlich auf die Tafeln seines Gedenkens geritzt. Achtmal sah er jene Stadt in jedem Licht und Wetter: als der wehende, nasse Schnee trieb, als der Regen goß, als es dumpf und öde und winterlich finster war, als das erste, hagere, graue Frühlicht an den Rändern der Osthügel durchbrach. Und diese Stadt wurde ihm vertraut wie etwas, das er sein Leben lang gekannt hatte.

Es kam so, daß er die Zeit dort, den Betrieb dort, die Leute dort kannte, die Bahnhofsangestellten, die Eisenbahner, die Gepäckträger, die Lungerer, die Leute, die nachts herumstreichen, denen die graue Asche der Kleinstadtzeit trübe zerrinnt, die Taxifahrer, die Kellner, die Griechen und alle die andern, die an den großen Schlachtbänken der Nacht zu Hause sind. Und schließlich auch lernte er gelegentlich dieser blinden Reisen alle die Huren kennen, die in jener kleinen Reihe von Holzhäusern neben dem Bahndamm wohnten. Achtmal am Ende der Nacht kam er zum letzten Handel ihrer erschöpften Umarmungen, achtmal verließ er diese schäbigen, kleinen Häuser mit den geschlossenen Fensterläden im grauen, hageren Frühlicht, und achtmal in jenem Jahr machte er, als der Morgen kam, die Reise stromab.

Und später konnte er nichts davon vergessen. Alles fügte sich als Teil in ein erlebtes Ganzes, das Gräßliche wie das Schöne. Die Schmierigkeit, der Rost und die alten, roten Backsteine, die dunkle und geheimnisvolle Einsamkeit der Erde, beiläufig gehörte Worte, Leute, die er an der Stimme, dem Ansehn nach und bei Namen kannte, der mühselige und doch so freundliche Verkehr mit den Huren, der anbrechende Tag an den Hügelrändern, der große, zaubrische Strom im ergrünten Mai, – das alles wurde zu einem einzigen, zusammenhängenden Erlebnisbild, und irgendwie war dies Bild schön.

In jenem Frühling fuhr er achtmal morgens durch die edel hingebreitete Uferlandschaft des großen Stroms nach New York zurück. Er sah den April kommen mit plötzlichen Placken von vorsichtigem Grün, den Mai mit der Blüte, dem Licht der Blumen, der Reinheit seiner Tagesfrühe, dem erwachenden Vogelsang in frisch ergrünten Bäumen, der Lust des Morgengolds auf der Flut des großen Stroms. Achtmal in jenem Frühling fuhr er nach der Wut, der Wildheit und der Ausschweifung der Nacht im Morgen in die Großstadt zurück in Gesellschaft von wachen Männern. Es waren meist Eisenbahner – Maschinisten, Heizer, Bremser, Weichensteller und Schaffner –, die zu ihrer Arbeit fuhren, und ihre schlichte, karge, derbe Kameradschaftlichkeit erfüllte ihn mit Morgengesundheit und Freude.

Wenn er sich dieser morgendlichen Rückfahrten erinnerte, dann suchte ihn stets das Bild eines alleinstehenden Hauses heim. Es war ein großes, weißes Haus, das fein und leuchtend im Morgenglast auf einem edlen, mit weitem Schwung vom Flußufer zurückschwellenden Hügel stand, beschattet von den stummen Gestalten mächtiger Bäume, umgeben von breiten, samtenen Rasenteppichen, und dort war immer Morgen und die zarte Reinheit des Lichts.

Dieses Haus suchte sein Gedächtnis heim wie ein Traum, er konnte es nicht vergessen. Aber er wußte nicht und hätte auch nicht ahnen können, durch welch einen seltsamen, traumhaften Zufall er später einmal in dieses Haus kommen sollte.


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