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XXXV

Starwick war nun sein bester und nächster Freund. Mit einem fremden und bittern Gefühl von Mangel und Verlust merkte Eugen auf einmal, daß Starwick überhaupt sein einziger gleichalteriger Freund war, dem er ganz und leidenschaftlich sein eigenes Leben enthüllt hatte, und dessen Gesellschaft er nie überdrüssig ward. Freunde zwar hatte er gehabt, Freunde in dem beiläufigen und gleichgültigen Sinn, in dem Freundschaft gemeinhin aufgefaßt wird, – nie aber den Freund, dessen Freundschaft zu Herz und Kern des Wesens dringt. So ein Freund war ihm nun Starwick. Und Freundschaft wie diese hatte er nie zuvor gekannt.

Warum? Woher kam dieser beklagenswerte Mangel und Verlust – falls es überhaupt Mangel und Verlust war – in seinem Leben? Woher kam's, daß er mit seinem heftigen, unstillbaren Lebenshunger, daß er mit seinem unlöschbaren Durst nach Wärme, Freude, Liebe und Kameradschaft, daß er, der von Kind auf das brennende Wunschbild seiner Zauberstadt voll großer Kameraden und glorreicher Frauen in sich trug, wie kam's, daß er, Eugen, der Menschen so schnell überdrüssig, ja, ihrer schon beim Kennenlernen leidig ward? Woher kam's, daß er das bißchen, das ihm so dargeboten wurde, aus ihnen gleichsam wie aus einer Saftfrucht herausquetschte, worauf sie dann sofort ihn langweilten, ihn anödeten, ihn heftig verdrossen, ihm widerlich waren, und dies oft so sehr, daß er vor Ungeduld, ihrer ledig zu werden, sie beinahe haßte?

Woher kam seine maßlose Empörung darüber, daß niemand ihm so gut erschien, wie er hätte sein sollen? Woher seine unbeweisbare und völlig unerschütterliche, seine mit jedem Rückschlag nur noch stärker werdende Überzeugung, das Zaubrische wäre tastbar, faßbar, handgreiflich nah um uns herum, sobald wir nur gewillt wären, es uns anzuzeigen, – und die unmögliche Wahrwerdung des Magischen im Leben, von der er dürstend träumte, wäre nicht etwa ein Gaukelwerk der Wünsche, sondern uns einfach deshalb verwehrt, weil die Menschen in ihrer Schwäche und Niedrigkeit sich ihr Eigentum nicht nähmen.

Nun, in der Gemeinschaft mit Starwick, erlebte er zum erstenmal dauernd das Dasein dieses Magischen, diese Wesens- und Weltverzauberung, dieses Wahrwerden eines immerguten, immerschönen Lebens, eines Lebens, immer geladen mit dem Wetterleuchten der Leidenschaft, der Dichtung und der Freude, immer erfüllt mit dem schwellenden und sieghaften Selbstvertrauen der Jugend, mit dem Jugendglauben an neue Lande, den Morgen und eine strahlende Stadt, mit der Jugendhoffnung auf Reisen, mit der Jugendüberzeugtheit von seliger Lust und unverderblicher Glücksal, die immer in der Schwebe hängt und jeden Augenblick beginnen kann.

Einen Augenblick betrachtete er das fremde, feine Gesicht des jungen Mannes an seiner Seite und wunderte sich über seine innige Beziehung zu diesem Leben, das nach Art und Anlage so verschieden von dem seinen war. Was war das Stiftende in dieser Bindung? War es Starwicks scharfer, eindringlicher Verstand, Starwicks ursprüngliche Art, die alten, verdrießlichen Probleme des Geistes neu anzupacken und mühelos das Licht in selten bemerkten Facetten spielen zu lassen? Mit welch heftiger Freude hieß er, Eugen, die langen Nachtspaziergänge willkommen, die sie gemeinsam durch die stillen Cambridger Straßen unternahmen oder am Ufer des Flusses entlang, der mondbeglänzt durch die süße und dunkle Flur zog! Welch andre Lust, welch andre Befriedigung des Verstands und der Sinne konnte je so vollkommen sein wie diese, die von solcher Geselligkeit kam, wenn sie beide umweltvergessen über alle Dinge unterm Himmel ihre heftigen Streitgespräche führten ... seine eigne Stimme leidenschaftlich, reißend wie ein Bergwasser, wild, gegen die Erde aufbegehrend, zum Mond aufschreiend, alle Götter der Dichtung und Magie anrufend, indes sein Verstand mit strähnigen Blitzen über das weite Feld des Erfahrenen und Gelesenen spielte ...?!

Und wie begierig er dann auf die Antworten der stillen, eintönig gedehnten Stimmen wartete, – wie zornig er gegen die Einwände des anderen anstürmte, wie hungrig und dankbar er dessen Zustimmung verschlang! Welche andere Stimme hatte Macht wie diese, seinen Stolz zu stacheln, seine Sinne zu erregen? Wie furchtbar verwundete es ihn, wenn sie ablehnte, wie herrlich erfüllt war er, wenn sie lobte!

In Nächten, in denen er mit Starwick diese heftig-leidenschaftlichen und dennoch so liebenden Gespräche geführt hatte, verbrachte er heimgekehrt ganze Stunden damit, alles Erlebte wieder und wieder zu erleben, die Erörterungen Punkt für Punkt durchzugehen, sich jede Gebärde, jeden Stimmton, alles was da sonderlich mit Leben und Erregung beladen gewesen war, zu vergegenwärtigen. Er schritt dann spät in der Nacht in seinem Zimmer auf und ab oder stand träumend am Fenster und führte noch immer das Streitgespräch mit dem Freund, erfand glänzende Bemerkungen, die er hätte machen können, und bedauerte, daß er sie nicht gemacht hatte, frohlockte über solche, die er tatsächlich gemacht, und über jedes zustimmende Wort und jedes beifällige Lachen, das er damit hervorgerufen hatte. Und da pflegte er sich zu sagen: »Ah, das war gut! Ich merkte, wie er das bewunderte, und was für einen hohen Platz ich in seiner Bewunderung einnehme. Wenn er etwas sagt, meint er's auch. Er nannte mich einen Dichter, seine Stimme war still und leidenschaftlich erregt, er sagte, meinesgleichen hätte es nie gegeben, und mein Geschick wäre groß und sicher.«

War dies also die Antwort?

Vor dieser Periode seines Lebens hatte er sehr wenig getrunken. Trotz der verzweifelten Angst seiner Mutter, alle ihre Kinder hätten vom Vater die »Whisky-Krankheit« geerbt, spürte Eugen keine brennende Lust nach Reiz- und Rauschmitteln. Wenn er allein war, trank er nie; er kaufte sich nie eine Flasche, und so einsam auch sein Leben geworden war, die Vorstellung des einsamen Trunks, oder gar des verstohlenen Nippens aus einer Hüftflasche im Kehricht-Gäßchen, entsetzte ihn stets.

Nun, in Starwicks Gesellschaft, trank er öfter als je zuvor. Alkohol hatte er bis zu seinem zwanzigsten Jahr nur selten und ganz gelegentlich genossen. Einmal, als er siebzehn war, hatte er, von der Staatsuniversität auf Weihnachtsferien zu Haus, sich dort schwer berauscht an verschiedenen, wahllos in einem Wasserglas gemischten Likören, die sein Bruder Lukas seinem Vater mitgebracht hatte. Und dann hatte er sich während seiner ersten Studentenjahre noch zwei- oder dreimal mit Kumpanen richtig besoffen. Das war alles. Aber nun, in Frank Starwicks Gesellschaft, ging er etwa einmal in der Woche in eine kleine Kneipe, die im italienischen Viertel im Ostteil der Stadt, jenseits des Scollay Square und der Washington Street, lag. Starwick hatte diese Kneipe selbst entdeckt; er umgab die Entdeckung mit sorgfältigster Verschwiegenheit und ließ nur ein paar zuverlässige Freunde in das Geheimnis ein, – ein paar von den Seltenen und Verständigen, die die »Alte-Welt-Luft« dieses »unbezahlbaren Platzes« nicht stören oder gar zerstören würden. Er meinte, es wäre jammerschade, wenn es sich je herumspräche ... »Wirklich, ganz wirklich, weißt Du«, sagte er, »die Sorte Leute, die dann dorthin ging, würde die Kneipe einfach ruinieren, und es ist schließlich doch durchaus erstaunlich, daß es so etwas hier in Boston gibt.«

Es war zu Beginn der Prohibitionsjahre, einer von Blut, von Verbrechen und vom Terror verfinsterten Zeit, die das Gewissen und die Seele der Nation verzerrte und vergiftete und auf den einzelnen, besonders aber auf die jungen Gemüter, einen verheerenden Einfluß ausübte. Gewiß, die häßlichen Folgeerscheinungen des staatlichen Alkoholverbots – die öffentliche Verkommenheit mit dem üblen Gestank fauler Vorrechte, die dreiste Anmaßung und das feiste Gefeix der Schieber und Begünstiger, das Hohnlachen des wüsten Gangstertums – dies alles war damals noch nicht so allgemein bemerkbar und offensichtlich zutage getreten wie in den Jahren, die dann folgten. »Etwas zu trinken zu kriegen« war damals keineswegs leicht. Die historische Laufbahn der Flüsterkneipe hatte zwar schon begonnen, aber ein solches »Speakeasy« war damals noch mehr oder weniger, was sein Name besagte, ein heimlicher Ausschank, dem man sich still und verstohlen nahte, in dem man leise sprach, sich mit ängstlichen und verdächtelnden Augen umsah, von dem man sich nach umständlich-vorsichtigen Vorbereitungen entfernte.

Starwicks mit köstlicher Geheimnistuerei umhegte Entdeckung war eine kleine italienische Wirtschaft im ersten Stock eines alten Backsteinhauses in einer dunklen Gasse. Sie hieß Posillipo; Frank sprach den Namen liebend beflissen mit einem englischen Th aus – »Po thillipo« – und obendrein mit der manierierten Stimme und dem affektierten Akzent, den er allen ausländischen und exotischen Namen, vornehmlich lateinisch-wohllautenden, verlieh.

Bei Posillipo angekommen, wurde Frank, der damals schon wie ein Lord auftrat und ein großer Trinkgeldgeber war, vom Wirt und den Kellnern aufs untertänigste begrüßt. Er bestellte dann in der verfeinertsten Wählerischkeit die Mahlzeit bei seinem Lieblingskellner, dem sanftmütigen und schwänzelnden Nino. Nun gab es zwar andre Kellner, die dem Nino in nichts nachstanden, aber Frank zog diesen den andern bei weitem vor, weil, so sagte er, Ninos Gesicht dem Antlitz eines Heiligen auf einem Giotto-Fresko gliche und weil, so behauptete er, der erlauchte Adel und der erlesene Ernst der alten Toskanerrasse in dieser Kellnergestalt zu finden wären.

»Hast Du vielleicht mal beobachtet, wie er seine Hände gebraucht?« fragte Frank in einem Ton höchsten leidenschaftlichen Ernstes. »Hast Du diese Gebärde soeben bemerkt? Es ist dieselbe Gebärde, die der Apostel Thomas in Lionardos Abendmahl macht. Wirklich, weißt Du! ... Ja!!« rief er in seiner hohen, fremden, ziemlich weibischen Stimme aus, »diese Jahrhunderte der Kunst, der Kultur, der Lebenserfahrung! Dieses wirkliche und furchtbare Lebenswissen, das diese Menschen alle haben! Weißt Du, das ist etwas, was Du nie bei Leuten hierzulande finden wirst. Das ist etwas, was keine Universitätsbildung und kein Bücherlesen in die Menschen hineinbringen kann. Und hier hast Du es ganz und gar ausgedrückt in der Handgebärde eines italienischen Kellners! ... Wirklich, weißt Du, so etwas ist durchaus erstaunlich.«

Der wirkliche Grund jedoch, weshalb Frank den Nino allen andern Kellnern in jener Gaststätte vorzog, war, daß er den Klang des Namens Nino liebte. Er sprach ihn wunderschön aus.

»Nino!« rief Frank in seiner hohen, fremden, ziemlich weibischen Stimme. »– Nino!«

»Si, signor«, atmete Nino ölig und stand da in einer Haltung tiefer Andacht, die Befehle des jungen Lords erwartend.

»Nino«, fragte Frank nun im Ton des gewiegten Kenners aller guten Dinge aus der Alten Welt. »Quel vin avez-vous? ... Quel vin – rouge – du très bon? Vous comprenez?« Hiermit nun hatte Frank zwar seinen französischen Wortschatz fast völlig erschöpft, aber er hatte auch auf wundervolle Weise den Eindruck erzielt, daß er das Französische und das Italienische meisterlich und vollkommen beherrsche.

»Mais si, signor«, bestätigte Nino gewandt und hatte so mit drei Meisterwörtchen schmeichlerisch versichert, daß er dem sprachgewandten Herrn sowohl auf französisch als auch auf italienisch zu dienen wisse. »Le Chianti est très, très bon! ... Parfait, monsieur!« Er hob einen ekstatischen Zeigefinger und flüsterte: »Admirable!«

»Bon«, sagte Frank, und da war denn nach ruhiger Erwägung die Entscheidung getroffen. »Alors, Nino«, fuhr er fort und hob seine Stimme, als er diese beiden Worte, die er so liebte, aussprach. »Alors, Nino, une bouteille du Chianti, n'est-ce pas?«

»Mais si, signor«, Nino nickte begeistert. »Si ... et pour manger?«

»Pour manger«, sagte Frank. »... Ecoute, Nino! Vous pouvez recommander quelque chose ... quelque chose d'extraordinaire?« Seine Stimme wurde leidenschaftlich. »Quelque chose de la maison?« schloß er triumphant.

»Mais, si!« rief Nino begeistert. »Si, signor ... Permettez-moi! ... Les Spaghetti ...«, flüsterte er verführerisch und rollte die dunklen Augen verzückt zum Himmel. Er rieb in wortloser Begeisterung Daumen und Zeigefinger aneinander, um die Güte dieser Speise zu bezeichnen, und erklärte dann: »Les spaghetti de la maison ... ah! signor«, atmete er, »les spaghetti avec la sauce de la maison sont finissimo ... finissimo!« flüsterte er.

»Bon«, nickte Starwick. »Alors, Nino, les spaghetti pour deux. Vous comprenez?«

»Mais si, signor. Si, parfaitement«, versicherte Nino und schrieb die hochfeine Bestellung auf seinen Notizblock. »Et puis, monsieur«, sagte er ködernd und in vollkommener Demut. »Permettez-moi de recommander le poulet. Le poulet rôti ...«, wiederholte er und tat so, als empfehle er die höchsten Genüsse der Kochkunst seit Epikurs Tagen. »Le poulet rôti de la maison ...« Er rollte die Augen aufwärts und rieb wieder Daumen und Zeigefinger anpreisend aneinander. »Ah! signor, – vouz n'aurez pas de regrets, si vous commandez le poulet.«

»Bon ... bon ...«, sagte Starwick ruhig und tief überzeugt. Er bestellte: »Alors, Nino, – deux – poulets rôtis, pour moi et pour monsieur ...«

»Bon, Bon«, Nino nickte heftig und schrieb begeistert auf. »Et pour le salade, messieurs?« Hoffnungsvoll fragend sah er seine hohen Gönner an.

Und so ging's denn weiter, bis die ganze Speisekarte auf französisch mit gelegentlichen italienischen Brocken durchgesprochen war. Wenn dann die große Zeremonie beendet war, hatte Starwick weiter nichts vollbracht, als das Table-d'hôte-Dinner zu einem Dollar bestellt, ganz so, wie es der Signor »Pothillipo« tagaus, tagein seinen Gästen bot, eine Mahlzeit, an deren Speisefolge – Suppe, Fisch, Brathuhn, Salat, Eiskrem, Käse, Nüsse und schwarzen Kaffee – kein Sterblicher etwas hätte ändern können, selbst wenn er sich sehr bemüht hätte. Trotzdem aber hatte Franks Art zu bestellen dieser durchaus alltäglichen und ziemlich belanglosen Mahlzeit etwas so Geheimnisvolles, Fremdes und Köstlich-Seltenes verliehen, daß man wie ein Gourmand zu speisen glaubte und ohne weiteres in der Vorstellung lebte, ein großer Küchenchef hätte seine ganze Kunst für einen aufgewandt.

Dieses Vermögen war einer der feinsten und anziehendsten Züge in Frank Starwicks Wesen. Es war bestimmt einer der Hauptgründe, weswegen Leute sich so zu ihm hingezogen fühlten, weswegen sie so gern mit ihm zusammenkamen und weshalb Frank über die uneingeschränkte Zuneigung, Ergebenheit und Unterstützung der Menschen in einem Grade verfügen konnte wie niemand sonst in Eugens Bekanntschaft. Denn –: nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Affektiertheit war Franks tiefes, inniges und leidenschaftliches Verlangen nach dem immerguten, immerschönen, immererregenden Leben ständig spürbar. Die ganze Künstelei und Geziertheit seines Auftretens entsprang dem Wunsch, die gemein-alltäglichen Dinge mit Fremdheit, Geheimnis, Seltenheit, Freude und Lust und Liebe zu tun. Und es gelang ihm wirklich in einem erstaunlichen Maße, die vertrautesten und bekanntesten Vorfälle und Erfahrungen des Daseins mit der romantisch-eigenen Färbung seiner Persönlichkeit zu belehnen.

War man mit ihm zusammen, dann wurde alles – »le Chianti de la maison«, eine Zigarette, eine Theateraufführung, ein Gedicht, ein Buch, ein Bummel über den Harvard Yard, ein Spaziergang an den Ufern des Charles River – seltsam, erlesen und denkwürdig, und aus diesem Grund gehörte Frank Starwick, trotz des Makels, der in seinem Charakter allmählich zum Vorschein kam und ihn schließlich zerstören sollte, zu der seltensten und höchsten Menschenart, die es gibt, und jemand, der ihn je gekannt hatte und sein Freund gewesen war, hätte ihn nie vergessen können.

Gerade das Gekünstelte und Gezierte an Franks Gebaren, das so viele veranlaßte, ihn als einen Poseur abzutun, entsprang – so scheinbar widersprüchig es klingt – dem Unschuldigen, Kindhaften und Guten in Franks Charakter, und in dieser Beziehung war Frank Starwick dem Tom Sawyer Mark Twains ähnlich, wenn dieser Tom Mordsgeschichten erzählt, oder wilde, verworrene und romantische Dinge erfindet, die völlig unnötig sind, oder große Worte gebraucht, um bei seinen Freunden, dem Nigger Jim oder dem Huckleberry Finn, Eindruck zu schinden.

Die beiden jungen Männer pflegten bis spät in die Nacht bei »Pothillipo« zu sitzen. Sie tranken diesen wunderbaren »Chianti de la maison«, der trotz seines köstlichen, liebendbeflissen ausgesprochenen Namens weiter nichts war als ein gepantschter, mit Sprit verschnittener roter Südwein, ein junges, rohes Getränk, das zwar eilig trunken machte, aber mit allerlei Kopfweh und Katerbetrübtheit für den nächsten Morgen geladen war. Nun jedoch erfüllte es die Trinker zunächst mit der milden, beschwingenden, selig-sieghaften Trunkenheit, die der Mensch nur in der Jugend kennt.

Bevor sie nach ein Uhr nachts diese Stätte latinischer Geheimnisse und latinischer Schlaffheit verließen, rief Frank in einer schrillen, betrunkenen Stimme: »Nino! Nino! Il faut quelque chose à boire avant de partir. – Nino! Nino! Ancora! Ancora!« Dieses letzte italienische Wort rief er wie ein Sieger aus.

»Mais si, signor«, antwortete dann Nino ein wenig ängstlich lächelnd. »Du vin?«

»Mais non, mais non, Nino«, erklärte Frank heftig. »Pas de vin. Du ouis-kie! Du ouiskie!«

Sie stürzten dann glasweise das rohe, schwere Gesöff hinunter, das in jener Ära den Namen Whisky führte, und wenn sie schließlich aufbrachen, drehte sich das ganze Lokal um sie in einem Wirbel von verschwommenen Lichtern und ein paar fahlen, ängstlich lächelnden Italienergesichtern. Sie taumelten die wackelige Treppe hinunter und schwankten hinaus in die engen, versträhnten Gassen, in die altersbraune Wabe der Schlafstille, in die bestürzenden, alten mondweißen Straßen Bostons.

Über ihnen, in der süßen Kühle des Nachthimmels, hingen die großen Frühlingsmonde Neu-Englands und leuchteten mit einem nackten, lieblichen und verzauberten Glanz. Und um sie drehte sich die große Stadt, und ihre tausend engen, schiefen Straßen lagen im grellen Mond, und vom Hafen kam der Laut der Schiffe und der verzehrende, frische, halbfaule Hafengeruch, der den Gedanken ans Meer, an Schiffe und ans kühne Glück des Seereisen mit sich bringt. Und aus den gepflasterten Straßen und den altersbraunen Häusern, ja, von der Brust und aus der Nacktheit dieses Frühlingsmonds und dieser lieblich-fliederfarbnen Himmel, ja, da kam irgendwie – gottweißwie – die ganze, süße Wildheit Neu-Englands im Maimonat, der Geruch der Erde, das jähe Grün, die herrliche Blust, ... alles, was wild, süß, fremd, schlicht, inständig vertraut war ... jene unmögliche Lieblichkeit, jener unwiderstehliche Zauber, jene unsägliche Hoffnung auf Magie, die sich nicht erklären läßt, die aber nur im Augenblick fast genommen, gegriffen und sich auf immerdar angeeignet werden konnte, ... für den Hunger, den Besitz, die Erfüllung und für gottweißwas, ... für dieses zauberisch grüne Land und seine weißen, lieblichen Häuser, und für das weiße Fleisch, das monddunkle Haar, die seichten Augen und die unaufhörliche Stille seiner heimlichen, dunklen und verschwenderischen Weiber.

Du dunkle Helena in unsern Herzen immerbrennend – o nie mehr!

Dann fädelten die beiden jungen Männer ihren Weg durch das Labyrinth der betrunknen, mondhellen Straßen, fühlten die lebendigrege Stille der großen Stadt überall um sich, sahen mit betrunknen Augen zum Mond hinauf, und erlebten einen nackten und betrunkenen Mond in den Himmeln, und die ganze Erde dazu, und die alte Stadt, die auch betrunken war von Freude und Schlaf und Frühling, und die verzauberte Stille mondbetrunkener Plätze. Und so kamen sie schließlich nach Cambridge, und sahen Licht und Schatten des Monds auf der schlafstillen Universität und dem Harvard Square liegen, und Fröhlichkeit und Freude schwollen in ihnen auf, und das riß wilde Rufe und Lieder und Lachen aus ihren Kehlen, und das schallte durch die schlafenden Cambridger Straßen und füllte die mondsüße Luft mit Jubel, denn sie waren betrunken und jung und zwanzig, – sie waren besessen von unsterblichem Vertrauen und von sieghafter Kraft – und sie wußten, sie könnten nie sterben.

Unsterbliche Trunkenheit! Welch einen Zoll können wir je bezahlen, welch einen Sang je singen, welch ein Lob je anstimmen, was genug wäre, die Freude, die Dankbarkeit und die Liebe auszusagen, die wir, die wir den Lebenshunger der Jugend in Amerika am Leibe spürten, dem Alkohol schuldig sind?

Wir sind so verloren, so allein, so verlassen in Amerika; unendliche und wilde Himmel wölben sich über uns, und wir haben keine Tür.

Du aber, unsterbliche Trunkenheit, kamst zu uns in unsrer Jugend, als unsre Herzen krank waren vor Hoffnungslosigkeit, als uns der Geist verrückt ward von unbekannten Schrecken, als wir gebeugten Hauptes gingen wegen einer namenlosen Scham ... Sieghaft kamst Du zu uns, um uns zu besitzen, um unsre Leben mit Deiner wilden Musik zu erfüllen, um den Bocksschrei in unsren Kehlen bersten zu lassen, um uns Kunde zu geben davon, daß hier in der Wildnis, im ungebändigten Land, daß hier unter den unendlichen, unmenschlichen Himmeln der Zeit, in all der Ödnis der Städte, in den grauen, unaufhörlichen Flutgezeiten des Menschenschwarms, daß hier unsre Jugend sich zur Glücksal, zum Ruhm und der Liebe emporschwingen, daß die Macht großer Dichtung uns den Geist wecken, und daß unser Werk sieghaft zur Erfüllung durchdringen würde, so daß unser Leben herrlich bestünde!

Und was besagt es dagegen, magische Trunkenheit, daß wir seit Deiner ersten Kunst kahlköpfig und schwergliedrig geworden sind, und daß unser Fleisch geschlagen und blutig geschunden auf der Qualbank lag?

Du kamst zu uns mit Musik, Dichtung und wilder Freude, als wir zwanzig waren, als wir heimtaumelten nachts durch die alten mondweißen Straßen Bostons und unser Freund, unser Kamerad, unser toter Gefährte in der Stille des mondweißen Platzes uns zurief: »Du bist ein Dichter, und die Welt gehört Dir.«

Und Siegesschwall, Freude und wildes Hoffen, selige Gewißheit und Zärtlichkeit wallten uns durch die Adern, als wir diesen trunknen Schrei hörten, und der Triumph und die Herrlichkeit und der stolze Glaube ruhten wie ein Chrysma auf uns, als wir diesen Schrei hörten, und wir blickten auf zu den mondtrunknen Himmeln Bostons, und wußten nur, wir wären jung und betrunken und zwanzig, und die Macht großer Dichtung wäre in uns, und die Herrlichkeit der Erde läge vor uns – denn wir wären jung und betrunken und zwanzig, und könnten nicht sterben!


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